Wahre Römer

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Wahre Römer
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Stephan Berry

Wahre Römer

Geheimagenten, Touristen und lustige Witwen –

die Römer, wie wir sie nicht aus der Schule kennen


Impressum:

144 Seiten mit 26 Abbildungen und 3 Karten

Titelbild:

Oben rechts:

Porträtkopf eines römischen Mannes, Dallas Museum of Art, Texas

Unten links: Kopf eines alten römischen Mannes, um 60 v. Chr., Glyptothek München

Kleine Bilder

Oben links: Männliches Porträt, Vatikanische Museen

Oben Mitte: Männliches Porträt, evtl. Gnaeus Domitius Corbulo, Musée du Louvre, Paris

Oben rechts: Kaiser Traian (Kopie im Archäologischen Park Xanten nach dem Original im Louvre)

Unten links: Weibliches Porträt, letztes Viertel des 2. Jhs. v. Chr., Musée du Louvre, Paris

Unten Mitte: Weibliches Porträt, spätes 1. Jh. n. Chr., Vatikanische Museen

Unten rechts: Büste des Polydeukion, ca. 165 n. Chr., Staatliche Museen Berlin, Antikensammlung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 Nünnerich-Asmus Verlag & Media, Mainz am Rhein

ISBN 978-3-945751-23-7

Gestaltung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza

Lektorat: Mascha Schnellbacher, Patrick Pütz

Gestaltung des Titelbildes: Sebastian Ristow

Bild-/​Fotonachweise Titelbild: Oben rechts: FA2010, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Unten links: Bibi Saint-Pol, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Kleine Bilder: Oben links: Marie-Lan Nguyen, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported, http://creativecommons.org/​licenses/​by/​3.0/​deed.en; Oben Mitte: Marie-Lan Nguyen, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Oben rechts: Thomas Ihle, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creative Commons Attribution 3.0 Unported, http://creativecommons.org/​licenses/​by/​3.0/​ deed.en; Unten links: Marie-Lan Nguyen, Wikimedia Commons, gemeinfrei; Unten Mitte: Marie-Lan Nguyen, Wikimedia Commons, lizensiert unter Creativ Commons-Lizenz „Namensnennung 2.5 generisch“, http://creativecommons.org/​licenses/​by/​2.5/​deed.de; Unten rechts: Ophelia2, Wikimedia Commons, gemeinfrei

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen oder unter Verwendung elektronischer Systeme zu verarbeiten und zu verbreiten.

Weitere Titel unseres Verlagsprogramms finden Sie unter: www.na-verlag.de

Austilat: Sie zeichnen seit Jahrzehnten Comics, da sind Sie so etwas wie ein Chronist der alternativen Szene geworden.

Seyfried: Und das sehe ich jetzt im Rückblick durchaus als Geschichtsschreibung. Austilat: Was werden künftige Historiker über unsere Zeit erfahren, wenn sie sich in 100 Jahren einen Band wie „Freakadellen und Bulletten“ ansehen?

Seyfried: Ich hoffe, sie werden dann noch andere Quellen zur Verfügung haben, sonst halten sie uns für einen Haufen kiffender Verrückter.

Der Comiczeichner Gerhard Seyfried im Interview mit Andreas Austilat, Der Tagesspiegel vom 15. Juni 2008.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Prolog: Wahre Römer

Karte I: Die Römische Welt

Frühe und Mittlere Republik (ca. 500–133 v. Chr.)

Attus Clausus: Ist hier noch ein Platz frei?

Fulvius Curvus: Spitzenkarriere in Feindesland

Andronicus: Von der Camena geküsst

Späte Republik (133–31 v. Chr.)

Sanibelser: An den Vätern erkennt man die Söhne

Eurysaces: Ganz schön dreist für einen Bäcker

Cornelius Balbus: Die Geschäfte des Herrn Iulius Caesar

Karte II: Mittelitalien

Karte III: Unterägypten und Fayyum

Frühe Kaiserzeit (31 v. Chr.–69 n. Chr.)

Velleius Paterculus: Mehr als nur ein Schmeichler

Antonia Tryphaena: Als römische Königin im Barbarenland

Menimane: Sie hat ihren eigenen Style

Iulius Vindex: Neros Nemesis

Hohe Kaiserzeit (69–193 n. Chr.)

Ummidia Quadratilla: Die peinlichste Großmutter der Welt

Sulpicia Lepidina: High Life im Hohen Norden

Babatha: Was haben die Römer je für uns getan?

Pausanias: Der lydische Baedeker

Severer- und Soldatenkaiserzeit (193–284 n. Chr.)

Aurelius Diphilianus: Vom Orontes an den Euphrat

Zenobia: Fürs eigene Kind nur das Allerbeste

Spätantike (4.–6. Jh. n. Chr.)

Flavius Abinnaeus: Nicht die erste Wahl

Egeria: Wie war doch gleich der Name?

Aspar: Barbarische Machtkämpfe

Artabanes: Der armenische 007

Epilog: Die Sache mit der Identität

Literatur

Quellen

Moderne Literatur

Bildnachweis

Prolog: Wahre Römer

„Wir befinden uns im Jahr 50 v. Chr. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt … Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten …“

Von diesem Lichtblick einmal abgesehen, sieht es aber ansonsten ziemlich finster aus: Nicht nur (fast) ganz Gallien ist von den Römern besetzt, sondern auch große Teile der antiken Welt darum herum. Das Mittelmeer ist längst zu einer Art römischem Binnenmeer geworden und heißt dementsprechend bei den Römern mare nostrum – „unser Meer“.

Offensichtlich haben es die Römer im Verlauf einiger Jahrhunderte geschafft, sich ausgehend von ihrer Heimatstadt über ein derart großes Gebiet auszubreiten. Aber wie war das möglich? Auf der Suche nach einer Antwort müssen wir einen Blick darauf werfen, wer diese Römer überhaupt waren.

Iulius Caesar z. B., der Eroberer Galliens, war unzweifelhaft ein wahrer Römer. Ebenso Cato der Jüngere – zwar eine Nervensäge, die schon den Zeitgenossen mit moralinsauren Phrasen von altrömischer Zucht und Tugend auf den Geist ging –, aber gerade deswegen ohne Frage ebenfalls ein wahrer Römer. Und erst Cicero: Seine Bewunderer halten ihn für einen der größten, wenn nicht den größten Römer aller Zeiten (eine Einschätzung, die Cicero ohne Weiteres geteilt hätte).

Selbst eine eher schräge Gestalt wie Nero ist gewisslich ein wahrer Römer. Die Nachwelt hat ihm so ziemlich alles abgesprochen: die Befähigung zum Regieren, die geistige Gesundheit, jegliches Moralempfinden sowieso, und sogar – was ihn am meisten getroffen hätte – das musikalische Talent. Nicht jedoch sein Römertum, im Gegenteil: Nero ist ja geradezu die Verkörperung all der Klischees von Dekadenz, Wahnsinn und Grausamkeit, die ein durch Hollywood geschultes Publikum heute mit dem Begriff Rom zu verbinden beliebt.

 

Wer aber waren die wahren Römer denn nun wirklich? Haben sich tatsächlich die Einwohner einer einzelnen Stadt, angetrieben von unersättlicher Gier und Kriegslust, über drei Kontinente ausgebreitet, um schließlich als dünne Oberschicht von Herrenmenschen über ein Millionenheer unterworfener Sklaven zu gebieten? So populär und auf den ersten Blick plausibel diese Kurzfassung der römischen Geschichte auch sein mag, hat sich das alles in Wirklichkeit ein wenig anders abgespielt.

Zugegeben, die Römer waren kriegerisch und expansionistisch, aber das war damals so ziemlich jedes Volk und jeder Staat: Gerade auch Menschen wie die Gallier, die man heute bevorzugt als Opfer der römischen Aggression wahrnimmt, oder ebenso die Athener, obwohl sie heutzutage vor allem als Dichter und Denker gelten – die Erfinder der Demokratie! –, während die imperialistische Außenpolitik Athens in Vergessenheit geraten ist, sie alle waren ebenfalls auf Zugewinn von Macht aus. Wir alle „wissen“, dass Athen in den Schlachten von Marathon und Salamis die „Freiheit Europas“ gegen den orientalischen Despotismus der Perser verteidigt hat. Dass zuvor die Athener gegen Persien den Krieg eröffnet hatten – nicht etwa umgekehrt –, weil der Gedanke an den riesigen Goldschatz der persischen Könige einfach zu verlockend war, ist nicht in die Mastererzählung des abendländischen Bewusstseins eingegangen.

Die Besonderheit Roms in dieser Welt von kriegslüsternen Staaten war seine grundsätzliche Offenheit gegenüber Fremden, und das führt uns geradewegs zurück zur Frage nach den wahren Römern: Rom hatte die Fähigkeit und die Bereitschaft, aus besiegten Gegnern zuerst Verbündete und am Ende Bürger des eigenen Staates zu machen. Ein wahrer Römer war im Prinzip jemand, der das römische Bürgerrecht hatte – Punkt. Zusätzlich konnte auch römische Bildung (humanitas) nicht schaden, aber eine spezielle „römische Rasse“, „römisches Blut“ oder eine „rein römische Abstammung“ spielten keine Rolle. Grieche war man entweder von Geburt an oder man war es nicht – Römer konnte man werden, indem man Bürgerrecht und humanitas erwarb. Dieses neuartige Konzept von Staatsbürgerschaft, das nicht mehr an ethnische Herkunft, Sprache oder Wohnort gebunden war, war eines der Geheimnisse des römischen Erfolgs. Das andere bestand darin, dass man ein Römer sein konnte, ohne es ausschließlich sein zu müssen.

In der Forschung herrschte zwar lange die Vorstellung, dass „Romanisierung“ die Ausbreitung einer mehr oder weniger einheitlichen Zivilisation bedeutete, die von den Provinzbewohnern passiv übernommen wurde – oder ihnen sogar einfach übergestülpt wurde. Das aktuelle Bild dieses kulturellen Diffusionsprozesses ist jedoch wesentlich facettenreicher, und spannender ist es obendrein. Die Völker des Imperiums hatten einen wesentlich aktiveren Part, als man früher dachte: Sie haben sich die römische Kultur selbst angeeignet, und dabei obendrein für ihre eigenen Bedürfnisse angepasst und weiterentwickelt. So gab es streng genommen in der römischen Kaiserzeit nicht die eine römische Kultur, sondern ein ganzes Bündel von verwandten provinzialrömischen Kulturen. Sie hatten erkennbar eine gemeinsame Wurzel, aber auch deutlich individuelle Züge, in denen vorrömische Traditionen in vielfältiger Weise fortlebten (Abb. 1).

Abb. 1: Gallo-römischer Umgangstempel (Rekonstruktion auf dem Martberg/​Eifel). Die Versatzstücke der Architektur wie Säulen und Ziegeldächer sind römisch. Solche Tempel entstanden im gallischen Raum erst unter römischem Einfluss. Die Anlage des Baus jedoch, eine zentrale Cella mit einem umlaufenden Gang für Prozessionen, ist eine gallische Neuschöpfung, die den Bedürfnissen der hergebrachten, vorrömischen Kultpraxis dient.

Damit taucht auch die Frage nach möglichen Analogien zu unserer eigenen Zeit auf, denn das multiethnische Imperium Romanum war mit Herausforderungen konfrontiert, um die auch aktuelle Debatten kreisen – siehe die Stichworte Integration, Multi-Kulti, Identität und Toleranz. Auf die Frage der Aktualität, der möglichen „Message“ für uns heute, werden wir am Schluss des Buches kurz zurückkommen.

Am Ende des römischen Integrationsprozesses steht dann beispielsweise jemand wie Pontius Pilatus: Im Verfahren gegen Jesus von Nazareth verkörpert er die römische Staatsmacht, aber er selbst hat samnitische Wurzeln. Und die Samniten waren jahrhundertelang Erzfeind und gefährlichster Gegner Roms auf der italischen Halbinsel – der Feldherr Gavius Pontius, der den Römern die berühmte Niederlage bei den Caudinischen Pässen im Jahr 321 v. Chr. bereitete (das besiegte Heer wurde „unter das Joch“ geschickt), gehört vielleicht zu den Ahnen des Pilatus.

Keltische Wurzeln hat hingegen höchstwahrscheinlich ein anderer bekannter Römer, der kaiserzeitliche Historiker Cornelius Tacitus. Und im Osten des Imperium Romanum war das antike Multi-Kulti noch ausgeprägter, denn als die Römer dorthin kamen, fanden sie bereits einen Mix aus griechischen und vorgriechischen Kulturen vor. Domitius Ulpianus, einer der wichtigsten römischen Juristen überhaupt, ist ein perfektes Beispiel für die wahren Römer, die aus diesem Schmelztiegel hervorgegangen sind: In der umfassenden Sammlung römischer Rechtstexte, die im 6. Jh. n. Chr. von Kaiser Justinian veranlasst wurde, nehmen Passagen von ihm eine zentrale Stellung ein. Zu Ulpianus’ Zeiten, drei Jahrhunderte zuvor, erhielt seine Heimatstadt Tyros überhaupt erst den begehrten Status einer römischen colonia. Die Stadt und ihre Einwohner betrachteten sich zu diesem Zeitpunkt als „griechisch“, aber ursprünglich war Tyros eine phönizische Gründung.

Diese wenigen Beispiele mögen genügen, um auf die folgenden Kurzporträts einzustimmen. Denn der kulturellen Vielfalt im Imperium Romanum werden wir uns nicht abstrakt nähern, durch theoretische und tief schürfende Überlegungen zum Wesen einer globalisierten und multikulturellen Gesellschaft, sondern durch einen Blick auf konkrete Menschen. Ausgewählt wurden gerade diese Frauen und Männer, weil sie uns einen ganzen Reigen verschiedener Lebenswelten in sozialer, kultureller, ethnischer und religiöser Hinsicht vor Augen führen. Dabei bilden die ersten Jahrhunderte der Kaiserzeit einen Schwerpunkt, denn in dieser Zeit war die Integration der Mittelmeerwelt und Westeuropas am stärksten ausgeprägt. Nie zuvor hatte es derart intensive wirtschaftliche und kulturelle Verknüpfungen in einem Raum vom Atlantik bis zum Schwarzen Meer, von Britannien bis Ägypten, gegeben, wie unter dem Schutzschirm der Pax Romana. Zivile und militärische Karrieren verpflanzten Menschen von einer Ecke des Imperiums in die andere, aber auch private Reisen sorgten dafür, dass man in der Welt herumkam: Sportliche und kulturelle Events zogen wie heute die Massen an, man besuchte Heiligtümer und Orakel. Vor allem die Genesung versprechenden Asklepios-Heiligtümer hatten einen ähnlichen Zulauf wie Lourdes heute, aber auch rein touristische Neugier war den Menschen nicht fremd – die Wunder Ägyptens waren damals schon ein Muss für kulturbeflissene Reisende. Die Reisefreude der wahren Römer wird auch an Beispielen aus diesem Buch deutlich werden.

Die meisten der hier Vorgestellten sind zudem Personen, die bei weltgeschichtlichen Ereignissen eher in der zweiten Reihe gestanden haben, oder sogar in der dritten und vierten. Die ganz Großen der Historie wie Caesar oder Cicero, deren Lebensumstände wahrlich schon mehr als einmal erzählt wurden, bleiben außen vor. Selbst für diese ganz Großen könnte man übrigens oft keine komplette Biografie im modernen Sinn schreiben, von Tacitus beispielsweise kennen wir das Geburtsdatum gar nicht und den Vornamen nicht sicher – wahrscheinlich Publius, aber auch Gaius kann nicht ausgeschlossen werden. Deshalb ist in diesem Buch mit gutem Grund nur von Kurzporträts die Rede, von Schlaglichtern, die auf die antiken Lebensverhältnisse fallen.

So wird die Annäherung an unsere wahren Römer eine archäologische und historische Spurensuche sein, bei der auch epigraphische und papyrologische Belege eine Rolle spielen: Texte und Textfragmente auf Stein, Bronze, Papyrus und dergleichen mehr. Es ist spannend, einmal dieses reichhaltige, aber meist verstreut dargebotene Material unter einer gemeinsamen Perspektive vorzustellen: Wer sich mit römischer Wirtschaft beschäftigt, stößt früher oder später auf Eurysaces; Liebhaber der Rechtsgeschichte kennen Babatha und ihr Archiv; und im Zusammenhang mit spätrömischer Militärgeschichte begegnet einem unweigerlich Abinnaeus, ebenfalls mit seinem Archiv (der übrigens vielleicht nicht glücklich wäre über das Bild, das er so der Nachwelt hinterließ). Es wird Zeit, diese drei und noch andere einmal gemeinsam auftreten zu lassen.


Karte I: Die Römische Welt

Frühe und Mittlere Republik (ca. 500 – 133 v. Chr.)

Attus Clausus: Ist hier noch ein Platz frei?

Die römischen Kaiser wurden schon in der Antike in „gute“ und „schlechte“ eingeteilt, und dieses starre Schema hält sich bis heute – was verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wie sehr sich die moralischen und politischen Maßstäbe seit damals geändert haben. Zu den wenigen Kaisern, die das Privileg einer differenzierteren Bewertung genießen, gehört Tiberius (14 – 37 n. Chr.): Nicht eindeutig gut oder schlecht, sondern eher schwierig, kompliziert, undurchschaubar oder, wie der Historiker Zvi Yavetz in seiner Tiberiusbiografie hervorhebt, traurig. Die Moderne hat für den komplexen Charakter dieses Kaisers eine einfache Erklärung: Sie liegt vermeintlich in seiner schwierigen Kindheit und Jugend in der kaiserlichen Patchwork-Familie, verbunden mit den daraus resultierenden frühkindlichen Traumata etc. Die Erklärung der Alten ist noch simpler: Er war eben ein typischer Claudier.

Der kaiserzeitliche Historiker Suetonius beginnt deshalb auch seine Tiberius-Biografie mit einer Parade verschiedener Claudii, welche den zwiespältigen Charakter der Familie belegen sollen:

„Viele Claudier erwarben sich hervorragende Verdienste um den Staat, viele vergingen sich aber auch gegen seine Interessen.“

(Sueton, Tiberius 2.1; Übers. A. Lambert).

Unter den berühmten Vorfahren des Tiberius findet sich z. B. Appius Claudius Caecus, der Erbauer der ersten großen Wasserleitung wie auch der Via Appia. Dazu gehört auch Claudius Caudex, der im Ersten Punischen Krieg die Karthager aus Sizilien vertrieb, und ebenso Claudius Nero, der im Zweiten Punischen Krieg Hannibals Bruder Hasdrubal besiegte. Aber Suetonius zählt auch Negativbeispiele auf, die den Hochmut der Claudier zeigen sollen:

„Claudius Drusus ließ sich eine mit dem Königsdiadem geschmückte Statue in Forum Appii errichten und wollte sich mithilfe seiner Klienten zum Herrn von Italien machen. Claudius Pulcher ließ in Sizilien, als bei der Vogelschau die Hühner nicht fressen wollten, diese ohne jede religiöse Scheu ins Meer werfen, gleichsam damit sie tränken, wenn sie nicht fressen wollten, und begann so die Seeschlacht; nach seiner Niederlage bekam er vom Senat den Auftrag, einen Diktator zu ernennen, und wie um sich über seinen Mißerfolg lustig zu machen, ernannte er seinen Amtsdiener Glykias.“ (Sueton, Tiberius 2.2).

Tatsächlich wird dieses patrizische Geschlecht, die gens Claudia, in den Quellen immer wieder als hochmütig und verbohrt beschrieben, zudem als eine Familie patrizischer Hardliner, in permanenter Opposition zur Masse des Volkes, den Plebejern. Der Baseler Althistoriker Jürgen von Ungern-Sternberg schlägt als Erklärung vor, „daß es vor allem erzählerische Absichten waren, die die Galerie claudischen Hochmuts geschaffen haben“ (VON UNGERN-STERNBERG 2006 : 297).

Sein Kollege Uwe Walter aus Köln hat eine andere Deutung parat: Er weist darauf hin, dass in der römischen Republik – wo jährlich gewählt wurde und praktisch immer Wahlkampf war – solche Familientraditionen wohl auch bewusst kultiviert wurden. Damit erschienen einzelne gentes als wiedererkennbare Marken, und das bot einen Vorteil für Bewerber im Wahlkampf, die sich selbst noch nicht ausgezeichnet hatten, aber durch das Vorbild der Vorfahren verlässlich und berechenbar erschienen.

 

Die gens Claudia jedenfalls gehörte rund 500 Jahre lang zu den tonangebenden Familien in Rom, und das spricht sicher für das politische Geschick dieses Clans. Die Claudier sind aber noch in anderer Hinsicht interessant, weshalb auch einer der ihren unsere Porträtgalerie eröffnet. Denn wir können den Ursprung dieses Patrizierclans in Zeit und Raum lokalisieren: Ein gewisser Attus (oder auch Attius) Clausus verließ im Jahre 504 v. Chr., wenige Jahre nach der Vertreibung des letzten römischen Königs, seine Heimatstadt Regillum im Sabinerland und siedelte mit einer großen Schar von Gefolgsleuten nach Rom über. Fortan nannte er sich in latinisierter Form Appius Claudius, und so wurde ein Sabiner zum Stammvater eines urrömischen Geschlechts.

Andere patrizische gentes mögen zwar noch weitaus älter und ehrwürdiger gewesen sein, aber im Gegensatz zu den Claudiern verliert sich ihre Frühgeschichte im Dunkel der Mythen. Die Iulier und die Servilier etwa führten ihre Ursprünge auf die legendenumwobene alte Königsstadt Alba Longa zurück, wobei Erstere für sich sogar eine Abstammung von der Göttin Venus in Anspruch nahmen.

Die Claudier sahen keinen Anlass für die Erfindung solcher Märchen aus ferner Zeit, sie widmeten sich gleich nach ihrer Ankunft in Rom der Gegenwart: Clausus-Claudius und seine Gefolgsleute erhielten Land zur Ansiedlung und das römische Bürgerrecht. Der folgerichtig nächste Schritt war der Aufstieg der Familie in den Senat und in Spitzenämter der Republik: Unser Appius Claudius wurde bereits 495 v. Chr. Konsul, sein älterer Sohn Appius Claudius Crassus Inregillensis Sabinus 471 v. Chr., und der jüngere Sohn Gaius Claudius Sabinus Inregillensis schließlich wurde 460 v. Chr. Konsul. Und es versteht sich, dass alle drei in der historischen Überlieferung als ausgesprochen hart, hochmütig und plebejer-feindlich erscheinen – echte Claudier eben. Der sabinische Neuankömmling trat beispielsweise mit Elan für die Beibehaltung des bestehenden Schuldrechts ein, das für Schuldner eine große Härte vorsah. Damit machte er sich sicher bei seinen Senatskollegen (und den Gläubigern) beliebt, nicht aber bei der Masse des Volkes.

Aus solchen Details lässt sich aber nichts konstruieren, was auch nur annähernd einer kompletten Biografie gleichkäme. Livius belichtet noch den Hintergrund von Clausus’ Umzug nach Rom: Zu der Zeit lag (wieder einmal) Krieg zwischen Römern und Sabinern in der Luft. Clausus soll zur Friedenspartei gehört haben, die sich gegen den anstehenden Krieg aussprach, damit aber keine Mehrheit unter den Sabinern gefunden haben und daher regelrecht nach Rom geflohen sein.

Nun ist Livius, der zur Zeit des Kaisers Augustus schrieb, unsere wichtigste Quelle für das frühe Rom. Allerdings nutzte er älteres Material, das eher fantasievoll als zuverlässig war. Die frühen Überlieferungen der annalistischen Tradition, auf die Livius und andere spätere Historiker zurückgreifen mussten, enthielten viele „Rekonstruktionen“ und freie Erfindungen. Auch die Einzelheiten, die oben über Clausus und seinen Clan ausgebreitet wurden, sind nicht über jeden Verdacht erhaben!

Spannend bleibt Attus Clausus dennoch, selbst wenn seine eigene Vita und die seiner Söhne legendenhafte Elemente enthalten. Denn er verrät uns Einiges über das politische und kulturelle Umfeld seiner Zeit, das Rom der frühen Republik.

Beginnen wir mit der Frage, was das überhaupt für eine Stadt war, in die er da seinen Lebensmittelpunkt verlegt hat. Das Standardbild sieht so aus: Rom war anfänglich ein erbärmliches Nest, ein Ort ohne jede Kultur oder Raffinesse, bevölkert von tumben, zurückgebliebenen Bauern. Wenn und insofern es überhaupt so etwas wie Urbanität bei den frühen Römern gab, dann verdanken sie das ausschließlich den Etruskern, die seit dem 7. Jh. v. Chr. in Rom als Könige herrschten. Sie brachten ihre eigene Kultur mit und waren zudem Vermittler griechischer Lebensart, denn die Etrusker – im stärksten Gegensatz zu den Römern – waren weltoffen und unterhielten weitgespannte Kontakte im Mittelmeer.

Die neuere Forschung zeichnet allerdings seit einigen Jahrzehnten ein ganz anderes Bild. Dazu haben verschiedene Ansätze beigetragen, die Analyse der schriftlichen Quellen und ihre Neubewertung ebenso wie neue archäologische Erkenntnisse. Gewiss, der allererste Anfang Roms mag eine wenig imposante Ansammlung windschiefer Hütten gewesen sein, wie bei so vielen Städten. Aber in dem Moment, als Rom als historische Größe wirklich greifbar wird, also spätestens im 7. Jh. v. Chr., sehen die Dinge völlig anders aus. Dieses frühe Rom der Königszeit ist schon eine der größten, wohlhabendsten und wichtigsten Städte ganz Italiens, weitaus größer als alle übrigen Städte der sprachlich nahestehenden Latiner, und auf Augenhöhe mit den Metropolen der Etrusker.

Wesentlich dazu beigetragen hat die günstige Lage der Stadt: Nur rund 20 km vom Meer entfernt, am Tiber gelegen und zwar an einer Stelle, wo der Fluss gut zu überqueren war, und zudem an die Via Salaria angebunden, jene wichtige Handelsroute, die landeinwärts über den Apennin und bis zur Adria auf der anderen Seite der italischen Halbinsel führte.

Der Tiber bildete die Grenze zwischen Latium und Etrurien, rein geografisch war der Stadt damit schon die Rolle einer Mittlerin der Kulturen vorgezeichnet. Verstärkt wurde dieser Zug jedoch durch das pulsierende Wirtschaftsleben der Stadt und ihre Einbindung in den Fernhandel. Das frühe Rom zeichnete sich durch seine Offenheit gegenüber fremden Einflüssen, auch den Fremden selbst, aus, und war nach modernen Begriffen eine regelrecht multikulturelle Stadt. Neben den Latinern, deren Sprache stets die Sprache Roms bleibt, gab es vor allem bedeutende sabinische und etruskische Anteile.

Die Überlieferung zur Königszeit ist derart fragmentarisch und von Mythen überwuchert, dass eine echte historische Erzählung unmöglich ist. Aber die hier geschilderten Elemente tauchen an vielen Stellen auf. Man denke an die Geschichte vom Raub der Sabinerinnen durch Romulus und seine latinischen Gefährten oder an die sieben Könige der römischen Tradition: Darunter sollen zwei Latiner (Romulus, Tullus Hostilius) gewesen sein, zwei Sabiner (Numa Pompilius, Ancus Marcius), zwei Etrusker (Tarquinius Priscus, Tarquinius Superbus) sowie einer, der mal als Sabiner, mal als Etrusker beschrieben wird (Servius Tullius).

Neben diesen drei Völkern wohnten in Rom wohl schon in der Königszeit auch Griechen und sogar Phönizier. Dafür gibt es zumindest Anzeichen, insbesondere Personennamen, die durch archäologische Funde bekannt wurden. Zu der Rolle als Handelsmetropole mit überregionaler Bedeutung würde das passen, und ein Grieche taucht auch in der Überlieferung zu den römischen Königen auf: Demaratus, ein Aristokrat aus Korinth, soll der Ahnherr der etruskischen Könige Roms gewesen sein, verheiratet mit einer Frau aus der etruskischen Stadt Tarquinii.

Der Versuch, die Mythen der Königszeit im Einzelnen zu entwirren und auf ihren historischen Gehalt abzuklopfen, könnte selbst schon ein ganzes Buch füllen. Wir halten uns lieber an das, was halbwegs gesichert erscheint, und das ist das generelle Setting einer offenen Stadt mit ethnisch gemischter Bevölkerung. In diesem Umfeld verwundert die Immigration und erfolgreiche Integration eines sabinischen Adligen nicht weiter, und Attus Clausus war auch kein Einzelfall: Die patrizischen Clans der Valerier und der Fabier kamen vermutlich ebenfalls aus dem Sabinerland. Und genau in dem Jahr, als Attus Clausus offene Aufnahme in Rom fand, war ein Valerier Konsul, nämlich Publius Valerius Poplicola (für Verschwörungstheoretiker: Das kann kein Zufall gewesen sein!). Für das 5. Jh. v. Chr. verzeichnen die römischen fasti, die Listen der Amtsinhaber, zudem viele Angehörige von Familien, die ursprünglich aus Etrurien stammten: die Aquillii, Herminii, Larcii und Volumnii.

Der letzte Punkt ist wichtig, weil er eine weitere verbreitete Interpretation der römischen Geschichte betrifft: Zu der Annahme, Rom sei überhaupt erst unter der Fuchtel etruskischer Könige zu einer echten Stadt geworden, gesellt sich oft die Hypothese, nach der Vertreibung des letzten dieser Könige habe es in Rom eine anti-etruskische Reaktion gegeben, eine ethnische Säuberung, bei der alle Etrusker vertrieben wurden. Auch das ist in Anbetracht der Quellen nicht haltbar; die eben erwähnte Rolle etruskischer gentes in der frühen Republik spricht z. B. dagegen.

In diesem Zusammenhang soll eine Hypothese des niederländischen Historikers A. W.J. Holleman erwähnt werden: Auch unser Attus Clausus soll eigentlich kein Sabiner, sondern ein Etrusker gewesen sein; die Form Appius sei schon die sabinisierte Variante des ursprünglich etruskischen Namens Attus. Das wäre prinzipiell denkbar, aber die damit verknüpfte Deutung scheint auf Sand gebaut. Denn Holleman glaubt, die anti-etruskische Säuberung habe die Claudier und andere Etrusker in Rom dazu gebracht, sich lieber eine sabinische Herkunft zu erdichten – doch dafür gab es wohl keinen Anlass.

Zum Schluss ist noch ein anderer Aspekt in der Episode um Attus Clausus’ Umzug wichtig: Livius spricht davon, dass er „mit einer großen Zahl seiner Klienten“ (Buch 2, Kap. 16) nach Rom übergesiedelt sei. Auch dieses Detail passt zu dem, was wir sonst über die Zeit um 500 v. Chr. wissen. Die Hauptakteure der Politik, und zwar überall im Mittelmeerraum, verstanden sich nicht so sehr als staatliche Akteure, sondern als Aristokraten, die zum eigenen Ruhm und zum eigenen Wohl handeln – wobei darin auch der eigene Clan und die Anhängerschaft eingeschlossen sind.

In diesen Kontext gehört auch die Legende vom Beinahe-Untergang der Fabier. Sie sollen mit ihren Gefolgsleuten im Jahr 479 v. Chr. einen Privatkrieg gegen die Stadt Veji geführt haben, eine Konkurrentin Roms in nur rund 15 km Entfernung. Dabei seien, so die Überlieferung, alle Fabier umgekommen – bis auf einen einzigen, der damit zum Vorfahren aller weiteren Fabii späterer Zeiten wurde. Die ganze Anekdote hat das Misstrauen der modernen Kommentatoren geweckt. Die dramatische Auslöschung aller bis auf einen lässt tatsächlich eher an Hollywood als an reale Geschichte denken. Und der heroische Privatkrieg der gens Fabia, ohne den Rückhalt des römischen Staates, wirkt wie eine Erfindung aus späterer Zeit, als die Fabier (oder ihre Anhänger) die annalistische Tradition ein wenig aufhübschen wollten.