Kitabı oku: «Belgische Finsternis», sayfa 2
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»Ich hatte dich doch gebeten, anzurufen, bevor du kommst.«
Ich freu mich auch, dich zu sehen.
Meine Freude darüber, dass ich die beiden noch erwischt hatte, war gleich wieder verflogen. Elises Stirn sah angestrengt aus. Kleine Schweißtropfen lagen auf der schön gebräunten Haut. Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre blonden Haare.
Ich bemerkte sofort, dass ihr Ehering fehlte.
»Es tut mir leid. Ich muss mit euch sprechen. Ist Liv da?« Ich hoffte es sehr. Wenn ich sie schon enttäuschte, wollte ich es ihr auch persönlich erklären.
»Hast du getrunken?«, fragte Elise, während sie angewidert ihr Gesicht verzog.
»Ein Kollege hat seinen Abschied gefeiert«, flunkerte ich und musste dabei unweigerlich an Tim denken. Dass ich bis ein Uhr morgens bei einem Dutzend Hoegaarden Dart gespielt hatte, behielt ich für mich. »Also, ist sie da?«, hakte ich nach.
»Ja, ist sie. Was ist denn so dringend, dass du um neun Uhr morgens Sturm klingelst?«
Mir war nicht bewusst, dass ich so lange geklingelt hatte. »Ich habe ein Angebot bekommen. Einen klassischen Kriminalfall. Die Chance, aus dem Drogendezernat rauszukommen, verstehst du?«, sagte ich.
Ich fixierte ihre blauen Augen und wartete auf eine Reaktion.
»Du kannst sie nicht schon wieder enttäuschen, Piet!«
Sie schlug einen Ton an, als stünde ein Schuljunge vor ihr, der zum x-ten Mal denselben Fehler machte.
»Es wird nicht so zeitintensiv. Und es ist auf dem Land, in Raaffburg. Liv könnte mich in den Ferien besuchen kommen«, erklärte ich bewusst euphorisch, um meinen neuen Arbeitsort in einem guten Licht erscheinen zu lassen.
»Raaffburg? Hab ich noch nie gehört. Was willst du da?«
Das fragte ich mich durchaus auch. Wie sollte man den Wechsel von der europäischen Hauptstadt in ein Provinznest im kleinen deutschsprachigen Teil Belgiens plausibel erklären? Inzwischen hatte ich über mein Handy herausgefunden, dass das an der deutschen Grenze gelegene Raaffburg auch nicht allzu weit von den Niederlanden entfernt war und somit im sogenannten Dreiländereck lag. Ob ich dort die große Internationalität antreffen würde, die ich von Brüssel gewohnt war, bezweifelte ich jedoch. Vielleicht aber taugte die Gegend als ein »Klein-Europa«.
Ich war gerade dabei, die zurechtgelegten Argumente vorzutragen, als ich Liv erblickte. In einem Sommerkleid mit lauter bunten Blumen kam sie die Treppe heruntergehüpft. Die Freude über mein Erscheinen war ihr anzusehen. Gleichzeitig erkannte ich, dass sie sich zwang, ihre Mundwinkel nicht zu sehr zu heben. Vermutlich ahnte sie schon, was kommen würde.
»Papaaa!«, rief sie voller Begeisterung.
Wie sehr ich sie vermisst hatte! Kaum vorstellbar, dass ich ihre Liebe mit einem Stiefpapa teilen sollte.
Noch ist es nicht so weit.
»Wow, bist du chic angezogen! Geht ihr auf eine Modenschau?«, fragte ich schmunzelnd.
Sie drängelte sich an ihrer Mutter vorbei nach draußen, nahm meine Hand und drehte eine Pirouette. Von ihren blonden Locken tropften vereinzelt Wassertropfen auf den Blaustein.
»Neiiin«, entgegnete sie gedehnt und verdrehte dabei die Augen. »Ich mache einen Ausflug mit Mama. Zum Tierpark. Da gehen wir ein Eis essen.« Sie verkündete es voller Stolz, als wollte sie, dass die ganze Welt es hörte.
»Wir sind aber schon zu spät«, ging Elise dazwischen. »Und du hast dir nach dem Baden nicht die Haare getrocknet, wie ich gesagt habe. Geh ins Bad zurück und föhn dir die Haare. Ich klär hier noch was mit Papa, und dann fahren wir.«
»Aber –«
»Kein Aber!« Sie warf Liv einen strengen Blick zu. Dabei zog sie Nase und Lippen zusammen, wie immer, wenn sie etwas halb ernst, halb freundlich zu verstehen geben wollte. Liv schmollte und verschwand wieder im Haus. Sie wusste, wann es keinen Zweck hatte, weiterzubetteln.
»Los, sag, was du zu sagen hast. Dann müssen wir los.«
Elise schaute mich an, diesmal ohne eine Miene zu verziehen. Für einen Moment glaubte ich, in ihren Augen eine Träne zu erkennen. Doch ich täuschte mich. Es tat weh, sie so zu sehen. Fordernd. Gefühllos. Kalt. Wie gern hätte ich sie in den Arm genommen und ihr gesagt, wie leid mir das alles tat und dass ich sie liebte. Dass ich sie und Liv zurückhaben wollte.
»Ich werde in Zukunft mehr Zeit haben«, sagte ich stattdessen nur.
Elise starrte auf den Boden. »Versprich nichts, was du nicht halten kannst, Piet!«
Ich streckte meine Hand nach ihrer aus. »Es wird ruhiger, das verspreche ich.«
»Lass dir mal was Neues einfallen!«
Sie ließ meine Hand ins Leere laufen und folgte Liv, die die Treppe hinauftippelte.
Nachdem Liv mir in ihrem Zimmer stolz die neuesten Puppen präsentiert hatte, erzählte ich ihr von meinem Vorhaben. Sie nickte verständnisvoll. Wie eine Erwachsene.
Du hast ihr die Leichtigkeit genommen!
»Und wann bist du wieder ganz da?«, fragte sie, ohne den Blick von ihrer Puppe zu lösen.
»Bald, mein Schatz«, sagte ich.
Merkst du nicht, wie ausweichend du antwortest?
Ich legte einen Arm um sie. Sie zeigte keine Reaktion. Ich blickte auf zu dem von fliegenden rosablauen Elfen besiedelten Rahmen eines Spiegels. Dort hing ein Foto von mir und Liv, aufgenommen vor zwei Jahren auf Korsika. Es war eine Aufnahme aus glücklicheren Tagen. Wir beide waren braun gebrannt und strahlten in die Kamera, die Elise bediente. Je länger ich das Bild betrachtete, desto deutlicher fiel mir auf, wie ich mich seitdem verändert hatte. Während der Mann auf dem Bild einen gepflegten Kurzhaarschnitt trug, glatt rasiert und durchtrainiert war, wirkte derjenige, den ich im Spiegel sah, irgendwie verlebt. Mein Bart war viel zu lang geworden. Meine Haare sahen spröde und wild aus. Und das zerknitterte graue Kurzarmhemd, das bei jeder anderen Farbe längst verblichen gewesen wäre, trug ich heute den dritten Tag in Folge.
Ich schaute definitiv zu selten in den Spiegel.
Der essenzielle Unterschied aber bestand in etwas anderem: Damals war ich glücklich gewesen. Es schien, als wären der Mann auf dem Foto und mein heutiges Ich zwei grundverschiedene Menschen. Das einzig Konstante war die vier Zentimeter lange Narbe, die meine Stirn verunstaltete.
Ich war gerade im Begriff, Liv den Kopf zu streicheln und ihr vorzuschlagen, mich in Raaffburg besuchen zu kommen, als mein Handy klingelte. Ich zückte es und sah auf das Display. Smets.
»Hallo, Ron«, meldete ich mich und sah Liv hinterher, wie sie mit hängenden Schultern aus dem Zimmer schlich.
»Piet, wie geht es dir?«, fragte er so förmlich, wie er es sonst nie tat.
»Ich sehne mich nach Landluft«, sagte ich und trat aus Livs Zimmer. Beim Telefonieren benötigte ich Platz zum Gehen, eine alte Angewohnheit.
»Du weißt es also schon.«
»Was weiß ich?«
»Dass du nach Raaffburg gehen sollst?« Er klang, als wäre ich derjenige, der etwas erklären müsste.
»Ja, weil du es möchtest.« Ich konnte meine Verärgerung nicht verbergen.
»Ich würde dich am liebsten hierbehalten, das weißt du.«
»Das habe ich anders verstanden.«
»Die Entscheidung wurde oben gefällt. Ich hatte keine Wahl«, sagte er und klang wie ein geprügelter Hund.
Ich hatte mir schon gedacht, dass Tims Schwiegervater, der Polizeidirektor, dahintersteckte. In dessen Augen trug ich die Schuld daran, dass seine Tochter sich mit dreißig Jahren bereits Witwe nennen musste und seine Enkelkinder ohne Vater aufwachsen würden.
»Tim ist trotz meiner Aufforderung zum Rückzug weitergelaufen«, wiederholte ich, was ich vor der Jury bereits hundertmal gesagt hatte. »Das könnt ihr doch nicht einfach ignorieren!«
»Ich weiß, Piet. Aber das interessiert da oben niemanden. Es ist jetzt so. Akzeptier es einfach.«
Ein toller Ratschlag. Das könnte zu deinem neuen Lebensmotto werden: einfach alles akzeptieren.
»In Raaffburg wartet ein toller Fall auf dich«, sagte Ron, der noch nie ein Talent dafür gehabt hatte, Menschen zu motivieren.
»Meinst du das im Ernst?«
Ron atmete laut und angestrengt in den Hörer, brachte aber keine überzeugende Erklärung zustande. Für ihn war alles gesagt, das hatte ich verstanden. Und wenn ich ehrlich zu mir selbst war, hatte ich mich bereits vor dem Gespräch mit Ron für Raaffburg entschieden. Einzig die Art, wie man mich behandelte, ging mir gegen den Strich.
»Da wäre noch eine Sache.«
Überrascht dich Ron doch noch und sagt, dass das alles nur ein blöder Witz ist?
»Dein Auto … es gehört der föderalen Polizei.«
»Mein Auto? Ich habe mir den Arsch aufgerissen im Kampf gegen diese Wüstenfüchse.« Ich war geschockt von der kalten Sachlichkeit, die mein Chef mir entgegenbrachte.
»Es tut mir leid, Piet.«
Du kannst mich mal!
»Du kannst den Wagen bei mir zu Hause abholen«, sagte ich und legte auf.
Mein Herzschlag beschleunigte sich, und ich begann wieder zu schwitzen. Dann realisierte ich, wo ich mich befand. Ich stand inmitten unseres Schlafzimmers. Also in Elises und meinem. Unserem ehemaligen. Ich war derart ins Gespräch versunken gewesen, dass die Gewohnheit mich hierhergetrieben hatte. Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen, während ich wieder aus dem Zimmer trat.
Doch dann stockte ich. Etwas war ungewöhnlich gewesen in dem Zimmer. Ich drückte die Tür wieder auf und ging zu meinem Nachttisch. Was ich sah, ließ mein Herz noch schneller pochen und meine Knie zittern. Die Schublade des Tischchens war geöffnet. Und darin lag eine rote Packung Kondome.
Was zum Teufel …?
Ich spürte, wie Adrenalin in meine Adern stieg.
Und mir erzählt sie, sie braucht eine Pause.
Mein Magen zog sich zusammen, gleichzeitig wurde mein Gesicht seltsam kalt. Ich wollte mich auf die Bettkante setzen, doch bevor ich Platz nahm, hörte ich plötzlich eine männliche Stimme. Sie kam von unten.
Ist er das? Elises Neuer?
Nein, das würde sie nicht tun, nicht, wenn ich zu Besuch war.
Wahrscheinlich weiß er gar nicht, dass du hier bist. Ja, sicher weiß er nicht mal, dass es dich überhaupt gibt.
Jetzt verstand ich auch, warum ich mich anmelden sollte, bevor ich Liv besuchen kam.
Unversehens hörte ich den Fremden meinen Namen sagen.
»Herr Donker?«
Ich dachte zunächst, ich hätte mich verhört. Doch dann rief der Kerl noch einmal.
»Herr Piet Donker, hallo?«
Der Idiot weiß, wie du heißt.
Ich schlich mich vom Schlafzimmer ins Treppenhaus, taumelte leicht. Vorsichtig schaute ich hinunter. Ein junger Mann, fast noch ein Junge, blickte mir schüchtern entgegen.
»Guten Morgen«, sagte er leise.
Die Blässe in seinem Gesicht stellte einen starken Kontrast zu den nach hinten gegelten schwarzen Haaren dar.
»Sind Sie Piet Donker?«, fragte der Schlaks mit nach vorne gebeugtem Kopf und leicht zusammengepressten Lippen.
»Ja, wer will das wissen?«, entgegnete ich angriffslustig.
Ich hatte bereits einen Schritt auf die Treppe gesetzt und die Fäuste geballt.
»Théo Bender. Ich bin Ihr neuer Kollege. Sind Sie bereit?«
3
Elises Zorn über meinen unangemeldeten Besuch spiegelte sich nach wie vor in ihrem Gesicht. Ich glaubte zu sehen, dass ihre Mundwinkel zuckten, aber sicher war ich mir nicht. Ich versuchte, sie nicht direkt anzuschauen. Sie hatte mir geschworen, dass es keinen anderen gab, und ich hatte ihr vertraut. Wenn sie es mir gestanden hätte, wäre der Schmerz der gleiche geblieben – aber ich hätte es akzeptiert. Weil sie ehrlich zu mir gewesen wäre.
Stattdessen hatte sie mich angelogen – und damit aufs Neue betrogen.
Sie kann dir gestohlen bleiben!
Liv winkte mir nach, als ich mich in den kleinen Polizeiwagen drückte. Doch als ich saß und wieder zu ihr blickte, rollte sie ihre kleinen Fäuste in die tränenden Augen. Als hätte ich gerade verkündet, dass ich mit dem Raumschiff zum Mond fliegen würde. Hinzu kam, dass der dreitürige Renault Clio, Baujahr 2001, nicht für meine Körpergröße geeignet war. Erst recht nicht die Rückbank.
Ich kam mir vor wie ein Sträfling.
Nach einigen Kilometern hatte ich mich an den Zigarettenmief im Inneren gewöhnt. Der Junge, der mich abgeholt hatte, fuhr. Karls hatte ihn losgeschickt, ohne meine Zusage abzuwarten. Da ich den Kommissar wegen der isländischen Vulkanwolke nicht mehr auf dem Handy hatte erreichen können, hatte er meine Zustimmung einfach vorausgesetzt. Mir war es recht. Nach dem Schock in Elises Schlafzimmer war Ablenkung die beste Medizin.
Die Hände des Jungen klebten am Lenkrad, sein Blick richtete sich fest auf die Straße. Die Nackenhaare waren nass.
»Wie wäre es, wenn wir die Klimaanlage einschalten?«, fragte ich.
»Geht nicht«, brummte der Beifahrer, der sich mir nicht vorgestellt hatte, als er vorhin aufgestanden war, um mich in den Wagen einsteigen zu lassen. Ich sah von hinten nur seine krausen roten Haare.
»Warum nicht?«, fragte ich.
»Ist kaputt«, seufzte der Rotschopf, während er Bender auf den Oberschenkel drückte. »Junge, das Gaspedal ist rechts«, sagte er und schaute dabei hinaus auf die vertrockneten Gemüsefelder.
Was für ein reizender Kerl.
Bender schluckte. Er schwitzte ziemlich. Sein Gesicht war frisch rasiert, die Wangen brannten allein beim Hinsehen.
Ich beugte mich nach vorne. »Was ist mit dem Schiebedach?«
Es herrschten gefühlte vierzig Grad in dem Auto. Die trockene Zigarettenluft ließ mich husten.
»Was soll damit sein?«, fragte der Beifahrer, der mein Husten ignorierte und sich mit dem Zigarettenanzünder einen weiteren Glimmstängel aktivierte.
Bender blinzelte kurz hinüber zu seinem Nachbarn. Dieser streckte ruhig seine flache Hand aus, als wollte er sagen: Alles bleibt, wie es ist. Erst jetzt sah ich die großen rotbraunen Muttermale auf seinem Arm.
»Schauen Sie mal hinter meinen Sitz. Dort müsste noch eine Flasche Wasser liegen«, sagte Bender in Richtung Windschutzscheibe, weiter beide Hände fest am Steuer.
Ich nahm zwei Schlucke von dem lauwarmen Wasser und bedankte mich bei dem Jungen. Die Sonne schien mir direkt in die Augen, und eine Rauchwolke hüllte mein Gesicht ein. Meine Lider klebten und kratzten wie kleine Klingen an meinen Augen.
»Was wissen Sie über den Fall?«, fragte ich.
»Ich darf nichts sagen. Anweisung von oben«, murrte der Rothaarige. Er kippte einen Zentimeter Asche in den überquellenden Aschenbecher. »Ich weiß nur, dass vier Mann für diesen Fall zu viele sind.«
»Wir sind zu viert?«, fragte ich mit derart hoher Stimme, dass ich mich vor mir selbst erschreckte.
»Ja, sagte ich doch gerade. Lechat, Bender, Sie und ich«, blaffte er und schielte dabei durch die Mitte zu mir nach hinten. Jetzt kannte ich den Namen des Vierten, aber seinen eigenen verschwieg der angenehme Zeitgenosse weiterhin.
»Und der Junge, der vermisst wird –«, begann ich meinen Satz, bevor ich unterbrochen wurde.
»Der Junge, der vermisst wird, ist längst über alle Berge. Er macht sich irgendwo in Afrika ein schönes Leben und hält uns alle zum Narren. Aber meine Meinung will ja keiner hören«, schnappte der Rotschopf. Dabei gestikulierte er so stark, dass sein Sitz wackelte.
»Warum Afrika?«
»Hören Sie, Herr Professor, alles Weitere erzählt Ihnen der Chefermittler Monsieur Lechat vor Ort. Ich darf nichts sagen. Anweisung von oben.«
Du wiederholst dich, Pumuckl.
Er drückte seine Zigarette aus und zog dann Schleim durch seinen Hals nach oben.
Ich blieb ruhig und lehnte mich wieder nach hinten, soweit das möglich war in dieser Konservenbüchse von einem Auto.
Man hörte ja hier und da, dass die Menschen vom Land aus einem besonders liebenswürdigen Holz geschnitzt seien. Ich befürchtete, es mit einem Ausnahmeexemplar zu tun zu haben. Ich blieb also stumm sitzen.
Die Ruhe gab mir Zeit zum Nachdenken. Ich begann mich zu fragen, was ich in diesem Wagen, der mich mitten in die Provinz beförderte, zu suchen hatte.
Du könntest jetzt bei Liv sein.
Ich grübelte, wie ich es anstellen sollte, mehr Zeit mit meiner Tochter zu verbringen. Ohne dass ich mich dabei selbst aufgab.
Zwischendurch flackerten immer wieder Bilder von Elise und einem Mann auf, dessen Gesicht sich jedes Mal änderte. Er zog sie aus …
Hör auf damit!
Ich zwang mich, nicht mehr daran zu denken, und hielt Ausschau nach einer Ablenkung.
»Wir sind gleich da«, murmelte der blasse Schlaks.
Ein Glück.
Mein Blick wanderte nach draußen, wo unzählige Kühe, umzäunt von blühenden Hecken, auf den grünen Wiesen grasten. Insgeheim freute ich mich auf die Ruhe auf dem Land. Mit den schmalen Gehwegen und dem romantischen Kirchturm wirkte das Städtchen beinahe wie ein Kurort. Dieses Gefühl strahlten auch die zahlreichen Fahrradgruppen aus, die den Bachläufen entlang durch die malerisch schönen Täler rollten und sich schließlich auf den Bänken im Grünen eine Pause gönnten. Sie genossen den Moment, und ich freute mich bereits, es ihnen gleichzutun.
Wir fuhren an einem Weiher vorbei, und ich bewunderte die Enten und Schwäne darauf. Das Gewässer weitete sich in eine Art Wassergraben, der eine große Burg umschloss. Es war die Burg, die der Kleinstadt ihren Namen gegeben hatte. Doch was einst repräsentativer Sitz limburgischer Landesfürsten gewesen war, präsentierte sich heute nur mehr als dachlose Ruine, die einsam und verlassen dahinbröckelte.
Inzwischen trocknete der Zigarettenqualm zunehmend meinen Mund aus. Mein Magen begann zu knurren, ich fühlte mich matt. Meinen Arm zu heben, um mich am Ohr zu kratzen, strengte mich bereits an. Ich war kurz davor, mich zu übergeben.
»Lassen Sie mich bitte da vorne raus«, sagte ich mit geschlossenen Augen.
»Hier?«, ertönte die hohe Stimme von Bender. »Sind Sie sicher? Zum Präsidium sind es noch drei Kilometer.«
Der junge Mann schaltete vom fünften in den zweiten Gang, sodass der Motor laut aufheulte.
»Ja, bitte. Ich habe heute noch keinen Sport gemacht, ich geh den Rest zu Fuß«, sagte ich, während ich gezwungen in den Rückspiegel lächelte, durch den mich Bender mit großen Augen ansah.
Keine zwei Sekunden später hielt Bender, ohne den Blinker zu setzen, ruckartig rechts neben der Schnellstraße. Ein aggressives Hupkonzert zog an uns vorbei.
»Herr Vanderhagen, Sie müssen aussteigen.«
Bender blinzelte schüchtern zu seinem Nebenmann hinüber.
Der Rotschopf hingegen schaute dem blassen Jungen überlegen in die Augen. »Muss ich das?«, fragte er und zwang Bender, den Blick abzuwenden. Dann stieg Vanderhagen, so musste er wohl heißen, doch noch aus.
Ich stolperte über den Gurt hinweg nach draußen und atmete den Staub ein, den Bender mit seiner Vollbremsung aufgewühlt hatte. Vanderhagen stieg gleich wieder ein. Ich schaffte es zu warten, bis der Clio außer Sichtweite war. Dann übergab ich mich hinter einem Werbeschild.
Zum Glück hast du nichts gefrühstückt.
Als ich fertig war, verharrte ich einige Minuten in der Hocke. Ich spürte Schweißtropfen meinen Rücken hinabrinnen und zitterte am ganzen Körper, meine Zähne klapperten. Dann blickte ich mich um.
Und las, was auf dem Schild stand.
»Willkommen in Raaffburg!«
4
»Du schreibst mir, wenn ihr da seid, ja?«, fragte Ella, während sie die Zentralverriegelung deaktivierte.
»Ja, Mama. Zum dritten Mal: Ich schreibe dir!«, versprach Pierre, wirkte jedoch genervt.
Sehnsüchtig blickte er durch die Fensterscheibe zu den wartenden Jungs. Wie ungeduldig er war. Und wie verletzend.
Mit seinen blauen Augen, die beinahe unnatürlich funkelten, schaute er sie an, als würde er sie um Erlaubnis bitten. Pierres schwarze Haare, die er vorne nach oben gestylt hatte, hoben seinen schönen Teint hervor.
»Wenn irgendwas ist, melde dich. Und wenn es noch so dämlich sein mag«, sagte Ella und hielt dabei Pierres linke Hand fest.
»Wir werden schon Spaß haben«, versuchte er, sie zu beruhigen, während er auf das Handschuhfach starrte. Dann zog er seine Hand weg. »Ich geh jetzt, Mama.«
Als das blecherne Knallen der Tür ertönte, spürte Ella wieder diesen Würgegriff um den Hals. Ein Knoten, der sich nach oben drückte und immer weiter anschwoll. Er zog ihr gesamtes Gesicht nach unten. Sie mochte es nicht, wenn Pierre nicht bei ihr war. Sie fürchtete, dass ihm das Gleiche zustoßen könnte wie ihrem Bruder Gregory.
Damals.
Es ist nur ein Pfadfinderausflug. Dein Junge wird Spaß haben und in zehn Stunden wieder bei dir sein!
Sie sah ihm nach. Wie er mit seinen Freunden einschlug, als wären sie Mitglieder einer Gang in der Bronx. Wie cool er die aufgeregten Mädchen mit einem Kuss auf die Wange begrüßte und diese sich mit ihren roten Bäckchen beschämt beäugten. Wie mutig er war. Ganz anders als sie.
Charakterlich glich er viel mehr seiner Großmutter. Mama. Die starke Frau, die stets voranging, andere ermutigte und jeden Widerstand kleinzumachen wusste. Schade, dass die beiden sich nie kennengelernt hatten.
Beim Blick auf die Uhr fiel ihr auf, dass sie spät dran war.
Um zehn hatte Frau Irrlander, ihre Chefin, ein Meeting mit einem Großkunden anberaumt. Vorher musste sie noch Kopien machen. Und den Kaffee musste sie auch noch aufsetzen.
Erst kürzlich hatte sie ein Gespräch mit Frau Irrlander geführt. Die Chefin hatte zu verstehen gegeben, dass Ella sich mehr auf ihren Job konzentrieren müsse – ansonsten würden Konsequenzen drohen. Was auch immer damit gemeint war, sie hatte nicht vor, es herauszufinden. Drei Jobwechsel in zwei Jahren reichten. Da brauchte es keinen vierten.
Also drückte sie aufs Gas, nahm dem Lkw in der Spitalstraße die Vorfahrt und bretterte mit achtzig durch die Fünfzigerzone.
Was machst du nur? Am Ende gehst du drauf für die Arbeit, die du mehr hasst als dein Leben.
Es war neun Uhr siebenundfünfzig, als Ella mit ihrem Fiat Punto den Parkplatz der Heine Fahrstuhl AG anfuhr. Sie war zu spät. Aber nur ein paar Minuten. Wenn der Kunde auch ein wenig Verspätung hatte, würde es gar nicht auffallen. Sie wollte gerade aussteigen, als ihr Handy klingelte.
Mist, die Chefin!
Aber die Nummer auf dem Display war ihr nicht bekannt. Trotzdem hob sie ab.
»Frau Weeber?«, meldete sich ein Mann mit ruhiger, tiefer Stimme.
»Ja. Und wer sind Sie?«, fragte Ella, während sie mit zwei Fingern auf dem Lenkrad trommelte.
»Lechat, Polizei –«
»Ist was mit meinem Sohn?«, unterbrach Ella den Mann, dessen Namen sie schon einmal gehört zu haben glaubte.
»Ihr Sohn?«, fragte Lechat und schwieg einige Sekunden. Schließlich antwortete er mit einem knappen »Nein«.
Erleichtert atmete Ella aus.
»Es geht um die Geschehnisse von damals. Genauer gesagt um Felix Riegen.«
Ella dachte, dass Lechat wieder nur eine Pause beim Sprechen machte, doch es schien zunächst alles gewesen zu sein, was er sagen wollte.
»Ich verstehe nicht ganz. Was wollen Sie von mir?«
Mittlerweile war es neun Uhr neunundfünfzig. Sie kam definitiv zu spät ins Meeting.
Nicht schon wieder!
»Es gibt eine neue Spur in dem Fall. Ihr Bruder hat wahrscheinlich etwas damit zu tun. Hätten Sie Zeit, nach Raaffburg zu kommen?«
Für einen kurzen Moment herrschte komplette Stille. Ella sah, wie die digitale Uhr auf 10:01 umsprang. Sie war den Tränen nah. Dieses Telefonat konnte sie ihren Job kosten.
»Ehrlich gesagt, Herr Lechat, habe ich wenig Zeit, und ich weiß auch nicht, wie ich Ihnen helfen kann«, antwortete sie ruhig und bedacht, was sie selbst überraschte.
»Frau Weeber«, sagte der Polizist, bevor er sich kurz räusperte. »Sie sind die einzige Überlebende der Familie. Und wir rechnen fest mit Ihrem Erscheinen.«
Es stimmte nicht ganz, was der Polizist sagte. Denn ihr Vater war zwar weit weg, in Las Vegas, und sie hatten keinen Kontakt mehr seit achtzehn Jahren, aber er lebte noch. Doch Ella ging etwas ganz anderes durch den Kopf. Wenn sie tatsächlich nach Raaffburg fahren musste, musste sie dann nicht dem Menschen Bescheid geben, den sie liebte? Wenn sie allerdings abends schon wieder zu Hause sein würde, könnte sie es vielleicht riskieren, ohne Benachrichtigung zu fahren.
»Es geht nur um ein paar Fragen, die Sie beantworten müssten. Aber Sie sollten sich dennoch für ein paar Tage hier einrichten, im Laufe der Ermittlungen könnten sich noch mehr Fragen ergeben. Lassen Sie sich beurlauben, wir geben Ihnen eine Bestätigung für Ihren Arbeitgeber«, ergänzte der Polizist.
Ein paar Tage? Und was machst du mit Pierre?
»Ich muss erst schauen, wo ich meinen Sohn unterbekomme. Ich melde mich später wieder bei Ihnen. Okay?«
»In Ordnung«, sagte der Polizist mit wenig Begeisterung.
Als das Gespräch beendet war, ließ Ella ihre Stirn auf das Lenkrad fallen. Sollte sie wirklich nach Raaffburg fahren? In die Kleinstadt, in der ihre Mutter und ihr Bruder ermordet worden waren? Dorthin, wo ihre Liebe lebte. Der Mensch, der ihr das Leben so verschönerte.
Und so verkomplizierte.
Was wäre, wenn sie nicht ginge? Würden die Kommissare dann nicht Verdacht schöpfen? Oder die anderen Bewohner der Stadt?
Oh nein, von uns soll niemand erfahren.
Am besten, sie verhielte sich komplett normal. So, als hätte sie nichts zu verbergen.
Was mochten die Kommissare gefunden haben?
Gregorys Hände? Seine Füße? Seinen Kopf? Den von Mama auch? Ihr wurde schlecht bei dem Gedanken.
Jedenfalls musste der Hinweis wichtig sein, wenn sie dafür extra nach Raaffburg kommen sollte.
Wohin könnte sie ihren Sohn währenddessen bringen?
Vielleicht zu Brit?
Sie gehörte zu den wenigen Leuten, denen Ella vertraute. Sie war diejenige, die Ella Mut zusprach, wenn sich wieder mal alles gegen sie richtete.
Nach einem kurzen Telefonat sagte Brit zu. Pierre würde dort die Nacht verbringen.
Das wäre geschafft.
Ella schnaufte laut durch die Nase und öffnete das Handschuhfach. Sie richtete ihren Blick auf eine Mentos-Dose. Dann wählte sie die Nummer ihrer Chefin. Natürlich war diese noch im Meeting. Ella sprach ihr auf die Mailbox, dass sie krank sei und heute sowie morgen nicht zur Arbeit kommen könne. Danach griff sie nach der Mentos-Dose und schluckte drei der kleinen weißen Pillen, die sie darin versteckte.
Als die Uhr auf 10:16 sprang, legte Ella den Gang ein und fuhr los.