Kitabı oku: «Belgische Finsternis», sayfa 3
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Als ich wieder stehen konnte, blinzelte ich die Straße hinunter. Von der Sonne geblendet, erkannte ich nur schemenhaft in der Ferne die ersten Häuser der kleinen Stadt. Die Luft war fürchterlich heiß und drückend, aber in jedem Fall besser als der rauchige Dunst in der mickrigen Polizeikutsche. Ich folgte dem Trampelpfad, der entlang der stark befahrenen Straße verlief. Hupend zog ein Truck nach dem anderen an mir vorbei. Fußgänger waren hier offenbar unerwünscht. Meine Beine fühlten sich schwer an, und der Weg schien kein Ende zu nehmen. Nach etwa einem Kilometer erreichte ich schließlich ein einsames Bruchsteinhaus, das offenbar ein kleines Restaurant beherbergte. Neben der Eingangstür hing eine eingerahmte Speisekarte.
Endlich was trinken.
Und hoffentlich auch eine Gelegenheit, mich frisch zu machen. Angesichts der nassen Achselstellen an meinem Hemd war das dringend nötig.
Das kleine Restaurant schien beliebt zu sein, der Parkplatz war voll besetzt. Eine Frau in einem violett-weiß gestreiften Kleid ließ sich davon nicht stören. Mit ihrer Honda parkte sie direkt vor dem Eingang. Schwungvoll zog sie ihren Helm ab und warf ihre braunen Locken derart gekonnt zur Seite, als habe sie die Szene hundertfach vor dem Spiegel einstudiert. Dann hopste sie mit ihren schlanken Beinen wie ein Teenie die Holztreppe zu dem Restaurant hinauf, wo ein kräftiger, etwa einen Meter fünfundachtzig großer Mann in Hemd und Krawatte die Tür aufhielt. Sie bedankte sich mit einem breiten und strahlenden Lächeln. Der gut aussehende schwarzhaarige Mann, dessen Unterarme stark behaart waren, brachte jedoch nur ein knappes »Gern geschehen« hervor.
Ich folgte den beiden und nahm zur Kenntnis, dass sich die Toiletten vornean in der überschaubaren Eingangshalle befanden. Ich musste mich also nicht erst quer durch das Restaurant drängeln, um etwas gegen den Geruch zu tun, der von mir ausging. Schnell spülte ich mir am Waschbecken den Mund mit kaltem Wasser aus. Anschließend wusch ich Gesicht und Arme. Danach fühlte ich mich erfrischt und bekam langsam Appetit. Ich hatte ja heute noch nichts gegessen.
Beim Betreten des Restaurants entdeckte ich eine Menschenschlange, die sich vor der Theke gebildet hatte. Dort konnte man das Essen bestellen und mitnehmen, um es dann an einem der Tische im dahinterliegenden Raum zu verzehren. Ich stellte mich an und betrachtete mit Bewunderung den aufwendig restaurierten Innenraum des alten Gebäudes, das vermutlich einst als Bauernhof genutzt worden war. Die Wände bestanden aus blauem Bruchstein, hier und da waren alte Holzstützen verbaut, die das Obergeschoss und die Decken trugen. Das Tageslicht, das in das Bistro fiel, wurde ergänzt durch eine behagliche Beleuchtung. Außerdem war es angenehm kühl.
Die Karte, die ich auf der aufgehängten Tafel erkennen konnte, bot eine kleine Auswahl an warmen Speisen, darunter auch landestypische wie Steak mit Pfeffersoße und Chicorée, Vol-au-Vent oder Miesmuscheln. Das Ganze natürlich mit Fritten als Beilage. Obschon die rausgehenden Teller verlockend aussahen, wollte ich lieber auf mein angeschlagenes Immunsystem hören und etwas Vitaminreiches essen.
Ich hatte gerade die Salate auf der Karte entdeckt, als ich hinter mir eine weibliche, leicht kratzige Stimme vernahm.
»Habe ich etwas verbrochen, oder was zieht Sie von Brüssel hierher?«
Ich drehte mich um und erkannte die attraktive Brünette von eben wieder. Unverhohlen hielt sie meinen Polizeiausweis in den Händen.
Wie ist sie daran gekommen?
»Unschuldig sehen Sie jedenfalls nicht aus. Aber danke für den Ausweis«, konterte ich. Ich ging bewusst nicht auf ihre Frage ein und nahm die plastifizierte Karte entgegen.
»Bitte sehr, Herr Kommissar. Er lag vor den Toiletten. Sie müssen ihn dort verloren haben.«
Ich musterte sie scharf.
»Was gibt es denn für spannende Fälle auf dem Land?«, ließ die etwa dreißigjährige Frau nicht locker.
»Nur ein überregionaler Austausch unter Kollegen«, blockte ich ab, während mir beim Blick durchs Fenster ein Plakat auffiel.
Es war an einem Laternenmast befestigt und mit einer Aufschrift versehen: »Felix Riegen. Vermisst!!! So könnte er heute aussehen.« Darunter war ein eher schlecht als recht simuliertes Gesicht abgebildet, das auf Tausende Menschen zutreffen konnte und keinerlei Wiedererkennungswert aufwies. Ich musste an die Worte von Vanderhagen denken: »Er macht sich ein schönes Leben in Afrika und hält uns alle zum Narren.«
Wie kam er dazu, so etwas zu behaupten?
»Sie sind dran, Commissario!« Die Brünette stupste mich grinsend an.
Ich grinste höflich zurück. Dann wendete ich mein Gesicht der zierlichen Bedienung zu, die mich freundlich ansah.
»Welchen Salat können Sie mir empfehlen?«, fragte ich, in der Hoffnung, die Sache abzukürzen.
»Der Thunfischsalat ist gut, Monsieur. Der griechische auch, aber er ist etwas würziger«, entgegnete sie rasch. Sie war den Andrang um die Mittagszeit gewohnt, das sah man ihr an.
Ein Salat. Wird er dich satt machen?
Mein Blick glitt hinunter zu den belegten Baguettes.
Das ist schon eher was für dich.
»Ich würde gern ein Baguette mit Ardenner Schinken nehmen«, sagte ich schließlich.
»Natürlich. Das muss ich aber erst noch zubereiten«, sagte sie nickend und vergewisserte sich schnell: »Also kein Salat?«
Ich schüttelte den Kopf, während die Bedienung sich bereits auf den Weg in die Küche gemacht hatte. Gleichzeitig spürte ich die zunehmende Ungeduld in der immer länger werdenden Schlange hinter mir.
»Warum dauert das denn so lange?«
Die hart klingende Stimme gehörte einem blonden, langhaarigen Hünen, der ein paar Plätze hinter mir stand. Er blies mit geblähten Backen und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Übrigens, ich bin Sina.« Die Brünette hinter mir streckte ihre schmale Hand aus.
»Schöner Name. Ich bin Piet.«
Ihr Händedruck war ungewöhnlich fest für eine Frau.
»Wenn du aus Brüssel kommst, muss der Austausch aber wichtig sein«, hakte Sina abermals nach.
Ich ließ sie auflaufen. »Bei der Polizei suchen sie noch Personal. Du hättest sicher gute Chancen.«
Ich erinnerte mich an die Worte von Karls am Telefon: »Es ist vor allem wichtig, die Presse vor Ort ruhig zu halten.« Ich nahm seine Anweisung ernst. Auch wenn mein Gegenüber harmlos erschien, wusste ich, wie schnell sich Neuigkeiten in einer Kleinstadt herumsprachen.
Sie lachte gezwungen.
Na los, wechsle das Thema!
»Was machst du eigentlich?«, fragte ich.
»Ich bin freischaffende Künstlerin«, antwortete sie prompt und verlagerte dabei ihr Körpergewicht von einem Bein auf das andere. Dabei hüpften ihre braunen Locken über ihre Schultern.
»Tatsächlich? Ich wollte schon immer mal eine freischaffende Künstlerin kennenlernen. Was schaffst du denn?«
»Ich mache hauptsächlich Fotos«, sagte sie lächelnd und kniff ihre Augen zusammen, als fokussiere sie durch ein Objektiv.
»Welche Art von –«
»Dein Baguette ist fertig.«
Sie nickte zur Bedienung hinüber, die mir das Baguette entgegenhielt. Während ich im Portemonnaie nach den passenden Münzen suchte, vernahm ich ein genervtes Stöhnen aus der Reihe hinter mir. Wahrscheinlich wieder der blonde Hüne. Ich ignorierte es und bezahlte, ehe ich wieder zu Sina schaute.
»Wir sehen uns sicher später noch«, sagte sie grinsend und zeigte dabei ihre makellosen Zähne.
Ich war überrascht, dass sie das Gespräch so plötzlich abbrach. Andererseits war ich froh, keine heiklen Fragen mehr beantworten zu müssen.
Während sie auf ihre Bestellung wartete, machte ich mich auf die Suche nach einem freien Tisch.
Der Innenraum war größer, als ich zunächst angenommen hatte, dennoch schien es auf den ersten Blick so, als seien die Tische alle besetzt. Lediglich einzelne Plätze waren noch übrig. Doch die Blicke der Leute strahlten nicht gerade ein Willkommen aus.
»Entschuldigen Sie, ist dieser Platz noch frei?«, fragte ich schließlich einen Mann in einem hellblauen Pullover, der allein an einem Vierertisch saß und einen vollen Teller vor sich hatte.
»Nein, ist er nicht«, knurrte der Mann, den ich auf fünfundvierzig Jahre schätzte. Er musterte mich eindringlich, bis ich mich von ihm abwandte.
Es war sein Recht, Nein zu sagen. Ich hatte eine Frage gestellt, und er hatte ehrlich geantwortet.
Was soll’s?
Beim Blick über die verbleibenden Tische fiel mir ganz hinten in der Ecke ein Mann auf. Er winkte in meine Richtung. Ich schaute über meine Schulter, da ich mir sicher war, nicht gemeint sein zu können. Doch hinter mir stand niemand.
Ich blickte nur in ein Dutzend Augenpaare, die mich fragend musterten. Vermutlich wunderten sich die Leute, warum ich immer noch nicht Platz genommen hatte. Ich schaute wieder zu dem etwa sechzigjährigen Mann, der hinten am Tisch saß. Er winkte erneut und machte jetzt ein eindeutiges Zeichen, dass ich zu ihm kommen sollte. Als ich seinen Tisch erreichte, stand er auf und streckte mir seine Hand entgegen. Sofort fielen mir die gelb verfärbten Finger auf, die zweifellos die eine oder andere Zigarette gehalten hatten.
»Hallo! Lechat, mein Name. Sie müssen Piet Donker sein«, sagte er.
Bist du so leicht zu erkennen?
»Das ist richtig. Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Wir schüttelten uns die Hand. Ich fragte mich zwar, woher er wusste, wer ich war, sprach ihn aber erst mal nicht darauf an.
In dem viel zu großen beigen Hemd und mit dem Schnauzer, der länger nicht gestutzt worden war, wirkte Lechat etwas vernachlässigt.
Gleiches könnte er auch von dir denken.
»Ich leite die Ermittlungen«, sagte er. »Zusammen mit Ihnen«, fügte er nach kurzer Pause hinzu. »Um halb drei treffen wir uns mit den anderen im Präsidium. Ich kann Sie mitnehmen, wenn Sie mögen.«
»Gern«, willigte ich ein und jubelte innerlich. Endlich stand jemand vor mir, der Ahnung hatte. Und noch dazu Manieren. Im Gegensatz zu den beiden Taxifahrern von heute Morgen hatte er schon mal etwas von Sozialkompetenz gehört. Wir setzten uns.
»Wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf, Herr Donker«, begann Lechat und nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse. »Halten Sie sich in den nächsten Tagen von der Presse fern.«
»Keine Sorge, ich bin nicht der Typ, der das Rampenlicht sucht«, beruhigte ich ihn.
»Das habe ich gesehen. Ich habe einen Teil Ihres Gesprächs mitbekommen.«
Er schaute demonstrativ in den Gang, wo die Künstlerin von eben ein braun glänzendes Bein vor das andere setzte.
Dabei hat er also aufgeschnappt, wer du bist.
»Vor Sina Kasper sollten Sie sich in Acht nehmen! An der haben sich schon einige Männer die Finger verbrannt. Und eine aufdringliche Journalistin ist sie obendrein.« Lechat stellte die leere Tasse zu den anderen beiden, die auf dem Tisch standen.
»Sie ist Journalistin?«, fragte ich überrascht. »Mir hat sie erzählt, sie sei Künstlerin.«
»Damit beleidigen Sie jeden Künstler. Sina hat einen Blog im Internet. Dort sind auch ein paar Fotos zu sehen, die aber für meinen Geschmack keinen künstlerischen Wert haben. In erster Linie ist sie auf der Suche nach Storys.«
»Scheiße«, sagte ich leise.
Deine Menschenkenntnis war auch schon mal besser.
Lechat tippelte mit seinen gelben Fingern auf dem Tisch.
»Sie haben ihr doch nichts erzählt, oder?«, fragte er, während er sich nach vorne lehnte und mich fixierte.
»Nein, natürlich nicht«, beruhigte ich ihn. »Aber gut, dass Sie mich warnen.«
Was für eine dreiste Frau …
Wohl oder übel musste ich mich darauf einstellen, dass in den kommenden Tagen weitere Leute versuchen würden, an Informationen zu gelangen. Ich tat gut daran, vorsichtig zu sein. Selbst ein Gerücht verbreitet sich in einer Kleinstadt wie ein Lauffeuer. Von der Wahrheit ganz zu schweigen.
»Raaffburg hat seine eigenen Gesetze«, bemerkte Lechat etwas pathetisch und lehnte sich wieder im Stuhl zurück. »Das werden Sie auch noch merken.«
Ich befürchtete, dass er recht behalten könnte.
Das Baguette schmeckte gut, aber leider war es zu klein für meinen Hunger. Mein Körper schrie nach Zucker. Gleichzeitig bemerkte ich, dass Lechat langsam ungeduldig wurde. Seine Finger machten jetzt wilde Sprünge auf dem Tisch.
»Möchten Sie auch noch was?«, fragte ich.
»Einen Kaffee können Sie mir noch mitbringen. Danach gehen wir aber raus an die frische Luft!«
Wenn die Tassen auf dem Tisch von ihm stammten, wäre das dann Kaffee Nummer vier.
»Wie Sie meinen«, sagte ich, auch wenn ich bezweifelte, dass die Luft draußen frisch sein würde.
In dem Bistro war sie inzwischen jedenfalls aufgeheizt. Halb Raaffburg musste hier sein. Ich stellte mich wieder hinten in die Schlange und legte mir bereits Kleingeld zurecht, um diesmal direkt bezahlen zu können, als es vorne in der Reihe plötzlich zu einer Rangelei kam. Ein blonder junger Mann in Shorts und orangefarbenen Turnschuhen wurde von dem Mann geschubst, der mir vorhin einen Platz an seinem Tisch verweigert hatte. Er trug noch immer beharrlich den hellblauen Wollpullover.
»Meinst wohl, du kannst dich hier einfach vordrängeln, was?«, bellte er in Richtung des Jungen.
»Ich wollte doch nur einen von den Kaugummis nehmen«, entgegnete der Junge mit schwacher Stimme und zeigte auf die mit Schokoriegeln und Kaugummis bestückte Vorderseite des Tresens.
Augenblicklich tauchte schon wieder der Zwei-Meter-Hüne mit den blonden Haaren auf und sprang dem Pulloverträger zur Seite.
»Du hast hier nichts zu wollen. Los, ab nach hinten!«, befahl er und versetzte dem Jungen einen Stoß in den Rücken.
Der Junge schlich sichtlich verunsichert und mit gesenktem Blick an mir vorbei Richtung Schlangenende. Währenddessen sah ihm der Hüne mürrisch hinterher und blieb schließlich an meinem Blick hängen. Feindselig starrte er mich an.
Inzwischen hatten sich einige Gäste von den Stühlen erhoben, um die Szenerie weiter verfolgen zu können. Manche schienen Gefallen daran zu finden, Gelächter machte sich breit. Doch dann, von einem Moment auf den anderen, schwenkten ihre Blicke hinüber zum Ausgang des Bistros. Dort stand ein etwa achtzigjähriger Herr im Anzug. In seinem Schatten, ein paar Zentimeter hinter ihm, erkannte ich den gut aussehenden Mann, der Sina vorhin die Tür aufgehalten hatte.
Auch die beiden Kerle, die den Jungen runtergeputzt hatten, schenkten ihre ganze Aufmerksamkeit dem Alten. Dieser schaute streng. Sein markanter Kopf, der auf einem starken Hals saß, war leicht nach vorne gebeugt. Seine Lippen wirkten angespannt und bebten leicht, bevor er zu sprechen begann. »Schluss jetzt! In diesem Haus wird gegessen. Hier ist kein Platz für Streitigkeiten.«
Die Stimme war kräftig und bestimmt. Der Hüne und der Mann im Wollpullover nickten ihm ohne Zögern zu und drehten sich im nächsten Moment demütig wie Messdiener zurück in Richtung Theke, wo ihr Essen sie erwartete. Auch die übrigen Gäste, die aufgestanden waren, setzten sich wieder.
Ich blieb als Einziger perplex zurück und beobachtete, wie der Alte gemeinsam mit dem hinter ihm stehenden Mann das Bistro verließ.
»Was ist passiert?«, fragte mich Lechat, der in der Zwischenzeit auf der Toilette gewesen war.
Nachdem ich ihm die Ereignisse geschildert hatte, sagte er: »Dupont und Lennert gehen sie am besten aus dem Weg. Das sind zwei echte Raubeine.«
Den Eindruck hatte ich auch gewonnen. Es schien nicht das erste Mal gewesen zu sein, dass die beiden Grobiane auf ihre Art und Weise in Erscheinung getreten waren. Mich beunruhigten seine Worte. Drohungen und körperliche Auseinandersetzungen gehörten hier offensichtlich zum Alltag. Und kaum jemand schien sich daran zu stören.
Lechat trank seinen Kaffee in einem Zug aus und stellte die Tasse ab.
»Danke für den Kaffee. Am besten, wir verschwinden jetzt.«
6
Lechats Golf Variant wirkte trotz seines respektablen Alters gut in Schuss. Im Wageninneren roch es nach frischem Lavendel, was wunderbar zu den blaugrauen Sitzen passte, die sich in einwandfreiem Zustand befanden. Die Klimaanlage brummte auf der höchsten Stufe und blies mir kalte Luft in Augen und Nase. Ich machte die Lüftungsklappen halb zu, um dem Schnupfen, der heute Morgen angeklopft hatte, den Riegel vorzuschieben.
»Wenn es Ihnen zu kalt ist, sagen Sie einfach Bescheid«, sagte Lechat, während er sich den Gurt umlegte. Ich staunte über die Umsicht meines neuen Kollegen.
»Danke, ein bisschen kühle Luft tut ganz gut nach der Aufregung«, sagte ich, während ich mich zwang, nicht an Elise und ihren neuen Lover zu denken. Wer auch immer dieser war.
Ich richtete meinen Blick nach draußen, auf grüne Wiesen und Apfelbaumplantagen, die den Großteil der Landschaft prägten. Auf einem Holzschild las ich: »Hier wird Sirop de Liège hergestellt«. Die Delikatesse der Region, eine Art Apfelkraut, das gern zu Käse gegessen wird, war mir aus Brüssel bestens bekannt. Wenn wir nicht gerade erst losgefahren wären, hätte ich mich für einen kurzen Stopp eingesetzt. So aber fuhren wir weiter, entlang der Buchen- und Dornenhecken, die das flache Grün in Abschnitte unterteilten und den grasenden Kühen aufzeigten, zu welchem Bauern sie gehörten. Hier und da stand eine wuchtige Eiche oder eine dicke Buche, in deren Schatten ein paar der Tiere dösten. Hinter den Wiesen erkannte ich einige Bruchsteinhäuser. Sie standen am Fuß der großen Burg, die am Horizont über das Städtchen wachte.
»Wer kümmert sich um die Burg?«
Lechat räusperte sich und verzog das Gesicht. »Niemand. Die verrottet. Wie wir alle irgendwann.«
Was für eine düstere Sicht auf das Leben. Und doch sagte er nur die Wahrheit.
»Warum trägt sie kein Dach mehr?«
»Oh … jetzt tauchen wir in die Geschichte ein«, sagte er mit einem Lächeln im Gesicht, offensichtlich froh darüber, dass sich jemand für die Historie seines Heimatortes interessierte. »Es wurde Anfang des 19. Jahrhunderts abgenommen, um eine unverhältnismäßig hohe Steuer zu umgehen. Bauwerke ohne Dach waren nach preußischem Erlass von dieser Steuer ausgenommen.«
Ich blickte ihn fragend an.
»Ja, die Region hier gehörte damals zum heutigen Deutschland. Erst seit 1920 – dem Versailler Vertrag sei Dank – dürfen wir uns Belgier nennen.« Er grinste zufrieden.
Ich erinnerte mich, diese Information vorher schon einmal irgendwo aufgeschnappt zu haben, aber anscheinend hatte ich sie nicht ausreichend abgespeichert.
»Weiß man, wem die Burg gehörte?«
»Sie wurde im 14. Jahrhundert von einer limburgischen Adelsfamilie erbaut, damals hatte die Burg noch einen riesigen Wassergraben – sie galt als uneinnehmbar. Einige Jahre später ging sie dann an eine andere Adelsfamilie, bevor sie schließlich in private Hände fiel«, sagte Lechat so lässig, als hätte er die Antwort schon hundertmal geliefert.
»Was war an dem Ort damals so reizvoll gewesen, dass sich hier Adelsfamilien niederließen?«, fragte ich.
»Darüber kann ich nur Vermutungen anstellen«, sagte er trocken. »In Raaffburg wurden vom 14. bis zum 18. Jahrhundert im großen Stil Tonmaterialien, hauptsächlich Krüge, gefertigt. Raaffburg war einst das Mekka der Töpfer, wenn Sie so wollen. Damit sind natürlich einige Leute reich geworden.«
»Interessant«, sagte ich. Eine solche Geschichte hätte ich dem kleinen Ort gar nicht zugetraut. Doch eigentlich war ich ja für etwas Wichtigeres hier. »Was können Sie mir denn über den Fall erzählen?«, fragte ich Lechat, der linkslastig im Sitz hing und die rechte Hand aufs Steuer legte.
»Warten Sie! Tun Sie mir einen Gefallen und unterschreiben Sie noch dieses Formular.«
Er setzte sich aufrecht hin, griff mit einer Hand nach hinten auf die Rückbank und zog ein Papier hervor.
»Was ist das?«
»Damit bescheinigen Sie, dass Sie die Ermittlungen leiten«, sagte Lechat. »Karls bat mich darum. Er meinte, das müsste sein, da Sie eigentlich in Brüssel angestellt sind. Für die Bezahlung und so.«
Ein solches Formular hatte ich bisher weder unterschrieben noch überhaupt gesehen. Allerdings hatte ich auch noch nie regionenübergreifend gearbeitet.
»Vorher dürfen wir mit den Ermittlungen nicht beginnen«, brummte Lechat und lenkte den Wagen ruckartig nach links in eine Birkenallee.
Ich las alles in Ruhe durch. Einmal. Und ein zweites Mal. Es handelte sich allem Anschein nach um ein routinemäßiges Amtsformular, das die Verantwortung in diesem Fall festlegte. Ich setzte zur Unterschrift an.
»Wo steht denn Ihr Name?«, fragte ich und schaute dabei auf Lechats Schnauzer, der wirklich dringend einen Schnitt benötigte.
»Nirgendwo«, verkündete er mit einem gewissen Stolz. »Ich bin seit zwei Jahren pensioniert, mache das alles nur für die Leute hier«, stellte er klar und lehnte dabei seinen Kopf gegen die Nackenstütze, während die grauen Haare über seine Stirn wehten.
»Sie sagten doch, Sie leiten die Ermittlungen mit mir zusammen«, rief ich ihm seine Aussage von vorhin in Erinnerung.
»Ich unterstütze Sie, das ist richtig. Aber ich mache das aus freien Stücken. Ich kenne die Stadt und die Menschen. Sie sind der Studierte aus Brüssel mit dem Fachwissen. Und zusammen klären wir den Fall auf. So dachte Karls sich das wohl.«
Ich hatte Karls während unseres Telefonats auch so verstanden, dass ich die Ermittlungen leiten sollte. Jedoch wuchsen erneut meine Zweifel, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war zuzusagen.
»Was ist mit den anderen?«, fragte ich und drehte den Kugelschreiber erst mal wieder ein.
»Bender kommt frisch von der Polizeischule. Von ihm können Sie nicht viel erwarten.«
Unweigerlich musste ich daran denken, wie der lange, blasse Schlaks bei meiner Frau zu Hause die Treppe heraufgelugt hatte. Wenn man das Wort »Unerfahrenheit« googelte, müsste einem sofort der Ausdruck dieses Jungen angezeigt werden.
»Und Vanderhagen«, stöhnte Lechat. »Er ist gut, wenn alles nach seinem Kopf geht. Passiert das nicht, ist er schwierig.«
Damit bestätigte Lechat den Eindruck, den ich von dem meckernden Rotschopf gewonnen hatte.
»Er hat wahrscheinlich zu viel verkehrt gemacht in der Vergangenheit. Speziell in diesem Fall«, sagte Lechat.
»Wieso, was war denn?« Ich richtete mich kurz auf, um dann doch wieder zurück in den Sitz zu rutschen.
»Typisch Vanderhagen halt. Es wurde eine vermeintliche Spur gefunden, und er hat nicht angemessen reagiert. Vanderhagen glaubte, den Täter unter Druck setzen zu müssen. Gleichzeitig spielte er mit der Presse. Als die Spur sich schließlich als Dummejungenstreich herausstellte, hatte die Presse ihre helle Freude.« Während er erzählte, fuhr Lechat mit dem Zeigefinger über seinen Schnauzer, so als spürte er selbst, dass die orangegelben Haare seine Oberlippe längst erreicht hatten.
Vielleicht waren diese schlechten Erfahrungen, die die Raaffburger Polizei durchlebt hatte, eine Erklärung für die eindringlichen Warnungen vor der Presse.
Trotz meiner weiterhin bestehenden Skepsis unterschrieb ich und legte das Formular wieder auf die Rückbank.
Unmittelbar danach begann Lechat mit ruhiger Stimme von dem Fall zu erzählen und reichte mir ein Foto, das einen Jugendlichen zeigte. »Felix Riegen war sechzehn Jahre alt, als er am 30. Juni 2003 zum letzten Mal gesehen wurde.«
Für sein Alter war er recht muskulös gebaut gewesen. Aus dem Kapuzenpulli mit Camouflagemuster ragte ein kräftiger Hals. Akne zeichnete die Stirn, die Haut auf den Wangen war gereizt. Die braunen, leicht gewellten Haare glänzten durch das etwas übertrieben aufgetragene Gel. Die ebenfalls braunen Augen waren leicht zugekniffen, doch der Blick war eindeutig: voller Sehnsucht nach Zuneigung und Anerkennung.
Ich hatte das Bild schon einmal gesehen. Damals, als es in der Presse herumgegangen war.
»Seine Eltern gaben ihr Bestes, waren aber letztlich mit dem Jungen überfordert. In der Schule lief es schlecht. Er stand kurz vor dem Verweis. Zudem ging in Raaffburg in dieser Zeit der Köpfchensammler um«, zählte Lechat auf, während er ein Papier aus dem Seitenfach seiner Tür zog und es mir hinhielt.
»Das ist der Abschiedsbrief des Jungen. Wir haben ihn nach seinem Verschwinden in seiner Tasche gefunden.«
Ich begann zu lesen:
Viel zu tief ist der Morast,
ein Ausweg nicht in Sicht,
Wie verlassen diesen Knast?
Die Mauern sind zu dicht.
Lange Listen alter Klagelieder,
kein Tag ohne Mord,
Wann kommt das Böse wieder,
oder ist es gar schon fort?
Träumend in der Wiese,
mit Füller und Papier,
helfen flinke Diebe,
zu verschwinden hier.
Palmenzweige hängen tief,
versprechen Duft von Kokosnüssen,
auch wenn es laufen sollte schief,
wird meine Rückkehr warten müssen.
Zwar assoziierte ich mit Kokosnüssen nicht unbedingt Afrika, sondern eher karibische Inseln, im Grunde bestätigte das Gedicht aber Vanderhagens Vermutung, dass der Junge sich abgesetzt hatte. Hätte ich nur auf Basis dessen urteilen müssen, was Lechat mir bisher vorgelegt hatte, wäre ich zum gleichen Schluss gekommen. Was ließ Karls also daran zweifeln?
»Was ist das Problem in diesem Fall, Herr Lechat?« Ich sprach absichtlich förmlich, in Erwartung einer präzisen Antwort.
»Sein Vater«, sagte Lechat und drehte das Blatt um, das ich in den Händen hielt.
Zum Vorschein kam das Abbild eines gebrochenen Mannes, der regelrecht zu verschwinden schien. Dem Aussehen nach zu urteilen aß und trank dieser Mann nicht einmal die Mindestmengen dessen, was man zum Überleben benötigte. Tief eingefallene Wangen, trockene Lippen, krause Haare. Auf der Stirn traten die Adern deutlich hervor. Sein Blick, voller Leere, ging an der Linse vorbei.
»Ich weiß, kein schöner Anblick«, bemerkte Lechat und machte einen Schlenker nach links auf eine Straße, die durch einen Wald führte. »René Riegen ist überzeugt davon, dass Felix nicht freiwillig gegangen ist. Er sucht ihn bis heute. Vierundzwanzig Stunden. Jeden Tag.«
Ich erinnerte mich an das Plakat mit der schlechten Alterungssimulation, das vor dem Bistro hing. Trotzdem verstand ich immer noch nicht, warum ich hier war und was wir in diesem Fall tun sollten. Oder, besser gesagt, was wir tun konnten.
»Wenn Sie jetzt gleich zu Ihrer Rechten schauen, sehen Sie den größten Arbeitgeber von Raaffburg«, unterbrach Lechat meine Gedanken mit sanfter, aber bestimmter Stimme.
Hinter einer lang gezogenen, etwa zwei Meter hohen Mauer aus Bruchstein ragte ein riesiges Gebäude aus roten Ziegeln auf, das eine leicht verblichene grüne Aufschrift trug: »Rehnhof Fertigkost«.
Wir mussten anhalten, weil vor uns ein Lkw Probleme beim Einbiegen in die kleine Toröffnung hatte. Das gab mir Gelegenheit, einen Blick in das Firmeninnere zu werfen. Ich sah vier Männer in Anzügen, die miteinander redeten. Zwei von ihnen waren mir zugewandt, sodass ich ihre Gesichter erkennen konnte. Der Mann links war der Alte aus dem Bistro. Er hörte seinem Gegenüber bedächtig zu. Neben ihm stand mit breiter Brust der Mann mit den behaarten Unterarmen, der im Bistro hinter dem Alten gestanden hatte.
»Die beiden dort waren doch auch im Bistro zum Essen«, sagte ich.
»Das sind Alvin Rehnhof und sein Sohn Frank. Ich glaube aber nicht, dass die beiden dort gegessen haben. Den Rehnhofs gehört halb Raaffburg, auch das Bistro. Die haben Geld bis zum Abwinken«, sagte Lechat.
»Ein Kontrollgang also«, sagte ich in Erwartung einer weiterführenden Erklärung.
»Soviel ich weiß, vermietet Alvin Rehnhof das Bistro schon seit Ewigkeiten. Es liegt nah an der Tiefkühlfabrik, sodass die Belegschaft hier oft zu Mittag isst. Ein wesentlicher Grund für Rehnhof, dass das Ding weiter existiert«, erklärte Lechat und schaltete einen Gang hoch.
Mein Hemd war durch die Klimaanlage beinahe ganz getrocknet, meine Haut fühlte sich an, als wäre sie mit einer dünnen Schicht Zuckerguss überzogen. Am liebsten wäre ich kurz unter die Dusche gesprungen. Aber wo? Ich hatte ja noch nicht mal einen Plan, wo ich heute schlafen würde. Außerdem hatte ich in der Eile am Morgen, nachdem mich Bender abgeholt hatte, völlig vergessen, Wechselklamotten mitzunehmen.
»Übrigens, das Hotel ist voll. Ich werde aber gleich bei Wilma Ersfeld in der Schule nachfragen. Sie ist ein guter Mensch, der öfter Hilfsbedürftige aufnimmt«, sagte Lechat, der meine Gedanken gelesen haben musste. Hilfsbedürftig – wahrscheinlich passte die Beschreibung ganz gut zu mir.
»Das ist sehr freundlich«, antwortete ich. »Können Sie mir auch sagen, wo man hier günstig Kleidung kaufen kann?«
Er musterte mich von oben bis unten.
»Haben Sie nichts dabei?«
Glaubt er etwa, ich bin zum Shoppen nach Raaffburg gekommen?
»Nein.«
Er überlegte kurz, bevor er entschlossen weitersprach. »Ich bringe Ihnen was bei Wilma vorbei, falls Sie dort schlafen können. Brauchen Sie sonst noch was?«
»Nein, sonst ist alles gut. Ich danke Ihnen.«
Auch wenn ich nicht scharf darauf war, in seine Unterhosen zu schlüpfen, war ich ihm für seine Hilfe dankbar. Zahnbürste und Duschgel würde ich mir später selbst besorgen. Und sicher auch Unterwäsche.
»Keine Ursache. Das kriegen wir schon hin, machen Sie sich keine Sorgen«, beruhigte Lechat mich wie ein Vater.
Wir bogen in eine Straße mit mehreren Reihenhäusern, an deren Ende ich das Schild der Polizei erkennen konnte. Bevor wir jedoch im Präsidium auf Vanderhagen und Bender treffen sollten, wollte ich unbedingt noch in Erfahrung bringen, warum dieser Fall so viel Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Karls erwähnte am Telefon eine neue Spur. Worum handelt es sich dabei?«
Lechat zupfte nervös an seiner Hemdtasche. »Ein Mädchen und ein Austauschschüler haben bei Aufräumarbeiten in der Schule den alten Schülerkalender des vermissten Jungen gefunden.« Lechat quetschte sich eine Zigarette zwischen die trockenen Lippen. »Der Austauschschüler hat sich vor lauter Angst in die Hosen gemacht«, fuhr er lachend fort.
»Und?«, fragte ich ungeduldig.