Kitabı oku: «Highcliffe Moon - Seelenflüsterer», sayfa 2
»Letzte Gelegenheit für eure One-Night-Stands, sich durchs Fenster abzuseilen«, flachste Tobey mit breitem Grinsen.
»Hey, Tobey!« Überschwänglich flog ich ihm in die Arme, denn ich hatte ihn schon sehr lange nicht gesehen. »Du bist schon hier! Das ist ja eine Überraschung!«
»Ja, allerdings. Wolltest du nicht erst um zehn Uhr hier sein?«, raunzte Charlie ihn an, da sie nicht annähernd fertig war.
Innerlich rollte ich mit den Augen. Anstatt sich zu freuen … Genau diese unbedacht ausgestoßenen Zickereien verringerten meiner Meinung nach die Chance auf ein Happy End.
»Ich habe eine Maschine eher genommen. Weil ich solche Sehnsucht hatte … Schatz«, fügte er leicht bissig hinzu, deutlich enttäuscht von Charlies Begrüßung.
Vielleicht hatte sie meinen tadelnden Blick gesehen, jedenfalls entschied sie sich nun doch noch zu einem freudigen Gesichtsausdruck und sprang ihm entgegen. »Wenigstens konnte ich noch meine Zähne putzen«, maulte sie nach einer verspäteten, leidenschaftlichen Umarmung. »Ich wollte noch die Spuren der Nacht verschwinden lassen, bevor du kommst. Ich sehe doch so fertig aus.« Sie eilte wieder zum Spiegel und prüfte ihr Äußeres noch genauer als vorher.
»Sorry, ich dachte, du freust dich«, sagte er trocken.
»Tu ich doch auch«, rief sie quengelnd und versuchte, den Kampf mit der Bürste zu gewinnen.
»Übrigens finde ich überhaupt nicht, dass du fertig aussiehst«, meinte er und zauberte damit ein kurzes, erleichtertes Lächeln auf ihr Gesicht. »Was habt ihr denn gestern Abend getrieben?«
»Och, na ja, wir haben ein bisschen abgefeiert in so einer Bar auf der Siebten, wo sie es mit dem Alkoholausschank nicht so genau nehmen. Eine Empfehlung von Keira.« Sie blinzelte mir zu, da dieser Tipp von meiner Schulfreundin kam. »Ich glaube, ich hatte fünf Bier und zwei Kurze«, gab sie zu Protokoll. Sie übertrieb maßlos, um ihr Aussehen zu rechtfertigen, denn sie konnte in Wahrheit kaum zwei Drinks ab, was Tobey mit Sicherheit bekannt war.
»Respekt … Alle Achtung.« Tobey nickte mit gespielter Anerkennung und pfiff durch die Zähne. »Das qualifiziert dich zweifelsohne für jeden Stammtisch.« Er ließ sich schräg in den einzigen Sessel fallen und ein Bein lässig über der Lehne baumeln. Dann strich er sich mit beiden Händen durch seine flachsblonden kurzen Haare und verschränkte sie hinter dem Kopf. Grinsend beobachtete er Charlie, die sich immer noch ihrem Spiegelbild widmete und in Windeseile mit einem Abdeckstift ihre Augenringe zu kaschieren versuchte.
Während er seiner Freundin zusah, die nun sorgfältig die Tusche auf ihren Wimpern verteilte, musterte ich ihn unauffällig. Er war schon ein cooler Typ, dieser Tobey Marshall, ein Junge, auf den die Mädels flogen, einundzwanzig, gut aussehend, smart und intelligent. Dass er an der Harvard University studierte, flößte vielen zu Hause außerdem Respekt ein. Ich mochte seine unkomplizierte Art und mein Verdacht, dass seine gelegentlichen Abwehräußerungen von Charlie provoziert wurden, bestärkte sich heute wieder.
»Kannst du nicht woanders hingucken?«, zischte sie ihn an.
Er lachte und sie zog finster ihre Brauen zusammen und schnitt eine Grimasse.
»Ich geh dann mal ins Bad«, sagte ich, klaubte meine graue Röhrenjeans und mein weißes Lieblingsshirt mit der aufgesetzten Knopfleiste vom Bett und trippelte aus der Schusslinie.
Das Frühstück nahmen wir noch gemeinsam ein. Ich staunte über die Mengen, die Tobey verschlang. Mit vollem Mund murmelte er etwas von „Mal ne Abwechslung vom Mensafraß“. Zwischen den nacheinander verdrückten Portionen Müsli mit Obst, Rühreier mit Speck und Brötchen mit allem, was da war, erzählte er ein bisschen von Boston, den Leuten, mit denen er dort meistens abhing, und wie es im Studium voranging. Ich bekam nicht alles genau mit, da ich von Charlies Gesichtsausdruck abgelenkt war, den ich zu lesen versuchte. Sie kaute nervös auf der Unterlippe herum, lachte ein paarmal, was mir allerdings etwas künstlich erschien, und die Gesichtszüge entglitten ihr einmal gänzlich, als Tobey von bereits jetzt winkenden verlockenden Jobangeboten aus Boston und New York berichtete. Ihre Mundwinkel zuckten und die Muskeln unter ihren Wangenknochen tanzten, während ihre Zähne mahlten. Das war die höchst angespannte Charlie. Ich kannte dieses Mienenspiel sehr gut. Tobey berichtete kauend weiter und schien es nicht wahrzunehmen; oder er ging darüber hinweg. Dass Jungs dazu neigen, Stimmungen, die zu unangenehmen, für sie lästigen Diskussionen führen könnten, einfach zu ignorieren, hatte ich inzwischen schon mitbekommen.
Charlie entspannte sich erst, als er verkündete, seine Möglichkeiten ganz in Ruhe zu checken und auch etwaige Angebote in England zu prüfen. Mit einer wedelnden Geste seiner Hand, wobei sich eine Tomatenscheibe vom Schinkenbelag des Brötchens löste und dicht neben Charlies Kaffeetasse auf dem Tischtuch aufklatschte, erklärte er uns, dass der erste Job nicht gleich der beste sein müsse, auch wenn er vielversprechend klinge. Ihr Gesicht hellte sich auf und sie bestärkte ihn sogleich eifrig nickend. »Das solltest du auf jeden Fall tun.«
Nach dem Frühstück wollten sich die beiden wieder nach oben verziehen, so, wie wir es vorher geklärt hatten, und ich erhielt noch eine genaue Wegbeschreibung zum Museum. »Viel Spaß, Val«, wünschten sie mir, als sie eng umschlungen zum Fahrstuhl gingen.
Ich grinste, die Augenbrauen zweimal hintereinander kurz hochziehend. »Euch auch!«
Es nieselte immer noch etwas, aber das störte mich nicht. Ich zog mir die Kapuze meiner dunkelblauen Regenjacke tief ins Gesicht und lief in Richtung U-Bahn. Ohne Probleme fand ich den Weg zum American Museum of Natural History am Central Park, Ecke neunundsiebzigste Straße, und stand nun auf der Treppe vor dem monumentalen, mit imposanten Säulen aus hellgrauem Stein verzierten Eingangsportal. Feierlich schritt ich die Stufen empor und betrat gespannt das Foyer.
Riesige Dinosaurierskelette begrüßten mich auf meiner Entdeckungstour durch die Geschichte der Menschheit. Neugierig und aufmerksam durchwanderte ich Raum für Raum, staunend über die Artenvielfalt der Tiere, die hier zusammengetragen war. Das Museum war der Wahnsinn. Von der Decke eines Saales hing ein gigantischer, lebensgroßer Wal herab. Ich setzte mich darunter auf den Fußboden und stellte mir vor, wie er über mich hinwegschwamm. Vertieft in diese Vorstellung, verlor ich mal wieder die Zeit. Erst ein Blick auf die Uhr trieb mich weiter.
In einem Raum mit ausgestopften Vögeln hatte ich auf einmal das starke Gefühl, beobachtet zu werden. Irritiert sah ich mich um. Die Anzahl der Besucher war recht überschaubar und alle waren nur mit den Exponaten beschäftigt. Und trotzdem. Ich spürte es deutlich und das Gefühl blieb. Eine logische Erklärung war, dass die vielen Augenpaare der Vögel zu eindringlich auf mich wirkten. Ich musste an „Nachts im Museum“ denken und kicherte leise, während ich das Weite suchte.
Nach fast drei Stunden Kultur begann meine Aufnahmefähigkeit rapide abzusacken und so trabte ich in Richtung Rose Center for Earth and Space, um das Versprechen an meinen besten Freund Ben einzulösen, einige Fotos von dem hier ausgestellten Meteoriten Willamette zu machen. Ich verzichtete darauf, Kopfhörer mitzunehmen, und betrat die Ausstellung. Sie war sehr umfangreich und so überflog ich die einzelnen Bereiche nur – Galaxien, Planeten, Sterne –, die Ben sicher stundenlang mit Begeisterung aufgesogen hätte. Willamette war nicht schwer zu finden. Ich stand vor einem fünfzehneinhalb Tonnen schweren, oval geformten und total zerklüfteten Eisenklumpen, dem größten, der jemals auf der Erde gefunden worden war. Auf der Beschreibung las ich weiter, dass er wohl der Eisenkern eines vor Milliarden von Jahren zerborstenen Planeten sei, der vor Tausenden von Jahren mit 40.000 Meilen pro Stunde auf die Erdoberfläche geknallt sei. Muss ein gewaltiges Loch gegeben haben, dachte ich. Schrecklich, wie viel er heutzutage auf der Erde vernichten könnte. Ich fotografierte das Eisengerippe von allen Seiten, die Beschreibung und auch die Halle, in der er ausgestellt war. Meinen Auftrag wollte ich zu Bens vollster Zufriedenheit erledigen.
Plötzlich hatte ich wieder dieses eigenartige Gefühl, jemand würde mich beobachten. Unauffällig taxierte ich die umstehenden Leute, konnte aber auch jetzt nichts Auffälliges entdecken. Meine Wahrnehmungsfähigkeit anzweifeld, wandte ich mich noch einmal dem Eisenklumpen zu und begann, die Fotos auf dem Display zu checken. Dann kam das Gefühl noch intensiver zurück. Ich hielt den Kopf gesenkt, als würde ich weiterhin meine Aufnahmen studieren, doch mein Blick wanderte forschend in der Gegend umher. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass bei der Treppe, halb verborgen von einer Ausstellungstafel mit Sternenkonstellationen, eine Gestalt stand, die unverwandt zu mir herüberblickte. Ich mochte es überhaupt nicht, angegafft zu werden. Augenblicklich begann ich dann nämlich zu überlegen, was an mir eventuell nicht stimmte, und das brachte mich jedes Mal in eine komplette Abwehrhaltung. Es war meine Art, aufkommende Unsicherheit zu kompensieren.
Schnell drehte ich meinen Kopf der Gestalt zu, bereit, ihr meinen finstersten missbilligenden Blick entgegenzuschleudern. Doch als ich in der Drehung meine Brauen zusammenzog, bemerkte ich, dass dort ein umwerfend aussehender Junge stand, der seinen Blick an mir vorbei auf den Meteoriten geheftet hatte, während er sehr konzentriert der erklärenden Stimme aus dem Kopfhörer zu lauschen schien. Überrascht fiel mir die Kinnlade herunter und meine Pulsfrequenz stieg merklich. Er glich nicht annähernd jemandem, den ich kannte. Niemand hätte einem Vergleich mit ihm standhalten können. Es war nicht möglich, ihn zu beschreiben, ohne das Wort wunderschön immer und immer zu wiederholen. Hätte mich vorher jemand nach meiner Traumvorstellung von einem perfekten Jungen gefragt, hätte ich keine Antwort gewusst. Jetzt kannte ich sie. Braune Haare, gewellt, etwas länger, freundliche, dunkle Augen mit kräftigen Brauen darüber, eine ebenmäßige Nase, markantes Kinn, ausdrucksvolle Lippen, groß und schlank. Sein Anblick stach in mein Herz wie ein Dolch. Und doch glaubte ich, dass es nicht ausschließlich seine Schönheit war, was mich an ihm auf unerklärliche Weise fesselte und magisch anzog.
Die Angst, er könnte bemerken, wie ich ihn mit offenem Mund und dämlichem Gesichtsausdruck anstarrte, ließ mich meinen Kopf reflexartig zurückdrehen. Zitternd widmete ich wieder Willamette meine gespielte Aufmerksamkeit. Ich zischte unhörbar durch die Zähne und senkte verunsichert meinen Blick. Wie hatte ich nur glauben können, dass ich im Mittelpunkt seines Interesses stand? Ich versuchte krampfhaft, meine Gesichtszüge unter Kontrolle zu bringen, um möglichst desinteressiert auszusehen, wenn ich mich ein zweites Mal zu ihm umdrehte – denn der Zwang, es zu tun, wurde übermächtig. Bloß nicht lächerlich machen, Val, hämmerte es mir durch den Kopf. Aber es ist doch ganz natürlich, wenn ich mich in einem Raum voller Exponate umsehe, machte ich mir Mut, und wenn er zufällig in meiner Blickrichtung steht … Hitze breitete sich in mir aus und nachdem sie gründlich durch meinen kompletten Körper geschossen war, besetzte sie meine Wangen. Der kurze Augenblick, der Bruchteil einer Sekunde hatte ausgereicht, um sein Gesicht wie gescannt auf meiner Festplatte zu speichern. Und dieses Bild musste ich jetzt unbedingt überprüfen. Mit trockenem Hals drehte ich mich zögernd in seine Richtung und versuchte dabei, völlig entspannt zu wirken, obwohl mein Herz inzwischen wie verrückt pochte. Verstohlen schaute ich über die Schulter.
Er war weg.
Es war eine schmerzliche Enttäuschung. Eine Eisenkralle presste mein Herz zusammen und in meinem Magen rebellierten die Frühstücksflocken.
Wie war er nur so schnell verschwunden? Ich blickte mich in alle Richtungen um. Außer einer Gruppe Schulkinder, die jetzt lärmend in den Saal stürmte und sofort mit einem energischen Zischlaut ihrer Lehrerin zur Ordnung gebracht wurde, waren nur einige unauffällige Besucher auszumachen. Betrübt blies ich die angehaltene Luft langsam aus meinen Lungen heraus und begann, auf meinen Lippen herumzubeißen. Als könnte ich damit auch Ordnung in mein Gefühlschaos bringen, zog ich bedächtig mein T-Shirt glatt. Schade, war das Wort, das mir einfiel, auch wenn es meiner Enttäuschung nicht annähernd gerecht wurde. Na, vielleicht ist es auch gut so, versuchte ich mir einzureden. Es war immerhin möglich, dass mein blödes Verhalten ihn in die Flucht geschlagen hatte. Was für eine blamable Aktion. Das war jetzt auf jeden Fall das Signal zum Aufbruch. Ich atmete noch einmal tief durch und eilte frustriert zum Ausgang.
Da endlich die Sonne herausgekommen war, stopfte ich meine Regenjacke in den Rucksack, warf ihn über meine rechte Schulter und stakste die breite Treppe des imposanten Gebäudes hinunter. Ich machte einen kerzengeraden Rücken, nahm die Schultern nach hinten, sog die warme Spätsommerluft ein und ermahnte mich förmlich zu guter Laune. Was für ein Tag, was für eine Stadt, was für ein Glück!
Sehr langsam, fast zögernd schlenderte ich in der wärmenden Sonne in Richtung der nächsten U-Bahn-Station und betrachtete aufmerksam meine Umgebung. Doch mir wurde bewusst, dass mein Fokus auf den Gesichtern der Menschen lag, nicht auf den facettenreichen Gebäuden, die ich passierte. Eine Konzentration darauf war mir nicht möglich. Dieses unfassbar schöne Gesicht hatte sich ungefragt in meine Netzhaut gebrannt und schummelte sich immer wieder in meine Gedanken. Aber die vage Hoffnung, ihn noch einmal wiederzusehen, schwand, je weiter ich mich vom Museum entfernte. Und so schloss ich das Kapitel und beschleunigte meine Schritte.
Den Coffeeshop am Union Square, wo ich mit Charlie und Tobey verabredet war, erkannte ich nach deren Beschreibung sofort an den großen, orangefarbenen Kugellampen im Fenster. Der dunkelrot gestrichene Raum war heillos überfüllt. Es schien ein angesagter Studententreff zu sein. Ich drängte mich an der endlos scheinenden Schlange am langen Tresen vorbei, wo den Baristas die Bestellungen entgegengeschleudert wurden: »Einen Caramel Macchiato«, »Einen doppelten Espresso«, »Einen White Chocolate bitte.« Dazwischen dröhnten die Kaffeemaschinen und die Milchaufschäumer zischten quietschend.
Charlie und Tobey lümmelten sich mehr über- als nebeneinander auf einem plüschigen Sofa in der hintersten Ecke. »Hey, da bist du ja!«, rief Tobey mir entgegen. »Schön, dich in einem Stück wiederzusehen.«
»Ha, ha«, tat ich beleidigt.
Angesichts der enormen Schlange am Tresen verzichtete ich auf einen Kaffee und bat um einen Schluck von Charlies Wasser. Dann berichtete ich begeistert von meinen Eindrücken im Museum, hatte aber nicht das Gefühl, dass es sie rasend interessierte. Tobey streichelte Charlies Taille unter ihrem kurzen rosafarbenen Shirt und sie drängte sich wohlig seiner Hand entgegen und warf ihm immer wieder feurige Blicke zu. Ich kam zu dem Schluss, dass auch ihr Tag zufriedenstellend verlaufen war.
Gemeinsam machten wir im Sonnenschein den Spaziergang über die Brooklyn Bridge und ich kam endlich zu meinen Fotos von Manhattans Skyline. Eng umschlungen liefen die beiden vor mir her und warteten geduldig alle paar Schritte, bis ich alles im Kasten hatte. In Brooklyn schmissen Tobey und ich in einem gemütlichen Eck-Café noch ein paar Pancakes ein. Charlie bestellte nur einen Saft, um sich dann aber von Tobey mit einem guten Drittel seiner Portion füttern zu lassen, woraufhin ich ihm mitfühlend einen von meinen abtrat. Auf dem Rückweg statteten wir dem Pier 37 noch einen Besuch ab, aalten uns in Liegestühlen in der Sonne und tranken Eistee. Es war ein relaxter Tag und die Stadt wuchs mir mehr und mehr ans Herz.
Am späten Abend sprang Tobey ins Taxi, um seinen Flieger zu kriegen, und Charlies Laune sackte so drastisch ab, dass ich nichts dagegen hatte, nach einer solidarisch geteilten Mitternachtstrostpizza zurück ins Hotel zu fahren.
Ich schob es auf den fettigen Käse, dass ich in dieser Nacht einige Male wach wurde. Jedes Mal aber sah ich mich irritiert im Zimmer um, denn ich hatte das verrückte Gefühl, es wäre, außer der schlafenden Charlie, noch jemand da.
Wechselbad der Gefühle
Der schon recht warme Spätsommerwind dieses sonnigen Vormittages zerrte wild an meinen Haaren und ließ sie wie eine Fahne flattern, die hin und her peitscht, als wollte sie in die Freiheit entlassen werden. Ich ließ den Wind über meinen Hals streichen, in meine geöffnete Jacke gleiten, unter mein Shirt schlüpfen, bis er durch jede Faser meines Körpers zu dringen schien. Obwohl ich trotzdem ein wenig zu frösteln begann, hielt ich stand. Ich fühlte das pure Leben. Es erschien mir in diesem Moment so intensiv wie nie. Dieses Gefühl wollte ich nicht zerstören. Der Genuss war einfach größer. Dass ich mich in einer Höhe von über dreihundert Metern auf dem Empire State Building befand, steigerte meine Euphorie.
Mit den Händen auf der grauen Steinmauer der Besucherplattform abgestützt, wippte ich auf den Zehenspitzen und versuchte, dem Rausch der Tiefe zu widerstehen. Unter mir breitete sich die endlos erscheinende Stadt aus. Der Straßenlärm hatte sich zu einem einzigen, undefinierbaren, dumpfen Dauerton vereinigt, der fast etwas Hypnotisches hatte. So könnte ich ewig hier stehen, dachte ich. Ohne Scheu gurrte dicht neben mir, auf dem Stein hockend, eine Taube. Sie interessierte sich nicht für diesen unglaublichen Ausblick, sondern nur für die Sandwichkrümel der Touristen. Ich beneidete sie, als sie abhob und mit wenigen Flügelschlägen überaus elegante Flugmanöver ausführte. Offenbar war die Thermik hier sehr stark. Eine Weile noch folgte ich ihr mit den Augen, dann schloss ich sie und konzentrierte mich ganz auf das Gefühl, ein Teil dieses Universums zu sein. Hier, so weit oben über der Stadt, zu stehen, war ein erhabenes Gefühl. Ich fühlte mich stark und lebendig und glaubte voller Intensität daran, dass mir nichts und niemand in diesem Moment etwas anhaben könnte. Was, wenn ich die Schutzgitter überwinden und mich einfach fallen lassen würde … In Gedanken breitete ich meine Arme aus.
Dann würde ich dich auffangen, schien mir eine Stimme zuzuflüstern.
»Was?« Verwirrt drehte ich mich um.
Charlie hüpfte gut gelaunt auf mich zu. »Hey, Träumerin, können wir mal langsam weiter?«
»Äh … ja klar.«
Unsicher lauschte ich in mich hinein. Die Stimme war so deutlich gewesen. Aber Charlie konnte es nicht gewesen sein und auch niemand sonst stand so nah bei mir. Eine Bö schoss singend an meinem Ohr entlang und schleuderte mein Haar nach vorn. Es war nur der Wind, beruhigte ich mich. Kurz erschaudernd folgte ich Charlie zum Lift.
Er raste nach unten und spülte uns wieder auf die Straße, rein ins quirlige, lärmende New York. Ich blickte mich um und versuchte hoch oben die Plattform auszumachen, auf der wir eben noch gestanden hatten. Nachdem ich anfänglich fast eine Genickstarre bekommen hatte, schaffte ich es mittlerweile, die gewaltigen Wolkenkratzer als normale Kulisse zu betrachten. Die endlosen Straßenschluchten, die Hupkonzerte und die Menschenmassen, die sich selbst von einer roten Fußgängerampel nicht stoppen ließen, waren mir schnell vertraut geworden. Vergnügt stiefelten wir die Treppe hinunter in den Untergrund und sprangen in die nächste Bahn.
Konzentriert studierte Charlie den U-Bahn-Plan, um noch einmal die optimale Verbindung zu überprüfen. Sie murmelte etwas, aber ich hörte nicht mehr hin. Regungslos stand ich im Gang, eine Hand fest um die Haltestange gekrallt, die Augen starr geradeaus gerichtet.
Am anderen Ende unseres Waggons stand ein Junge, genauso regungslos wie ich, und diesmal sah er mich direkt an. Es war der Junge aus dem Museum. Ich hätte ihn überall wiedererkannt. Sofort war der Kloß im Hals wieder da. Sein ebenmäßiges Gesicht, mit diesen Augen, in die man eintauchen wollte, stach aus der Menge heraus wie ein helles Licht. Seine braunen, fast schulterlangen Haare waren perfekt ungeordnet. Er trug eine dunkle Jeans, die ihm eine gute Nummer zu groß war, und eine dunkelgraue Kapuzenjacke mit Reißverschluss, die er offen über einem hellgrauen T-Shirt mit V-Ausschnitt trug. Er war groß und irgendwie schlaksig, aber ich konnte die Konturen eines trainierten Körpers unter seinem T-Shirt erahnen.
Eine innere Unruhe, die ich so noch nie gespürt hatte, packte mich, als ob sämtliche Moleküle meines Körpers durcheinanderwirbelten und ihren Platz nicht mehr finden konnten. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Mist, dachte ich, man sieht es mir an, ich bin bestimmt knallrot im Gesicht. Sosehr ich mich bemühte, äußerlich cool zu wirken, während gigantische Tornados in meinem Innersten wirbelten, es war nahezu aussichtslos. Ich stand da wie gemeißelt und konnte meine Augen nicht in der vorgeschriebenen Zeit, die ein Desinteresse dokumentiert hätte, von diesem mich wieder magisch anziehenden Gesicht lösen.
Doch auch er schaute nicht weg. In meinem Kopf drehte sich alles. Warum lächelte ich nicht wenigstens, um die Peinlichkeit, ertappt worden zu sein, zu überspielen, mich dann wegzudrehen und noch einen würdevollen Abgang hinzulegen. Er wird bestimmt hundertfach von schmachtenden Blicken verfolgt, so wie er aussieht, sagte ich mir und ärgerte mich einen kurzen Moment, dass auch ich in seinem Netz zappelte. Vielleicht war er ja total arrogant und machte sich über all die entflammten Mädels lustig. Aber das sollte mir nicht passieren, die mit Stolz sagen konnte, nicht auf irgendwelche Schönlinge hereinzufallen oder ihnen jemals hinterherzugeiern. Sein Fangstrahl hatte mich dennoch fest im Griff. Es gelang mir nicht, wegzusehen. Meine Gedanken rasten durcheinander, während ich nur dastand und vergeblich versuchte, meine Gesichtszüge zu entkrampfen.
Merkwürdigerweise wirkte er jedoch überhaupt nicht überheblich, eher, als sei er sich seiner Schönheit gar nicht bewusst. Er schaute warm und freundlich mit offenem, festem, interessiertem Blick. Es schien, als ob sich sein Gesicht noch tiefer in mein Innerstes einzubrennen versuchte, falls das überhaupt möglich war.
Bildete ich mir das alles nur ein? Konnte es sein, dass er wirklich mich meinte, oder hatte er vielleicht doch jemanden direkt hinter mir im Visier? Wahrscheinlich ist es so, versuchte ich meinen hämmernden Herzschlag unter Kontrolle zu bringen. Ich schaffte es schließlich, den Blick niederzuschlagen und endlich wieder einen Atemzug zu nehmen. Doch ich musste wieder aufblicken und sah, erneut den Atem anhaltend, wie das längst gespeicherte Gesicht mit dem unwesentlichen Anhängsel dieses schlanken, sich anmutig bewegenden Körpers – Hab ich wirklich anmutig gedacht in Zusammenhang mit einem Jungen? – auf mich zukam.
Seine wunderschönen braunen Augen waren, es war unverkennbar, auf mich geheftet. Meine Gedanken begannen wieder sich zu überschlagen. Wenn er mich nun ansprechen würde, was sollte ich dann bloß sagen, ohne profan rüberzukommen, ohne diesen Moment kaputt zu machen? Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und der Gedanke an Flucht meldete sich. Manchmal ist es besser, einen perfekten Moment einzufangen und wie einen Schatz mit sich fortzunehmen. Nur ein einziges dumm gewähltes Wort oder eine Geste konnte alles wieder zerstören und so bliebe wenigstens die Illusion, einen perfekten Menschen getroffen zu haben, von dem man mit all den ihm angedichteten Wunschattributen träumen konnte. Aber meine Füße waren wie am Boden festgeklebt. Ich verharrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht, vom Licht geblendet und zu keiner Bewegung mehr fähig. Und hätte ich einen Fuß vom Boden lösen können, wären mir ohne Zweifel die Beine weggesackt. Nur mein verkrampfter Klammergriff um die Haltestange verhinderte das in diesem Moment. Ich hatte das verstörende Gefühl, gefunden zu haben, was ich unbewusst schon immer gesucht hatte.
Plötzlich wurde ich am Arm gepackt.
»Val, hörst du nicht? Wir müssen hier raus, das ist unsere Station. Los!«
Bevor ich protestieren konnte, hatte sie mich schon aus dem Zug gezerrt und die Türen schlossen sich augenblicklich hinter uns. Sein Kopf flog herum, unsere Augenpaare trafen sich noch einmal und ich glaubte, eine maßlose Enttäuschung in seinem Blick erkannt zu haben. Mir ging es nicht anders. Als hätte mich eine Zeitmaschine aus dem Waggon katapultiert. Eben noch im Fegefeuer glühendster Gefühle, stand ich jetzt verloren auf dem Bahnsteig und schaute hilflos dem davonbrausenden Zug nach. Mein Magen verkrampfte sich, als mir allmählich schmerzlich bewusst wurde, dass dies einer der berühmten verstrichenen Momente war, in dem man nicht gehandelt hat und der nie wiederkam. Es war so gut wie ausgeschlossen, dass ich ihn in dieser riesigen Stadt noch einmal treffen würde. Sich zweimal zu sehen, war schon ein Riesenzufall. Ich musste mich der schmerzlichen Wahrheit stellen. Das war’s, Chance vorbei.
Eine unsagbare Leere ergriff mich. Es tat so weh.
Meine Enttäuschung wich der Wut, die langsam in mir aufkeimte. Ich war so blöd. Stocksteif wie ein Fisch hatte ich dagestanden. Oouhhh! Ich ballte meine Fäuste und stampfte leicht mit dem Fuß auf. Wenn ich wenigstens gelächelt hätte. Vielleicht hätte er sich motiviert gefühlt und ein bisschen mehr beeilt und vielleicht … Ach, es ist müßig, darüber nachzudenken, dachte ich niedergeschlagen.
Charlie, die wie immer Richtung und Schritttempo bestimmte, war bereits einige Meter vorausgelaufen, bis sie mein Fehlen bemerkte und mit fragendem Blick zurückkam. »Hey, wo bleibst du?«, rief sie, als sie auf mich zukam. »Komm schon! Ich fing gerade an, ein fremdes Mädchen vollzuquatschen, weil ich dachte, du wärst es.«
Ich sah durch sie hindurch.
»Sag mal, träumst du? Planet Erde an Val!« Während sie das sagte, wischte sie mit ihrer Handfläche zweimal dicht an meinem Gesicht vorbei und schaute mich verständnislos an, als ich nicht mal zuckte.
»Glaubst du an die vollkommene Anziehungskraft zweier Menschen, so was wie die berühmte Liebe auf den ersten Blick?«, fragte ich sie kraftlos.
»Ähm, wie kommst du denn jetzt darauf?«, fragte sie, die Brauen eng zusammenziehend.
»Es könnte sein, dass mir das gerade passiert ist.« Meine Schultern fühlten sich so müde an, als wären sie mit Gewichten beschwert.
»Wie jetzt. Jetzt eben?« Charlies Stimme hob sich in einen Sopran-Sing-Sang. Sie schaute sich in alle Richtungen um.
»Im Zug eben«, seufzte ich mit gebrochener Stimme. »Ich schwöre dir, so etwas, wie das eben, habe ich noch nie gefühlt. Ich bin total neben der Spur.«
Ich spürte, wie mein ganzer Körper zitterte, als hätte mich eine Kaltfront erwischt. Charlie nahm meine Hand und strich beruhigend darüber, während sie mit erschrecktem Blick in meinen Augen zu lesen versuchte.
»Oh Mann, Süße, ich hab ja überhaupt nichts mitgekriegt.«
»Und was mich jetzt total fertigmacht …«, stammelte ich, während ich ihr nervös meine Hand entzog. »Wenn er derjenige war, der Richtige für mich, mein Seelenverwandter – es fühlte sich nämlich so an –, dann hab ich’s vergeigt. Er ist weg und ich werde mich immer fragen, was gewesen wäre, wenn …«
»Mensch, Val, dich hat’s ja echt erwischt.« Charlie machte ein entsetztes Gesicht.
»Hättest du mich nicht aus dem Zug gezerrt, hätten wir hier nicht rausgemusst …«, sinnierte ich weiter, traurig den Betonboden unter mir anstarrend.
Sie zuckte zusammen und verzog schuldbewusst den Mund. »Oh scheiße, hab ich’s vermasselt?«, zischte sie durch die Zähne. »Sorry. Ich wusste es doch nicht. Warum hast du nicht irgendwas gesagt?«
»Ich konnte nicht.« Ich schüttelte meinen geneigten Kopf. Enttäuschung und Wut stritten sich um die Vorherrschaft.
»Scheiß auf die Station«, sagte Charlie grimmig. »Ich wäre mit dir stundenlang U-Bahn gefahren, wenn ich es geahnt hätte. Wirklich, das tut mir so unendlich leid.« Tröstend berührte sie meine Schulter und suchte meinen Blick. »Komm her«, sagte sie, schlang ihre Arme um mich und drückte mich fest an sich.
Das war jetzt der Moment, entweder loszuheulen wie ein Schlosshund oder stark zu sein und es herunterzuschlucken. Normalerweise wäre Losheulen meine Wahl gewesen, aber meine Traurigkeit hatte eine ungewohnte Dimension erreicht, die nur noch eine hoffnungslose Leere hinterließ.
Ich bemerkte die starrenden Blicke der zur Bahn eilenden Menschen und löste mich sanft von Charlie.
»Du bist mir bitte nicht böse, oder?« Sie war immer noch bestürzt.
Mein Verstand sagte mir, dass ich mich zwingen sollte, loszulassen, auch wenn mein Herz dagegen anschrie. Es war gelaufen. Mit einem langen Atemzug sog ich die Luft tief durch die Nase ein, um sie mit einem Seufzer wieder auszustoßen. Natürlich war es nicht fair, ihr das Gefühl zu geben, schuld zu sein. Hätte ich ihr doch bloß einen kleinen Hinweis gegeben. Aber wie, als erstarrte Marmorsäule? Mühsam rang ich mir ein kleines Lächeln ab.
»Nein, ich bin dir nicht böse. Ich bin auf mich sauer. Ich hab mich total bescheuert verhalten.« Ich schüttelte wieder den Kopf und biss die Zähne aufeinander, bis sie fast knirschten. »Er war unglaublich. Wie er mich angesehen hat!« Eine Gänsehaut rieselte über meine Arme. »Ich hätte ihn so wahnsinnig gern kennengelernt. Obwohl er mir die wackeligsten Beine meines Lebens beschert hat … oder gerade deshalb.« Ich stöhnte laut auf. »Und es macht mich völlig fertig, dass er jetzt weg ist, unerreichbar.« Die Machtlosigkeit war unerträglich. »Es ist so gemein. Wäre ich ihm gar nicht begegnet, hätte ich jetzt nicht das Gefühl, etwas verloren zu haben. Ach, Charlie, er sah unglaublich aus. Das allererste Mal gefällt mir ein Junge zu hundert Prozent und dann löst er sich wieder in Luft auf.« Meine Stimme überschlug sich fast.
Charlie stand mit offenem Mund vor mir. Mich selbst verblüffte diese emotionale Entladung allerdings am meisten.