Kitabı oku: «Sturmzeit auf Island», sayfa 4
KAPITEL 8
Elin, Konstanz 2017
Elin verlässt als Letzte das Antiquitätengeschäft und schließt die Tür hinter sich ab. Es hat zu regnen begonnen. Ein leichter, freundlicher Sommerregen, der die drückende Hitze wegspült. Elin nimmt einen tiefen Atemzug. Sie ist froh über die Abkühlung. Zum Glück befindet sich ihr Geschäft in der Konstanzer Altstadt. Die gewölbeartigen Räume sind im Sommer angenehm kühl.
Nachdenklich gestimmt, schlendert sie unter ihrem großen Sonnenblumenschirm durch die alten Gassen der Niederburg. Es herrscht viel Betrieb. Sommergäste, Geschäftsleute und Einkaufende bevölkern die Altstadt. Vom nahen Münster sind sieben Schläge der Turmuhr zu hören.
Wie es Julia wohl geht? Ob ihr Island gefällt?
Heute Abend wird sie mit dem Niederschreiben ihrer Geschichte beginnen. Sie hat sich in der Mittagspause ein Heft mit gemustertem Cover gekauft, dazu einen leuchtend roten Kugelschreiber.
„Elin, schön, dass du wieder da bist. Hast du viel Kundschaft gehabt.“ Michael nimmt seine Frau liebevoll in die Arme.
„Stell dir vor, ich habe das Viktorianische Teeservice und den roten Samtsessel verkauft“, platzt sie freudig heraus.
„Wolltest du ihn nicht für dein Atelier?“
Sie nickt. „Bevor er ein Ladenhüter geworden wäre, hätte ich ihn selbst genommen, aber so ist es natürlich besser. Und ich habe einen super Preis erzielt.“
Elin liebt ihren Beruf als Antiquitätenhändlerin und die damit verbundenen Reisen. Sie vermitteln ihr ein Gefühl von Freiheit und Selbständigkeit. Noch dazu läuft der Laden gut. Wenn sie unterwegs ist, hält Karol, ihre Freundin und Partnerin, die Stellung. Sie liebt das Verkaufen und Beraten, während Elin ein sehr gutes Händchen dafür hat, kostbare und teilweise ausgefallene Stücke bei Auktionen, Wohnungsauflösungen und Flohmärkten aufzuspüren.
„Hast du Lust zum Italiener zu gehen?“, fragt Michael hoffnungsvoll und folgt seiner Frau ins Wohnzimmer. „Eine große Pizza mit Meeresfrüchten, ein Glas Rotwein und zum Dessert ein Tiramisu“, schwelgt er und streicht sich lächelnd über den kleinen Bauchansatz. „Beeil dich. Ich habe Hunger.“
„Das hört man. Ich ziehe mich nur kurz um, dann können wir gehen“, meint Elin lachend.
Im Schlafzimmer fällt ihr Blick auf ihr Smartphone, das auf der Kommode liegt. Ach, hier ist es!
Zwei neue Nachrichten von Julia. Die erste erfüllt sie mit Erleichterung. Sie freut sich, dass ihre Tochter sich in Reykjavik wohlfühlt.
Die zweite WhatsApp jagt ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunter. Sie hat geahnt, dass die Schatten der Vergangenheit nicht vor Julia Halt machen würden. In einem Café in Reykjavik. Das kann nur ihre Schwester Kristin gewesen sein. Aber immer noch dieser Hass, nach all den Jahren?
Ihr ist plötzlich kalt und die Lust auf einen Besuch beim Italiener gründlich vergangen. Im Bad blickt ihr eine bleiche Elin aus dem Spiegel entgegen. Die grünen Augen hell und ohne Glanz.
Langsam geht sie die Treppe hinunter. Der Elan und die Freude von vorhin sind wie von einer Windböe erfasst und weggeweht. Sie findet Michael im Gartenzimmer.
Er steht in der weit geöffneten Tür und blickt in den Garten, der gierig die Regentropfen aufsaugt. Er scheint so in Gedanken versunken zu sein, dass er auf Elins Kommen nicht reagiert.
Als sie ihn so stehen sieht mit hängenden Schultern und leicht gebeugtem Kopf, erschrickt sie. Er wirkt so traurig und einsam.
„Schatz, was ist mit dir?“ Sie tritt hinter ihn und umfasst ihn mit beiden Armen.
„Ach, ich weiß auch nicht. Stress mit dem neuen Bauherrn. Vielleicht sollte ich langsam an die Rente denken und das Architekturbüro an David übergeben“, sagt er leise.
„Vielleicht ist das gar keine so schlechte Idee.“ Elin streichelt ihm sanft über den Rücken. „Lass uns daheimbleiben. Ich richte uns ein paar Brote und du öffnest eine Flasche Wein. Ich habe sowieso keinen großen Hunger mehr.“
Michael dreht sich zu ihr um. „Was ist los?“ Missmut schwingt in seiner Stimme. „Ich dachte, wir gehen zum Italiener?“
„Ich mache mir Sorgen um Julia. Sie hatte in einem Café in Reykjavik eine sehr unschöne Begegnung mit einer Frau. Ihrer Beschreibung nach könnte es meine Stiefschwester Kristin gewesen sein.“ Kaum ausgesprochen, könnte sie sich auf die Zunge beißen. Unsicher blickt sie ihren Mann an und dreht nervös an ihrem Zopf.
„Deine Stiefschwester? Ich dachte, du hättest keine Familie mehr.“
„Ich habe eine Halbschwester und zwei Stiefgeschwister. Ob meine Mutter und mein Stiefvater noch leben, weiß ich nicht“, flüstert Elin.
„Ich fasse es nicht! Wir sind nun schon so lange verheiratet und du hast mich bis jetzt im Glauben gelassen, dass es auf Island keine Verwandten mehr gibt, dass deine Familie gestorben ist.“ Michael blickt sie ungläubig an. „Du hast mich belogen, die ganze Zeit. Hast mich nie an deinem Leben teilhaben lassen. Immer Schweigen und Geheimnisse. Warum Elin? Warum nur? Ich bin schließlich dein Mann.“ Aufgebracht läuft er mit großen Schritten im Zimmer hin und her. „Das kann einfach nicht wahr sein!“, grollt er.
„Es tut mir leid. Es ist nicht direkt gelogen. Für mich sind sie tatsächlich gestorben, als ich die Insel verlassen habe“, rechtfertigt sie sich leise.
„Das ist doch krank! Man kann nicht einfach seine ganze Familie sterben lassen! Das hat sich auf unser ganzes Leben ausgewirkt. Immer deine Stimmungen, deine Alpträume. Glaubst du, das war und ist für mich einfach? Trösten, ohne zu wissen warum? Ich habe immer gehofft, dass du einmal zu mir kommen und mich ins Vertrauen ziehen würdest. Ich wollte dich nicht bedrängen. Mittlerweile frage ich mich allerdings, auf was wir unsere Ehe überhaupt aufgebaut haben. Vielleicht auf isländischem Lavagestein?“ Michael schüttelt den Kopf und stürmt in den Garten hinaus.
„Michael, bitte! So ist das nicht!“, ruft sie in die Dunkelheit. „Bitte komm wieder rein! Du wirst ja ganz nass. Michael!?“ Elin tritt auf die Terrasse. Das Gartentor steht weit offen. Sie eilt hinter ihm her. Er läuft wie gehetzt den Uferweg entlang.
„Michael, warte auf mich!“, ruft sie und beginnt zu rennen. Ihr Herz klopft wie wild, Panik erfasst sie. Immer wieder verschluckt ihn die Dunkelheit.
„Michael“, schreit sie, „Michael!“ Tränen laufen ihr übers Gesicht und mischen sich mit dem Regen, der kontinuierlich auf sie niederprasselt. Ihr Zopf schlägt schwer hin und her, der Pullover klebt mittlerweile auf ihrer Haut und die Turnschuhe geben bei jedem Schritt klatschende Geräusche von sich.
In jener Nacht hatte es auch geregnet. In einem anderen Leben. Auf Island.
Endlich dreht er sich um.
„Michael. Ich liebe dich!“ Zitternd bleibt Elin vor ihm stehen und streckt die Hand nach ihm aus. Die Distanz zwischen ihnen ist riesengroß.
Elin weicht erschrocken zurück. „Michael, bitte. Mach jetzt nicht alles kaputt“, fleht sie. „Ich werde dir alles erzählen. Es wird keine Geheimnisse mehr geben, das verspreche ich dir.“ Mittlerweile schlottern ihr die Knie. Sie friert bis ins Mark.
„Lass uns gehen“, brummt Michael und nimmt ihren Arm. Schweigend gehen sie nebeneinander her. Kleine Wellen rollen mit einem Plätschern ans dunkle Ufer. Von der Schweizer Seite leuchten die Lichter herüber und zaubern helle Streifen auf den unruhigen See. Mond und Sterne haben sich hinter Wolken versteckt.
Zuhause angekommen, in trockenen Kleidern, treffen sie sich im Wohnzimmer. Elin kuschelt sich mit einer Wolldecke auf die Couch und trinkt in kleinen Schlucken eine heiße Schokolade. Michael sitzt ihr gegenüber in dem großen Ohrensessel, ein Glas Rotwein vor sich. Im Kamin verzehrt ein Feuer knackend die Holzscheite. Tanzende Schatten an der gegenüberliegenden Wand und eine wohlige Wärme zaubern eine heimelige Atmosphäre, die jedoch von den beiden Anwesenden nicht wahrgenommen wird. Ihre Blicke treffen sich. In ihnen spiegeln sich Unsicherheit und Angst, sowie Verletztheit und Ärger.
Elin räuspert sich. „Wo soll ich beginnen? Am besten in meiner Kindheit.“ Sie schließt die Augen. Und mit einem Mal ist es ganz einfach. Ihre Angst verschwindet und die kleine Elin betritt den Raum. Sie nimmt sie mit auf die Reise in ihre Kindheit.
KAPITEL 9
Elin Akureyri 1964
Die dreijährige Elin spielt mit ihrer Puppe und mit ihrem kleinen Holzpferd im Garten. Sie genießt die warmen Sonnenstrahlen, die der kurze Sommer heute schenkt. Die Nächte werden nicht dunkel, um das kleine Holzhaus blühen die Gräser und neigen ihre weißen Köpfchen im lauen Wind. Überall violette, gelbe und weiße Farbtupfer auf den grün bemoosten Lavasteinen. Weiter weg das Blöken der Schafe und Lämmer, die ausgelassen über die frischen Moos- und Grashügel springen und sich am saftigen Grün sattfressen.
Steinunn tritt aus der niedrigen Haustür. Auch sie genießt die Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht. Sie seufzt. Manchmal wünscht sie sich in den Süden. Irgendwo hin, wo die Winter nicht so hart, nicht so ewig lang, dunkel und kalt sind.
In der Stadtbücherei hat sie ein Buch über Italien mit nachhause genommen und es zusammen mit ihrer Tochter Elin angeschaut. Sonnengeflutete Plätze, warmes, blaues Meer, Blumen in allen Farben, dazu Zitronenbäume und Zypressen. Sie seufzt noch einmal, als sie an die Bilder denkt. Ihr Traum. Einmal im Leben dorthin. Sie schüttelt den Kopf. Schluss jetzt mit der Träumerei. Immerhin hat sie ein Dach über dem Kopf, wenngleich ein undichtes, und eine Arbeit, die es ihr und ihrer Tochter ermöglicht, unabhängig zu leben. Zwar nicht im Wohlstand, doch sie hungern nicht und das ist schon viel, sehr viel wert.
Sie blickt zu ihrer kleinen Tochter hinüber. Ihre Haare leuchten in der Sonne feuerrot. Das grüne, selbstgenähte Kleidchen ist schon bald wieder zu klein. Wie schnell die Zeit vergeht, denkt sie ein bisschen wehmütig. Noch vor kurzem war sie ihr Baby, morgen feiert sie bereits ihren vierten Geburtstag.
„Elin, komm zu mir. Ich muss dir was sagen“, ruft sie ihre Tochter.
Elin kommt freudig zu ihr gelaufen, wie immer mit einem Lächeln auf dem zarten Gesicht, das ihre grünen Augen wie Sterne strahlen lässt.
Steinunn fängt sie auf und dreht sich mit ihr im Kreis, bis Elin laut jauchzt.
„Du bekommst einen neuen Papa, eine ältere Schwester und ein ganz kleines Brüderchen. Im Herbst ziehen wir zu ihnen. Es wird dir dort gefallen. Es gibt Schafe, Kühe und Pferde. Du wirst sehen, es ist sehr schön dort.“
Sie hofft, dass sie mit Magnus die richtige Wahl getroffen hat. Sie braucht einen Mann und einen Vater für Elin. Allein kommt sie kaum mehr über die Runden. Als Hebamme hat sie keine regelmäßigen Einnahmen, auch die kunstvoll gestrickten Wollpullover und Socken, die sie in der Stadt verkauft, bringen nicht genügend Geld ein. Das karge, regelmäßige Einkommen muss sie sich mit Waschen und Bügeln verdienen. Sie wünscht sich mehr, vor allem für Elin. Nach der Schule ein Studium, vielleicht sogar im Ausland. Das alles ging ihr durch den Kopf, als Magnus Olafson ihr einen Heiratsantrag machte. Ein liebenswürdiger Mann, der sich in ihre roten Haare verliebt hat und der ihr und ihrem Kind ein Zuhause schenken möchte.
„Eine neue Schwester und ein Brüderchen?“ Elin tanzt vor Freude und hüpft von einem Bein auf das andere. „Oh ja und viele Tiere. Darf ich die alle streicheln?“
Die Mutter nickt und streicht ihr die widerspenstigen Löckchen aus dem verschwitzten Gesicht.
Elin hüpft zurück zu ihrer Puppe. „Ich bekomm ein Brüderchen. Ich bekomm ein Schwesterchen“, singt sie.
Steinunn ist beruhigt. Ihr kleines Sonnenkind wird sich sicher sehr schnell in die neue Familie einfügen.
Staunend steht die kleine Elin neben ihrer Mutter vor ihrem neuen Zuhause. Es ist so groß, dass ihr kleines Holzhaus viermal hineinpassen würde. Verzagt greift sie nach der Hand ihrer Mutter. Gemeinsam treten sie durch die Holztür.
Vor dem neuen Vater ist ihr ein bisschen bange. Er ist groß und lacht laut. Aber er ist nett, kneift sie in die Wange und streicht ihr über das rote Köpfchen. Elin ist in einem Frauenhaushalt aufgewachsen, daher muss sie sich erst an den großen Mann gewöhnen. Sie vermisst die Oma, die vor einem Jahr gestorben ist und die mit Mama und ihr in dem schiefen Haus wohnte. Aber sie hat der Mama versprochen, eine brave Tochter zu sein und alle im Haus liebzuhaben und das möchte sie auch.
Die erste Begegnung findet in der Küche statt. Magnus öffnet die Tür und lässt die beiden eintreten.
Um einen großen Holztisch sitzen die Knechte und die Magd, die sich sogleich erheben und mit neugierigen Blicken die neue Frau und das kleine Mädchen mustern. Sie haben sie vor einem Jahr schon einmal gesehen, als Steinunn als Hebamme der verstorbenen Bäuerin beistand. Dass sie jetzt allerdings als Hausfrau hier einzieht, ist für alle ein wenig fragwürdig. Dazu das fremdartige Aussehen. Beide diese leuchtend roten Haare, die grünen Augen und die zarten Gesichter. Elfenfrau und Trollenkind hat die alte Saga gesagt und die muss es ja wissen.
Elin spürt kein Wohlwollen, keine Wärme, als sie brav ihren Knicks vor der alten Frau macht, die vor dem Herdfeuer sitzt. Auch die jüngere Frau, die am Herd steht und sich langsam umdreht, hat kein Lächeln übrig. Elin weicht erschrocken zurück und versteckt sich hinter dem Rock der Mutter. „Ich will zum Brüderchen und zum Schwesterchen“, bettelt sie leise und versucht, ihre Mutter aus dieser eisigen Atmosphäre zu ziehen.
Da öffnet sich die Tür und Magnus schiebt ein Mädchen in den Raum. Elin linst neugierig hinter dem Rücken der Mutter vor. Das muss die neue Schwester sein. Ein offenes Lächeln überzieht ihr kleines Gesicht.
„Schau Kristin, das ist Elin, deine neue Schwester und das ist deine neue Mutter.“
Das Mädchen wirft ihnen einen bösen Blick zu. „Ich will keine neue Mutter und keine neue Schwester“, ruft sie, dreht sich um und stürmt mit lauten Schritten die Treppe hinauf.
Elin, die ein paar Schritte auf das Mädchen zugegangen ist, greift schnell wieder nach der Hand der Mutter und steckt den Kopf in ihren Rock. Unsichtbar werden, nicht mehr hier sein, das wünscht sie sich und kämpft mit den Tränen. Auf Elins Sonnenwesen legen sich erste Schatten.
Elin fährt sich über die Augen. Wie lebendig und überaus deutlich die Bilder der Vergangenheit waren.
Michael blickt gedankenverloren in die Flammen.
„Können wir morgen weiterreden?“, fragt sie leise. „Ich fühle mich so unendlich müde.“
Michael steht auf und setzt sich vor Elin auf den Teppich. „Es tut mir leid, dass ich so aufgebracht war. Doch ich trage die Enttäuschung schon so lange mit mir herum. Jetzt hat sie sich halt einen Ausgang gesucht. Vielleicht ist es auch gut so, denn jetzt können wir endlich alles Trennende aus dem Weg räumen.“ Er berührt leicht ihre Hände. „Du bist ja ganz heiß. Hast du Fieber?“ Er fühlt ihre Stirn. „Du hast tatsächlich Fieber.“
„Liebst du mich noch?“, fragt sie leise. Ihre Augen sind riesengroß und dunkel.
„Natürlich, was denkst du denn“, erwidert er betroffen über die Verzweiflung, die mitschwingt.
„Dann ist es ja gut.“ Sie schließt die Augen. Michael trägt sie die Treppe hinauf, legt sie behutsam aufs Bett und deckt sie zu.
Draußen tobt der Sturm um das kleine Holzhaus. Drückt und presst sich mit sirrendem Geheul dagegen. Er rüttelt an den Fensterläden, als wolle er hereinkommen, um ihr das mühsam aufgebaute Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu rauben. Elin kauert sich tiefer in den breiten Ohrensessel und zieht sich die Wolldecke bis ans Kinn.
Sie ist ihnen ausgeliefert. Sie kann nichts anderes tun, als zu warten. Sie werden kommen, das spürte sie bereits am Morgen, als der Schnee mit harmlosen Flocken das karge, braune Vulkanland mit einem funkelnden, weißen Teppich bedeckte.
Plötzlich flackert das kleine Gaslicht, gebärdet sich in seinem Glasgehäuse wie wild, zuckt noch ein paarmal wie im Todeskampf, dann gibt es auf und erlischt. Dunkelheit erfüllt den kleinen Raum. Elin schreit leise auf, doch sie bleibt wie gelähmt sitzen und harrt der Dinge, die nun kommen, zwangsläufig kommen müssen.
Der Wind nimmt an Kraft zu, drückt so stark gegen den dünnen Holzladen, dass dieser mit Ächzen und Knarzen nachgibt und bricht. Holzteile bohren sich durch das Fenster. Glas klirrt und gibt den Weg frei für die eisigen Böen mit ihrer Schneelast.
In kürzester Zeit sind der braune Holzfußboden und der runde, fadenscheinige Teppich von einer Puderzuckerschicht bestäubt.
Das Herdfeuer gibt nun auch den Kampf auf. Kälte breitet sich aus, kriecht unter Elins Wolldecke, hüllt sie ein.
Plötzlich liegt ein Singen in der Luft. Hohe Töne, schrill schwingend, dringen durch das offene Fenster zu ihr herein.
Elin zieht die Beine auf den Sessel und stülpt sich die Decke über den Kopf.
Die Elfen aus Hafnarfjördur. Jetzt ist die Zeit der Abrechnung gekommen!
Elin schreit gellend auf.
Michael fährt aus dem Schlaf hoch, tastet nach der Lampe und knipst das Licht an.
Neben ihm wirft sich Elin von einer Seite auf die andere. Ihre Hände schlagen auf die Bettdecke, deren untere Hälfte bereits auf dem Boden liegt. Ihr rotes Haar klebt feucht an der schweißnassen Stirn und den Schläfen.
„Elin, wach auf!“ Michael schüttelt sie behutsam. Wie heiß sie ist. „Elin, komm schon. Schatz wach auf!“ Er schüttelt sie noch einmal. Endlich schlägt sie die Augen auf. Sie hat Mühe, ihren unsteten Blick auf ihren Mann zu richten.
Michael reicht ihr ein Glas Wasser und kühlt ihre heiße Stirn mit einem kalten Waschlappen. Besorgt schaut er sie an. „Elin, es ist alles gut. Du hattest nur einen bösen Traum.“ Er streicht ihr eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht.
Elin blickt ihn an, möchte etwas sagen, doch dazu fehlt ihr die Kraft. Kurz darauf fällt sie wieder in einen unruhigen Schlaf.
Michael löscht seufzend das Licht. Die Reise in die Vergangenheit wird nicht einfach werden.
KAPITEL 10
Julia
Julia wird vom Rauschen des Regens geweckt. Der Blick aus dem Fenster verheißt nichts Gutes. Tiefhängende, graue Wolken, die den Himmel bedecken und sich bis zum Horizont ausdehnen.
Ein eigenartiges Land. So karg und naturgewaltig. Wie ihre Mutter hier wohl gelebt hat? Ob Island ihre Heimat werden könnte? Bis jetzt hat sie ihr wahres Zuhause noch nicht gefunden. Ein Job nach dem anderen, von einer Stadt in die nächste. Nirgends hält sie es lange aus. Dasselbe mit ihren Beziehungen. Julia seufzt unwillkürlich auf. Der Tag der Trennung von Rainer schiebt sich in ihr Gedächtnis.
Sie war gerade dabei, ihre Sachen in die Reisetasche zu stopfen, als sie eine Bewegung an der Schlafzimmertür wahrnahm. Rainer schien sie bereits seit einer Weile zu beobachten. Sie hatte ihn nicht kommen hören, dachte er sei noch unterwegs.
„Du gehst tatsächlich?“, fragte er. Seine Stimme klang traurig. „Warum nur? Ich verstehe es nicht. Wir hatten es doch schön miteinander. Habe ich irgendwas falsch gemacht?“
Sie schüttelte den Kopf. Der Grund lag nicht bei ihm, sondern bei ihr. Aber wie hätte sie ihm die plötzlich auftretende Unruhe, die sie jedes Mal nach einer Weile erfasste und immer wieder zum Weitergehen zwang, erklären sollen. Sie verstand es ja selbst nicht.
Sie war vor zwei Jahren nach Zürich gezogen. Hatte eine kleine, einfache Wohnung bezogen und einen neuen Job als Bauzeichnerin in einem renommierten Architekturbüro angenommen. Dieses Mal würde sie bleiben, schwor sie sich. Jetzt war endlich die Zeit gekommen, sich niederzulassen. Ein paar Wochen später lernte sie in einer Jazzkneipe Rainer kennen. Er war fünf Jahre älter als sie, ledig und auf der Suche nach einer festen Beziehung. Es hatte noch am selben Abend zwischen ihnen gefunkt. Sie war glücklich mit ihm, bis Rainer vor vier Wochen anfing, von Heirat und Kindern zu sprechen und ihr einen hochkarätigen Verlobungsring an den Finger steckte. Zuerst freute sie sich, doch es dauerte keine zwei Tage, da wurde sie wieder von dieser diffusen Unruhe erfasst. Sie konnte nicht bleiben, musste fort.
„Was willst du denn noch mehr?“, wollte ihre Mutter wissen und schüttelte den Kopf, nichtverstehend, warum Julia zögerte, den Antrag anzunehmen. „Ihr seid jetzt seit bald zwei Jahren zusammen, da weiß man doch, ob man sich liebt und zusammengehört.“
Julia wusste es jedoch nicht, das heißt, sie war sich zu diesem Zeitpunkt sicher, dass es für sie höchste Zeit wurde, weiterzuziehen.
Sie kündigte ihren Job, packte ihre Siebensachen in drei große Reisetaschen und fünf Kartons und flüchtete an den Bodensee. Ihr Vater besorgte ihr eine möblierte Zweizimmerwohnung im Dachgeschoss eines Dreifamilienhauses und bot ihr einen Job in seinem Architekturbüro an.
Julia spürt bei dem Gedanken an den Job und die neue Wohnung einen Druck auf der Brust. Sie kann sich nicht vorstellen, im Büro ihres Vaters zu arbeiten und die kleine Wohnung beengt sie. Es muss etwas anderes kommen. Es muss einfach!
Julia zwirbelt an ihrem Zopf. Warum fällt es ihr nur so schwer, endlich sesshaft zu werden? Eine gemütliche Wohnung mit eigenen Möbeln. Warum ist sie immer auf dem Sprung?
Sie schluckt und wischt sich die Tränen aus den Augen. Wovor laufe ich denn immer weg?
Als ihr Blick erneut auf den Wecker fällt, stellt sie mit Erschrecken fest, dass die Frühstückszeit fast vorbei ist. Sie hat zu viel Zeit mit Grübeln verbracht.
Nach einer erfrischenden Dusche, die die restlichen, schweren Gedanken mit in den Abfluss spült, fühlt sie sich für den heutigen Tag gewappnet.
Der Speisesaal ist fast leer. Krümel auf der Tischdecke und benutztes Geschirr zeugen davon, dass ihre Sitznachbarn bereits mit dem Frühstück fertig sind. Hastig kippt Julia ihren Kaffee hinunter, schnappt zwei Brötchen und steckt sie in den Rucksack.
Kurz darauf sitzt sie im Bus, der vor dem Hotel auf die Gruppe wartet und sie nach Pingvellir bringt.
Julias Blick schweift über begrünte Berghänge, die manchmal sanft, fast fließend die Ebene berühren, dann wieder schroff auseinanderklaffen und den Weg freigeben für glasklare Wasserfälle.
Ein starker Wind peitscht den Regen an die Busscheiben. Die Aussicht bald auszusteigen, ist nicht beflügelnd. Julia würde am liebsten sitzen bleiben und vom Bus aus die Landschaft betrachten.
Doch als der Bus hält, hüllt sie sich in ihre Regenkleidung und macht sich tapfer auf den Weg, der gesäumt von bizarren Lavafelsen trotz der Nässe sehr reizvoll ist. Nach und nach lichtet sich der dichte Regenvorhang, die Tropfen werden weniger, bis nur noch ein leichter Niesel vom Wind über das weite, grüne Tal von Pingvellir getragen wird.
„Ist das nicht traumhaft?“, fragt Lisa.
Julia nickt und lässt ihren Blick über das Land wandern. Moos, Gräser, dazwischen gelbe und pinkfarbene Blütenköpfe, die sich im Windtanz hin und her biegen. Dazwischen schroff aufgetürmte Felsbrocken und ein Fluss, der sich durch das Tal schlängelt. Mitten im Grün und im Lavagestein eine Ansammlung weißer Häuser inmitten einer Gruppe von Bäumen. Julia erinnert das Bild an eine Oase in der Wüste. Ein bisschen Zivilisation inmitten mächtiger Natur.
„Schau mal da drüben. Dieser Lavahügel sieht aus wie eine Elfenburg“, stellt Lisa fest und zeigt auf eine aufgetürmte Steinformation.
Julia fährt ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die rauen, kantigen Steinhügel betrachtet. Ob man die Elfen spüren kann, fragt sie sich. Sie lässt ihre Hand vorsichtig über die Steine gleiten. Kalt, hart, glitschig, mit weißen Flechten und feuchtem Moos bewachsen. Plötzlich meint sie, Wärme und ein sanftes Streicheln zu spüren. Erschrocken zieht sie die Hand weg, tritt hastig zurück, stolpert über einen Felsbrocken und landet unsanft auf ihrem Hinterteil.
„Julia, hast du dir weh getan?“ Lisa stürzt zu ihr, auch die Reiseleiterin nähert sich mit besorgtem Blick.
„Nein, nein. Es ist nichts passiert“, murmelt Julia und ergreift Lisas Hand, um sich aufhelfen zu lassen. Ärgerlich wischt sie über ihre Jeans und kämpft mit dem Regencape, das wie ein aufgeblähtes Segel um sie herumflattert und ihr die Sicht raubt.
„Deine Hose ist nicht dreckig, nur ein bisschen feucht.“ Lisa hilft ihr, das Plastikungetüm zu bändigen, indem sie es auf beiden Seiten mit Klammern an Julias Anorak befestigt.
Als sie weitergehen, riskiert Julia einen kurzen Blick zurück. War die Berührung echt oder nur ein Spiel ihrer Fantasie?
Plötzlich kommt ihr der Traum wieder in den Sinn. Ob das tatsächlich Elfen waren? Aber wie würde das zusammenpassen? Einmal diese Ablehnung und jetzt diese fast zärtliche Berührung? Ihr Herz schlägt unruhig. Schnell schiebt sie die Gedanken zur Seite. Weg mit diesen Fantasiegebilden.
„Die Isländer nennen sie die Unsichtbaren“, erklärt Lisa und schießt ein Foto von Julia, die mit weit geöffneten Augen in die Ferne blickt. „He Julia, wach auf!“
Kurz darauf bringt sie der Bus zum Gullfoss.
Der goldene Wasserfall. Julia erklimmt vorsichtig die glitschigen Felsen und blickt von der Aussichtsplattform in das weiße, laut rauschende und mächtige Getöse. Der Wind treibt weiße Gischtwolken über die Felsen nach oben, durchsichtige Wassergeister, die sich nach einem kurzen Tanz in der Luft rasch auflösen. Ein immerwährender Kreislauf von Entstehen und Vergehen.
Julia starrt wie gebannt auf das Naturschauspiel.
„Es ist traumhaft“, ruft Lisa ihr zu. Julia schrickt aus ihrer Betrachtung und nickt fast andächtig.
Das nächste Ziel ist das Geysirgebiet im Tal Haukadalur. Als sie den Strockur erreichen, reihen sich Julia und Lisa in den Kreis wartender Touristen ein und starren wie alle anderen erwartungsvoll auf das blubbernde Wasserloch. Dann mit einem Mal eine heftige Eruption. Der Geysir schleudert seine zwanzig Meter hohe Wasser- und Dampfsäule zischend in den Himmel. Riesen mit weißen Kleidern recken sich in die Höhe.
Ein kurzer Spuk, der sich alle fünfzehn Minuten wiederholt.
Nach einem ereignisreichen Tag ist Julia froh, sich in ihr Zimmer zurückziehen zu können. Lisas Einladung, einen Spaziergang zu unternehmen, schlägt sie aus. Sie ist noch zu erfüllt von den Tageseindrücken und möchte sie in Ruhe auf sich wirken lassen. Heute hat sie einen ersten, kleinen Einblick in das raue Wesen Islands bekommen.
Sie schiebt einen Sessel ans geöffnete Fenster und blickt in die strahlende Sonne. Nachts braucht man auf Island die Sonnenbrille. Das stimmt tatsächlich. Julia staunt, als ihr Blick auf den Wecker fällt. Dreiundzwanzig Uhr und immer noch so hell.
Wo ihre Mutter wohl aufgewachsen ist? Und wie sie hier gelebt hat? Fragen über Fragen gehen ihr durch den Kopf. Es wäre schön, wenn sie jetzt hier wäre, wenn sie mit ihr diese faszinierenden Eindrücke teilen könnte.
Lautes Klopfen reißt sie aus ihren Gedanken. Wer will denn jetzt noch was von mir, fragt sie sich erstaunt.
„Bist du noch wach?“, ertönt Lisas Stimme.
Was will die denn noch? Unwillig öffnet Julia die Tür einen kleinen Spalt.
„Entschuldige die Störung, aber ich muss dir unbedingt was zeigen.“ Sie wedelt mit einem Stück Papier vor Julias Nase herum.
Julia versucht, sich ihren Unmut nicht anmerken zu lassen.
„Schau mal, das hing am Hoteleingang.“ Sie reicht Julia das Blatt. Diese wirft einen gelangweilten Blick darauf und erstarrt.
„Das bist doch du. Oder irre ich mich?“ Lisa blickt ihr Gegenüber neugierig an.
Julia starrt auf das Bild. Ein altes Foto von ihrer Mutter. Die Ähnlichkeit ist enorm.
Darunter steht in englischer Sprache:
Wenn Sie die Tochter von Elin Olafson sind, dann melden Sie sich bitte bei uns. Ihre Verwandten würden sich sehr freuen, Sie zu treffen. Carl und Leifur Oleson, Hafnarfjördur.
Darunter zwei Handynummern.
Julia schießt die Hitze ins Gesicht. Ihr Herz klopft aufgeregt. Ihre Gedanken rasen mit Vollgas durch ihren Kopf. Es gibt also doch Verwandte!
„Und, bist du gemeint?“, fragt Lisa gespannt.
Julia nickt. „Danke, dass du es mir gezeigt hast. Dann gute Nacht.“ Julia schließt hastig die Tür hinter sich.
„Ja dann schlaf mal gut.“ Lisa klingt enttäuscht.
Die Begegnung in Reykjavik fällt ihr wieder ein. Ist sie eine Verwandte? Und wer sind Leifur und Carl?
Julia lässt sich aufs Bett fallen und kuschelt sich unter die Bettdecke. Ihr ist mit einem Mal kalt. Was soll sie tun? Eine dieser Telefonnummern anrufen? Und was dann?
Sie nimmt ihr Smartphone und ruft ihre Mutter an. Sie wird schließlich am besten wissen, was zu tun ist. Statt Elin tönt Michaels sanfte Stimme an ihr Ohr.
„Hallo Paps. Ich muss unbedingt Mam sprechen.“
„Ist was passiert?“, fragt Michael besorgt, „du klingst so aufgeregt.“
„Ja, stell dir vor, Mams Familie sucht mich mit einem Steckbrief“, sagt sie und versucht, das Ganze ins Lächerliche zu ziehen.
„Wie bitte?“
„Irgendjemand hat mich wohl gesehen, meine Ähnlichkeit mit Mam festgestellt und nun haben sie einen Flyer mit einem Jugendbild von Mam an die Hoteltür gehängt und bitten, dass ich sie anrufe. Weißt du, ob sie Verwandte hat?“
„Ja, sie hat noch Geschwister und vielleicht lebt sogar ihre Mutter noch. Sie hat es mir gestern erzählt.“
Julia schluckt. „Also Tanten und eine Oma und sie hat sie einfach totgeschwiegen? Das ist schon ein dicker Hund! Ich möchte sie sprechen!“
„Das geht leider nicht. Sie hat Fieber und schläft schon.“
„Oh das tut mir leid. Ich wollte sie fragen, was ich jetzt machen soll.“
„Vielleicht ist es eine gute Gelegenheit, endlich deine Familie kennenzulernen und etwas über deinen leiblichen Vater zu erfahren. Lass dich von deinem Gefühl leiten, dann wirst du schon wissen, was für dich richtig ist.“
Julia legt das Handy auf den Nachttisch. Deine Familie, hat Michael gesagt. Das stimmt. Ihre Oma, ihre Tanten, vielleicht sogar Cousins und Cousinen. Je länger sie darüber nachdenkt, desto mehr verspürt sie das Bedürfnis, sie endlich kennenzulernen.
Doch der böse Blick dieser Frau, vielleicht ihrer Tante, schiebt sich vor ihr inneres Auge. Was hat es damit auf sich? Steht sie vielleicht mit einem Mal im Mittelpunkt einer Familienfehde? Was ist damals geschehen? Warum hat ihre Mutter jeglichen Kontakt nach Island abgebrochen? Es müssen schwerwiegende Gründe sein, dass sie bis heute geschwiegen hat. Die Büchse der Pandora. Was verbirgt sich in ihr? Soll sie den Deckel heben?
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