Kitabı oku: «Und die Tage lächeln wieder», sayfa 2

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Kapitel 6

Ich verließ beinahe fluchtartig das Geschäft. Vor der Tür, während ich tief die lauwarme Herbstluft einatmete, spürte ich seinen Blick, den er mir durch das Schaufenster hindurch zuwarf. Ängstlich und unsicher. Komisch, dachte ich und eilte auf die Haupteinkaufstraße zu.

Irgendwie fühlte ich mich mit einem Mal in mir selbst fremd, unreal die Stadt um mich herum, wie von einem anderen Stern.

Irritiert steuerte ich den freien Tisch eines kleinen Cafés an und setzte mich in die wärmende Sonne. Ich brauchte jetzt erst einmal einen Kaffee und vielleicht ein Stückchen Kuchen.

Schrilles Lachen vom Nebentisch, das Schreien eines Säuglings, laute Stimmen und das Hupen eines Autos holten mich aus der merkwürdigen Stimmung heraus. Kurz darauf bekam ich meinen Kaffee und ein Stück Zwetschgenkuchen mit Sahne.

Wieder zurück in der Realität.

Ich nahm das Buch aus dem Rucksack. Vorsichtig öffnete ich es und schlug die erste Seite auf.

Ich fuhr erschrocken zurück. Das Buch schlug zu, glitt mir aus der Hand und rutschte in meinen Schoß. Fast hätte es die Kaffeetasse gestreift.

Mit zitternden Händen nahm ich es wieder in die Hand und schlug die erste Seite auf. Das konnte doch nicht sein!

Für meine liebe Lexa stand dort geschrieben. So hatte mich meine Mutter immer genannt, wenn sie mit mir zufrieden war oder mich, was meistens der Fall war, besonders liebhatte. Lexa, Lexakind, Lexalein.

Mit einem Mal konnte ich ihre Stimme deutlich hören. Sie war einer der wenigen Menschen, der ein singendes Lächeln in seiner Stimme trug.

Mein Herz hüpfte aufgeregt und meine Hände fühlten sich mit einem Mal leicht feucht an. Wie hieß die Autorin? Ich drehte das Buch auf die Vorderseite. Isabella Vargas. Meine Mutter hieß auch Isabella. Zufälle gibt es!

Warum sollte diese peruanische Frau nicht auch eine Lexa kennen? Es gibt Milliarden Menschen, so beruhigte ich mich. Sicher gibt es auch viele Lexas in aller Welt, sogar in Peru.

Es ist dein Buch. Es wurde für dich geschrieben. Unsinn! Quatsch! Mich hatte einfach mein geschriebener Name aus der Fassung gebracht, mehr nicht.

Ich trank einen großen Schluck Kaffee. Heiß, dunkelbraun, mit einem zarten Schokoladengeschmack, nicht zu bitter. Genau wie ich ihn mag. Auch der Kuchen schmeckte hervorragend.

Ich sollte Clemens anrufen, kam mir plötzlich in den Sinn. Ich nahm mein Handy und schaltete es ein. Er hatte schon einige Male versucht, mich anzurufen. Ich wählte seine Nummer.

„Alex, wo steckst du denn? Schon seit Stunden versuche ich, dich zu erreichen“, tönte es mir ärgerlich entgegen. „Ich wollte dir sagen, dass ich heute Nachmittag mit Fred in die Berge fahre. Wir machen morgen eine große Tour. Komme also erst am späten Abend zurück.“

„Wir wollten doch heute Abend zu unserem Italiener gehen. Und der Ausflug morgen?“ Ich konnte es nicht fassen.

„Ich weiß, mein Liebling. Aber morgen soll es ideales Bergwetter geben. Das verstehst du doch und den Ausflug holen wir nach, versprochen.“

„Ja, dann geh halt. Ich wünsch dir einen schönen Tag.“

„Ich wusste, dass du mich verstehst. Also, dann bis Montag in der Kanzlei. Küsschen.“

Bevor ich noch etwas erwidern konnte, war das Telefonat auch schon unterbrochen. Ich blieb enttäuscht zurück. Immer wieder versetzte er mich und erwartete mein Verständnis. Ich hatte es langsam satt.

Ich spürte das Gewicht des Buches auf meinem Schoß. Konrad schien geahnt zu haben, dass ich dieses Wochenende wieder allein verbringen würde. Wie so oft in letzter Zeit.

Die Sonne war inzwischen um eine Häuserecke verschwunden und die Herbstkühle strich an meinen Beinen entlang nach oben. Zeit, sich langsam auf den Heimweg zu machen. Ich trank den Rest Kaffee und steckte mir den letzten Bissen Kuchen in den Mund, zahlte und ging.

Das Buch wog schwer in meinem Rucksack. In der Straßenbahn widerstand ich dem Impuls, mit dem Lesen zu beginnen. Ich wollte keine Zeugen und Beobachter. So schaute ich, ohne große Gedankengänge, aus dem Fenster und ließ Haltestelle um Haltestelle hinter mir zurück.

In meiner Wohnung angekommen, legte ich das Buch ins Wohnzimmer auf den kleinen Beistelltisch neben meinem Ohrensessel. Groß, ausladend, mit bunten Blumen gemustert, füllt der Sessel den größten Teil des Erkers aus. Konrad schenkte mir dieses altmodische Ungetüm, wie es Clemens mit zusammengekniffenen Augen betitelte, zu meinem Einzug. Ich liebe diesen Sessel, das Prunkstück und Herz meiner Wohnung. Rings um ihn herum stapeln sich Bücher von meinem lieben Konrad, die zu lesen sich unbedingt lohnen würde.

Da ich den restlichen Tag allein verbringen würde, ging ich ins Schlafzimmer und zog meine Lieblingshose an. Eine alte, dunkelblaue Trainingshose mit verbeulten Knien. Darüber einen ausgeleierten, roten Baumwollpulli in Größe XL. Dann ließ ich mir eine Tasse Kaffee aus meinem Automaten und kuschelte mich zwischen die Kissen in meinen Lieblingssessel, nahm das Buch zur Hand und schlug es auf.

„Kann auch das Opfer zum Täter werden? Habe auch ich mich schuldig gemacht?“

Mein Herz klopfte. Was für ein merkwürdiger Anfang für einen Roman. Doch genau diese Sätze zogen mich hinein in das Buch, erweckten meine Neugier.

„Doch nun möchte ich mit meiner Lebensgeschichte beginnen oder soll ich es eher als Abrechnung mit meinem Schicksal und Aufarbeitung meiner Schuld bezeichnen? Wie auch immer. Es begann vor fünfundvierzig Jahren. Es war ein heißer Sommertag, der Himmel azurblau, die Sonne strahlte und ich war jung und bis über beide Ohren verliebt.“

Ich las und las.

Kapitel 7

Ein Ruck geht durch meinen Körper. Was ist los?

Ich öffne die Augen und stelle fest, dass ich seitlich in meinem Sitz lehne. Mein Kopf ruht an der Schulter meines Nachbarn. Ein Hauch von Sandelholz und Amber steigt mir in die Nase.

„Ein Luftloch“, erklärt er mir aus unmittelbarer Nähe.

Abrupt setze ich mich gerade hin. Peinlich, ich muss wohl über meiner Erinnerungsreise eingeschlafen sein. Mein Sitznachbar wirft mir einen belustigten Blick zu.

„Entschuldigung. Sie hätten mich wecken müssen.“

„Oh, kein Problem. Einer hübschen Frau leihe ich gerne meine Schulter.“ Er lächelt mir zu und bringt sich ebenfalls in eine andere Sitzposition, weiter weg von mir.

Verstohlen blicke ich auf meine Armbanduhr. Nach Mitternacht. Die meisten Passagiere schlafen, die Helligkeit der Lampen ist reduziert. Das Flüstern einzelner Passagiere, das Greinen eines Babys und leises Schnarchen hinter mir mischen sich mit dem dumpfen Brummen der Motoren.

Ich blicke durch das ovale Fenster. Nichts zu sehen. Keine Lichter, nur die riesige, dunkle Fläche des Ozeans. Ich kuschle mich in meinen breiten Wollschal und stütze mein Gesicht in die Hand.

Nachdenken, nicht schlafen. Ich möchte auf diesem Flug noch einmal alles Revue passieren lassen, was daheim geschehen ist und ich muss mir einen Plan zurechtlegen für die Zeit, wenn ich in Lima bin.

Wie soll ich vorgehen? Ob sie es überhaupt ist? Vielleicht waren meine Reaktion und mein Handeln übereilt? Hysterisch, wie Clemens es ärgerlich nannte.

Ich werde unsicher. Mein Herz holpert und ich merke, wie eine diffuse Angst von mir Besitz ergreifen möchte. Was, wenn ich den Scherbenhaufen daheim umsonst aufgetürmt habe? Ich seufze.

Sofort wendet sich mir mein Sitznachbar wieder zu.

„Sie scheinen es gerade nicht leicht zu haben.“

„Wie kommen Sie darauf?“ Ein bisschen spitz kommt die Frage über meine Lippen. Ach, das wollte ich gar nicht fragen. Jetzt muss ich mich auf ein Gespräch mit ihm einlassen. Aber vielleicht tut mir ein wenig Ablenkung gut.

„Sie haben bereits im Schlaf geseufzt und schwer geatmet.“ Er dreht sich auf seinem Sitz noch mehr in meine Richtung und betrachtet mich mit weichem, mitfühlendem Blick.

„Ich bin ein guter Zuhörer, wenn Sie mögen.“

Möchte ich mich darauf einlassen? Es wäre einfach. Er ist ein Fremder. Nach der Landung werden sich unsere Wege wieder trennen. Keine Nähe, keine Verbindlichkeit. Ich könnte ihm meine Geschichte erzählen, meine Angst und Unsicherheit zu ihm hinüberschieben. Er wirkt wie jemand, dem man vertrauen kann, der für eine kurze oder auch für eine längere Zeit eine Last mittragen kann. Was vergebe ich mir, wenn ich ihm alles erzähle?

Was erzähle? Dass ich aufgrund eines Romans, den ich gelesen habe, mein ganzes Leben in Frage stelle und die Brücken zu meinem Verlobten und meinem Vater vorerst abgebrochen habe? Dass ich keinen Job mehr habe und was noch viel schlimmer ist, dass sich ein Teil meiner Vergangenheit als Lüge zu offenbaren scheint? Meine momentane Situation ist zu komplex, um sie kurz zu erzählen. Ich verstehe sie ja selbst nicht, kann die Geschehnisse nicht einordnen.

„Das ist sehr nett von Ihnen. Danke. Aber ich muss mit meinen Problemen selbst fertig werden“, flüstere ich und schenke ihm ein mattes Lächeln.

„Manchmal hilft Reden. Kann den Focus verändern“, flüstert er zurück.

Unser leises Gespräch scheint uns irgendwie zu verbinden. Eine winzige, geheime Gemeinschaft unter Schlafenden. Ich merke, wie ich mich langsam entspanne. Mein Herz schlägt wieder gleichmäßig und die Angst verschwindet. Ich fühle mich geborgen.

„Es geht schon wieder besser.“

„Das freut mich. Dann noch eine gute Nacht.“ Er rückt wieder von mir weg, nimmt die Brille von der Nase und schließt die Augen.

Ich drehe meinen Kopf ein wenig zu ihm und betrachte ihn verstohlen von der Seite. Seine dunklen, lockigen Haare scheinen ein Eigenleben zu führen, denn sie kringeln sich widerspenstig in seine Stirn. Ein ovales Gesicht, mit einem Rest von Bräune, wahrscheinlich vom letzten Skiurlaub. Er scheint ein humorvoller Mensch zu sein, davon zeugt das Netz von Lachfalten, das sein Gesicht durchzieht. Ein Mann, an den man sich anlehnen kann.

Fühle ich mich bei Clemens geborgen? Er hätte nie auf diese Weise reagiert. Probleme anderer Leute? Nur bei Bezahlung und auch nur in der Kanzlei. Meine Probleme? Damit bin ich bis jetzt immer zu Konrad gegangen. Merkwürdig, dass mir das erst jetzt richtig bewusst wird. Energisch lenke ich meine Gedanken von ihm weg. Nicht jetzt!

Das Buch der Peruanerin. Mit dem muss ich mich auseinandersetzen.

Kapitel 8

Meine Gedanken driften wieder zurück zu dem Samstag, als Konrad mir das Buch in die Hand drückte und mich eindringlich bat, es zu lesen.

Ich sehe mich in meinem Lieblingssessel sitzen. Das Buch lehnte an meinen Knien und ich tauchte ein in die Geschichte der Peruanerin.

Das erste Kapitel erzählte, wie sie ihren Mann kennenlernte. Ein junger Anwalt, der in der Kanzlei ihres Vaters arbeitete und der ihr, wie sie schrieb, schon bei der ersten Begegnung den Kopf verdreht hatte.

Ich überflog die beschriebenen Details, las über ihre Hochzeit und über den Kinderwunsch, der sich in den ersten Jahren nicht erfüllte. Ich blätterte weiter, überschlug wieder einige Seiten.

Mittlerweile wurde es draußen langsam dunkel. Ich schaltete meinen Lesestrahler an und ging in die Küche, um mir zwei Brote zu streichen. Ich hatte Hunger, denn seit dem Stückchen Kuchen am späten Vormittag hatte ich nichts mehr gegessen. Um keine Zeit zu versäumen, nahm ich die Brote mit in meine Leseecke.

Nach einem großen Schluck Kräutertee, nahm ich das Buch wieder zur Hand. Der Schreibstil und die Sprache gefielen mir, spannend war es auch, doch bis jetzt konnte ich noch nicht erkennen, was dieser Roman mit mir zu tun haben sollte. Was mich allerdings ein bisschen verwirrte, war, dass ich beim Lesen meinte, die Stimme meiner Mutter zu hören, und dass ich das Gefühl hatte, als sei es ihr Leben, über das ich las.

Und dann wurde es mit einem Mal spannend. Der Wohnsitz der Familie hätte nach Beschreibung der Autorin unsere Villa sein können.

Mein Herz schlug schneller. Was hatte das zu bedeuten?

Warum hatte Konrad es mir gegeben? Wegen dieser Ähnlichkeiten?

Und es wurde noch interessanter.

Sie beschrieb einen anderen Mann, der ihr sehr nahe stand. Keinen Liebhaber, sondern einen Jugendfreund, mit dem sie sich gut verstand und der sie in die Welt der Bücher einführte. Er hatte einen Buchladen, in dem sie ihn bei ihren Einkäufen in der Stadt des Öfteren besuchte.

Die Beschreibung hätte auf Konrad passen können, nur dass der Freund einen anderen Namen trug.

Der Roman wurde mir immer suspekter, nein, er wurde mir immer unheimlicher, je mehr Gemeinsamkeiten mit meiner Mutter auftauchten.

Auch das nächste Kapitel, in dem sie schilderte, dass dieser Freund sie ermunterte, ihre Geschichten und Märchen an einen Verlag zu schicken. Sie entwickelte sich zu einer beliebten und erfolgreichen Kinderbuchautorin.

Ich klappte das Buch zu, erleichtert darüber, dass der Text darin eingesperrt blieb, bis ich entscheiden würde weiterzulesen. Meine Hände zitterten und mein Herz klopfte holperig.

Das könnte meine Mutter geschrieben haben, wenn sie nicht tot wäre. Ach Quatsch! Aber es sind Ähnlichkeiten vorhanden, wahrscheinlich hatte Konrad das gemeint.

Eine Frau, die ein ähnliches Leben wie meine Mutter geführt hatte oder sollte ich eher sagen, eine Frau, die das Leben meiner Mutter geführt hatte?

Ich schüttelte über meine verwirrten Gedanken den Kopf. Das nahm langsam bedenkliche Formen an. Das waren Zufälle, nichts als simple Übereinstimmungen, die nichts zu bedeuten hatten.

Das Telefon klingelte. Ich nahm das Gespräch an, froh für die Unterbrechung.

„Hier Konrad. Hast du schon mit dem Roman angefangen?“ Ein leichtes Vibrieren war in seiner Stimme zu hören.

„Ja.“

„Und? Wie weit bist du?“

„Dass sie Kinderbücher schrieb“, antwortete ich knapp. „Aber ich weiß nicht, was das Buch mit mir zu tun haben soll. Es geht mir auf die Nerven.“

„Ich komme vorbei. Lies weiter und dann blättere auf Seite 215. Da wird es interessant! Bis später.“

Bevor ich noch etwas sagen konnte, hatte er schon aufgelegt.

Seufzend begab ich mich ins Schlafzimmer und zog eine andere Hose an. Der Pulli konnte bleiben, entschied ich.

Zurück im Wohnzimmer setzte ich mich wieder in meinen Sessel und schlug die nächste Seite auf.

Endlich war sie schwanger. Sie freute sich sehr darauf und die Ehe schien ein bisschen besser zu werden.

Der nächste Satz brachte mich völlig aus dem Konzept. Schnell blätterte ich weiter und schlug die Seite auf, die mir Konrad empfohlen hatte.

Dieses Kapitel, das ich mit klopfendem Herzen überflog, setzte dem Ganzen die Krone auf. Die Autorin beschrieb, wie sie mit ihrem Mann Urlaub in Peru machte.

Wie meine Mutter!

Sie war anscheinend gar keine Peruanerin.

Mittlerweile klopfte mein Herz wie verrückt und ein dumpfer Druck breitete sich in meinem Magen aus. Ich klappte das Buch zu und trug es in den Flur. Nur weit weg. Das konnte doch nicht sein! Das waren zufällige Übereinstimmungen, mehr nicht.

Ich ging aufgeregt hin und her. Hoffentlich kam Konrad bald. Das Buch würde ich nicht mehr aufschlagen. Ich merkte, wie eine diffuse Angst von mir Besitz ergriff.

Aber was ist denn los, fragte ich mich. Um mich abzulenken, ging ich in die Küche und schaltete den Wasserkocher an. Ein Lavendeltee würde mir sicher guttun. Gerade als ich das heiße Wasser über den Teebeutel goss, klingelte es an der Haustür. Ich betätigte den Türöffner und kurz darauf erschien Konrad.

„Hallo, meine Süße, da bin ich und schau, was ich uns mitgebracht habe.“ Er schwenkte eine Rotweinflasche hin und her.

„Den kann ich brauchen“, brachte ich leicht ächzend heraus.

Konrad sah mich ernst an. „Du hast es also gelesen?“

Ich ging voraus in die Küche, wo ich meinen Tee, zwei Rotweingläser und den Flaschenöffner auf das Tablett stellte. Konrad blieb mir dicht auf den Fersen.

„Und, hast du?“

„Ja, ich hab’s gelesen.“

Wir gingen ins Wohnzimmer. Konrad ließ sich mit einem tiefen Seufzer in den Sessel sinken. Ich kuschelte mich auf das Sofa, das ihm gegenüberstand und blickte ihn erwartungsvoll an.

„Was bedeutet das alles?“, fragte ich.

„Was denkst du?“, stellte er mir die Gegenfrage.

„Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas bringt mich total aus der Fassung. Man könnte meinen, dass das Buch von meiner…“ Ich unterbrach den Satz, denn ihn auszusprechen, würde etwas Ungeheuerliches bedeuten, würde meine ganze Welt durcheinanderbringen.

„Dass deine Mutter das Buch geschrieben hat“, vervollständigte er meinen Satz. „Das ist die Geschichte deiner Mutter!“ Seine Stimme zitterte mittlerweile und mit Entsetzen sah ich, wie sich seine Augen mit Tränen füllten.

„Konrad!“ Ich sprang auf und setzte mich auf die Armlehne. Dann schlang ich den Arm um seine Schultern und legte den Kopf an seine Wange. So blieben wir eine kleine Weile.

Dann entzog er sich sanft meiner Umarmung und griff nach seinem Weinglas. Er nahm einen großen Schluck und atmete tief ein und aus.

„Das ist das Buch deiner Mutter!“ Seine Stimme klang nun fest und bestimmt.

„Aber meine Mutter ist tot! Abgestürzt und verschollen in den Anden. Hast du das schon vergessen?“

„Deine Mutter lebt!“

Ich spürte, wie eine heiße Welle meinen Körper erfasste. Mein Herz raste und mir wurde schwarz vor Augen.

„Alex, Süße, wach auf. Komm schon.“

Ich spürte sanfte Schläge auf meinen Wangen und schlug die Augen auf. Ich lag auf dem Boden, Konrad kniete neben mir und hielt meine Hand.

„Geht’s wieder?“, fragte er und schaute mich besorgt an.

Ich nickte schwach.

„Was ist denn passiert?“ Doch ich hatte die Frage kaum ausgesprochen, da wusste ich es wieder.

„Du wirst schon wieder ganz weiß im Gesicht. Bleib liegen. Ich hole dir ein Glas Wasser.“ Konrad stand auf und eilte in die Küche.

Das kalte Wasser tat gut und langsam erholte sich mein Kreislauf. Vorsichtig setzte ich mich auf und lehnte mich an den Sessel. Ich trank noch einen Schluck und tat einen tiefen Atemzug.

„Meine Mutter lebt? Woher willst du das wissen?“

Konrad fuhr sich mit den Händen durch die Haare und brachte sie damit in Unordnung.

„Ich habe sie gesehen.“

„Wie gesehen? Wo gesehen?“ Meine Stimme war zwar noch schwach, aber sie gehorchte mir wieder. Ich stand langsam auf und wankte zum Sofa.

„Als dein Vater damals ohne deine Mutter aus Peru zurückkam, war das ein großer Schock für mich. Ich konnte einfach nicht glauben, dass sie tot sein sollte Dann hatte ich zwei Jahre lang beinahe jede Nacht die Träume.“

Er schüttelte den Kopf und trank einen Schluck Rotwein. „Es war einfach unheimlich.“

„Was für Träume?“, bohrte ich nach.

„Es waren immer dieselben. Ich war in Peru und sie kam mir entgegen, doch sie erkannte mich nicht. Mit leeren Augen sah sie durch mich hindurch. Diese Träume belasteten mich damals sehr.“

Konrad stand auf und begann, im Zimmer auf und abzulaufen. Mit meinem Blick versuchte ich, ihm zu folgen, doch ich spürte, wie mir dabei schwindelig wurde.

„Konrad, bitte setz dich wieder hin und erzähle weiter.“ Mittlerweile hatte sich mein Zustand wieder stabilisiert. Der Rotwein, den ich in kleinen Schlucken trank, tat langsam seine Wirkung. Die Anspannung ließ nach.

„Ich kaufte mir damals, also ungefähr vier Jahre nach ihrem Verschwinden, ein Flugticket und flog nach Lima. Ich hatte keine Ahnung, was ich dort wollte. Ich glaube, ich wollte ihr einfach irgendwie nahe sein. Das klingt natürlich verrückt, denn auch wenn sie noch gelebt hätte, hätte sie überall in Peru sein können, aber außer Lima fiel mir einfach nichts ein.“ Er schluckte und versuchte krampfhaft, die neuen Tränen zurückzuhalten.

„Es war Februar, also Sommer in Peru und es war unerträglich heiß. Ich war am Abend zuvor in Lima angekommen und wollte mir die Stadt anschauen. Ich schlenderte durch die Altstadt und trank einen Kaffee auf der Plaza San Martin.“

Wieder stand Konrad auf und stellte sich hinter seinen Sessel. Die Hände lagen verkrampft auf der Lehne.

„Und dann?“

„Ich spürte sie schon den ganzen Morgen. Ich kann es dir nicht erklären, aber ich spürte ihre Präsenz hier drinnen.“ Er hielt sich die Hand auf den Solarplexus. „Ein ganz tiefes Gefühl“, murmelte er leise.

Ich beugte mich ein wenig vor, um ihn besser verstehen zu können.

Leise sprach er weiter.

„Und dann sah ich sie. Isabella rief ich. Isabella. Doch sie reagierte nicht. Lief an der Seite ihrer Begleiterin einfach weiter. Ich legte hastig den Geldbetrag für den Kaffee auf den Tisch und rannte ihr hinterher. Eine Straße weiter hatte ich sie eingeholt. Ich überholte sie und blieb vor ihr stehen. Isabella, rief ich wieder. Erkennst du mich denn nicht? Deinen alten Freund Konrad? Und wie in meinem Traum starrte sie mich nur an. Nicht erkennend und nicht verstehend. Ich wollte nach ihrer Hand greifen, doch ihre Begleiterin schob mich weg und gestikulierte drohend. Die ersten Passanten blieben stehen, um die Frauen gegen mich zu verteidigen.

Dann gingen sie weiter, bogen in eine andere Straße ein und waren kurz darauf verschwunden.

Wie in meinem Traum. Wie in meinem Traum.“

Erschöpft hielt er inne. Seine Anspannung verschwand und er ließ sich in den Sessel fallen. Mit einem Mal ein müder, alter Mann.

„Aber wieso? Ich verstehe es nicht! Wie kann sie am Leben sein? Wenn sie leben würde, dann wäre sie doch sicher hierher, zu mir, zurückgekommen. Ich verstehe es nicht. Vielleicht hast du dich ja getäuscht. Genau. Du hast sie verwechselt!“

Das war die Lösung. Eine Frau, die ihr ähnlich sah und jetzt eine Autorin, die Lebensumstände beschrieb, die denen meiner Mutter ähnelten.

Zufälle, nichts als dumme Zufälle! Das Leben konnte manchmal grausam sein und Hoffnungen erwecken, die sich nicht erfüllen konnten.

Ich wartete auf die Erleichterung, die mich nun erfassen würde, aber sie stellte sich nicht ein.

„Nein Alex, ich habe mich nicht getäuscht. Sie war es hundertprozentig. Ich hätte sie überall auf der Welt wiedererkannt!“

„Du hast sie geliebt!?“

Konrad nickte. „Ich habe sie schon immer geliebt und ich liebe sie noch“, flüsterte er und blickte über mich hinweg. Für einen Moment verlor er sich.

„Aber, was ist denn damals geschehen?“, fragte ich ihn und holte ihn in unsere Gemeinsamkeit zurück.

„Ich weiß es nicht. Aber da sie den Unfall überlebt hat, konnte natürlich keine Leiche gefunden werden.“

„Aber warum hat sie dich dann nicht erkannt? Oder wollte sie dich nicht erkennen?“

„Alex, ich weiß es nicht. Ich habe mich das die ganzen Jahre hindurch gefragt. Ich habe bis heute keine Antwort darauf gefunden.“ Er schüttelte resigniert den Kopf.

„Hast du es Vater erzählt?“

Sein Nein peitschte wie ein Schuss durch den Raum. Erstaunt schaute ich ihn an. Was ist los, fragte ich mich.

„Konrad?“

„Nein, ich wollte ihn nicht damit belasten, ihm vielleicht Hoffnungen machen, die sich nicht erfüllen.“ Seine Stimme war wieder ruhig.

„Was soll ich machen?“ Mir war nicht klar, was er jetzt von mir erwartete.

„Lies das Buch zu Ende. Am Montag sprechen wir darüber. Und versprich mir, dass du mit niemandem darüber redest. Versprochen?“

„Ja, versprochen“, antwortete ich, ein wenig erstaunt über die Dringlichkeit seiner Bitte.

Konrad erhob sich mit einem Blick auf seine Armbanduhr.

„Ich muss jetzt heim. Ich bin sehr müde.“

Ich nickte. Man sah ihm seine Erschöpfung und Erschütterung an.

Ich begleitete ihn zur Tür.

Kurz darauf stand ich allein im Flur. Ich fröstelte und plötzlich erfasste mich eine riesige Welle der Einsamkeit. Mein Herz tat mir so weh, dass ich dachte, es bliebe stehen.

Die große Trauer, die ich als Kind erlebt hatte, kam wieder an die Oberfläche. Meine Knie wurden weich wie Pudding und so ließ ich mich an der Wand zu Boden gleiten.

Die Jahre meiner Kindheit zogen an mir vorbei wie in einem Film. Unsere gemeinsame, glückliche Zeit, der Abschied, als sie nach Peru flogen, ihr Tod, meine Einsamkeit, die Abschiebung ins Internat und mein starkes Heimweh nach ihr.

Die Tränen flossen wie Sturzbäche über meine Wangen und hinterließen nasse, dunkle Flecken auf meinem Pullover.

Irgendwann klingelte das Telefon, doch ich wollte mit niemandem reden. Als ich das penetrante Geräusch nicht mehr ignorieren konnte, hangelte ich mich mühsam am Schrank nach oben. Müde, unendlich erschöpft wankte ich zum Telefon.

„Alex, geht’s dir gut?“ Konrads Stimme tönte besorgt.

„Ja, es geht so einigermaßen“, beruhigte ich ihn und versuchte, meiner Stimme Gehalt zu geben.

„Ich habe dich einfach alleingelassen. Hätte ich bleiben sollen?“

„Nein Konrad. Es ist alles in Ordnung. Ich gehe jetzt ins Bett.“

„Dann telefonieren wir morgen?“

„Ja, wir telefonieren morgen. Gute Nacht, Konrad.“

Ich legte auf, bevor er noch etwas erwidern konnte. Ich wollte jetzt nicht mehr sprechen.

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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
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ISBN:
9783961455058
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