Kitabı oku: «TREU», sayfa 4
LUKAS – damals
8
Lukas stand vor seiner Haustür. Die Hälfte der Strecke hatte er schieben müssen, da seine Fahrradgabel durch den Sturz zu locker war und bei jeder Kurve anfing zu klackern. Noch einen Sturz hätte er wirklich nicht gebrauchen können.
Durch seine abgeschnittene Jeanshose drangen die ein oder anderen Blutflecken, doch das Zittern, das er noch ein paar Minuten lang verspürt hatte, nachdem er in den Busch gekracht war, war inzwischen verflogen. Die Luft war immer noch sehr drückend, doch die Sonne stand nun etwas tiefer und brannte nicht mehr allzu stark von oben herab.
Er suchte in seiner Hosentasche nach dem Haustürschlüssel, doch er war nicht mehr da. Also klingelte er, in der Hoffnung, jemand wäre zu Hause. Wahrscheinlich lag der Schlüssel irgendwo in den Dornenbüschen. Er würde das nächste Mal einfach nach ihm schauen, wenn er im Wald war. Dort würde ihn niemand finden und Hinweise auf den Besitzer gab es auch nicht. Er brauchte sich keine Sorgen zu machen.
Von innen hörte er ein Bellen und ein aufgeregtes Tapsen. Bella hopste hinter der Sicherheitstür aus festem Glas umher und wartete darauf, dass ihr jemand die Tür öffnete, damit sie Lukas freudig empfangen konnte. Er konnte sie nur schemenhaft hinter der milchigen Scheibe erkennen, doch Bellas Hundesinne wussten zweifellos, wer vor der Tür stand.
Lukas klopfte, um sie ein bisschen zu provozieren, was sie auch anspornte, ihrem Bellen noch ein leises, freudiges Quieken hinzuzufügen.
Schritte auf der Holztreppe.
Die Tür öffnete sich und Jakob stand in seiner Fleecejogginghose vor ihm. An einem leuchtendgrünen Halsband hielt er Bella fest, die nicht erwarten konnte, ihren großen Menschenbruder zu begrüßen.
„Wie siehst du denn aus? Ich dachte, du wolltest in den Kraterwald?“
Sein Blick fiel auf die rotglühende Kniescheibe und seine verschrammten Arme und Beine.
„Hab’s mir anders überlegt.“
Bella war noch klein, doch ihre tapsiggroßen Pfoten verrieten, dass noch einiges an Körpermasse zu erwarten war. Sie stemmte sich gegen Jakobs Griff und stand quiekend auf ihren Hinterläufen. Als Lukas die Tür hinter sich schloss, ließ Jakob los und sie stürmte Lukas entgegen.
Es sah fast so aus, als wollte sie an Lukas’ Beinen hochspringen, um ihm durch das Gesicht zu schlecken, doch so energisch sie es auch versuchte, sie konnte sein Gesicht nicht erreichen. Also begnügte sie sich damit, seine verschrammten Beine abzulecken.
„Bella, aus!“
Lukas verzog das Gesicht. Die feuchten Hundeküsse mochte er noch nie, außerdem brannte es noch ein wenig. Und die keimstrotzende Hundezunge wünschte er sich momentan lieber im Maul ihrer kleinen Besitzerin.
„Wieso siehst du so ramponiert aus? Wolltest du auch mal die Brennnesseln ausprobieren?“, fragte Jakob grinsend.
„Es waren keine mehr da.“
Lukas wollte nicht über seinen Sturz reden und markierte den Tapferen.
„Kannst du mir gleich helfen, das Rad zu reparieren?“, fragte er.
Darauf hatte Jakob gewartet. Er hasste Werkzeug, es sei denn, es hatte an seiner Spitze eine tintengetränkte Feder.
„Das schaffst du schon alleine. Was ist denn passiert?“
„Nichts ist passiert, nun nerv nicht rum!“
Jakob schmollte.
„Na gut, ich frage ja schon gar nicht mehr. Halina hat Kuchen gebacken. Ist aber irgendwie etwas pappig geworden. Also, falls du deinen geschundenen Körper stärken willst?“ Wieder grinste er hämisch.
Halina war ihre Tagesmutter, doch immer, wenn sie über sie sprachen, nannten sie sie eigentlich nur „die Tagesmutter“. Sie mochten sie, in ihrem polnischen Mamuschka-Charme sorgte sie sich sehr um „ihre Jungs“, wie sie sie immer nannte. Doch sie übertrieb es auch oft mit ihrer Fürsorge, wenn sie mal wieder auf die Idee kam, Gesellschaftsspiele zu spielen oder bei ihren Schulaufgaben helfen zu wollen, was Jakob und Lukas stets mit fadenscheinigen Ausreden ablehnten. Ohnehin wäre ihre schulische Leistung dadurch zweifellos nicht gerade gefördert worden, wenn sie mit „kurwa!“ und einem Kratzen am Hinterkopf versuchte, auch nur ein Wort von dem zu verstehen, was in ihren Schulbüchern stand.
Oft machten sie sich einen Spaß daraus, sie mit den kompliziertesten Aufgaben zu malträtieren, auch wenn sie sie schon längst gelöst hatten. Aber immerhin war Halina dann für eine Weile beschäftigt, ehe sie fluchend aufgab und sich tausendmal entschuldigte, weil sie nicht helfen konnte und nicht verstand, wie ein gottloser Lehrer solch unlösbaren Probleme einforderte.
Jakob war sie besonders zugetan. Offenbar hatte sie ein Herz für Underdogs. Jakob genoss seine Rolle, auch wenn er es nicht zugeben wollte.
Bella hatte sich nach diesem Wortwechsel wieder etwas beruhigt. Ihr Blick ging immer zwischen den beiden hin und her und manchmal legte sie ihren Kopf auf die Seite, als würde sie genau zuhören, was sie besprachen. Ihr Blick fiel auf einen gelben Tennisball, der in der Ecke des Eingangsbereiches lag. Sie ließ sich nicht zweimal bitten und tapste in seine Richtung.
Jakob stürmte wieder die Treppe hinauf – „Bin oben!“ – und ließ Lukas, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stehen. Nach unten blickend sah Lukas nun in zwei leuchtende Hundeaugen, unter denen ein versabberter Ball in spitzen Welpenzähnen gefangen war. Er tätschelte ihren Kopf. „Jetzt nicht, Bella“, sagte er leise und zog sich seine Schuhe aus.
Im ersten Stock angekommen, humpelte er auf die Küche zu. Auf dem schwarzen Granitboden war es immer sehr angenehm barfuß zu laufen. Nur die vielen Hundehaare, die sich an den Fußsohlen sammelten, schmälerten dieses haptische Erlebnis. Er nahm sich ein Stück Marmorkuchen von der Arbeitsplatte und begann, über die Ereignisse im Wald zu sinnieren.
Er wunderte sich über sich selbst, weil er es eigentlich gar nicht kannte, sich aus der Fassung bringen zu lassen. Ängstlich war er eigentlich nie.
Bestimmt irgendein Spaziergänger, dachte er, doch ganz abhaken konnte er das Thema noch nicht. Er nahm sich einen Tetrapack Milch aus dem Kühlschrank und trank ein paar Schluck direkt aus der Verpackung. Dann ging er nach oben, wo Jakob mit einer Zeitschrift über Geologie auf der Couch lag und darin schmökerte.
„Was stimmt nur nicht mit dir?“, fragte Lukas seinen Bruder, mit einem ironischen Unterton.
„Meinst du, man findet im Kraterwald noch mehr Fossilien?“, fragte Jakob, der die Sticheleien gekonnt ignorierte. Sein Blick fiel imaginär durch die Zimmerwand auf sein Regal, auf dem schon einige Funde seiner Ausflüge thronten.
„Und was willst du mit dem Kram?“ Lukas verstand nicht, was Jakob an diesen Steinen fand, doch er bekam umgehend ein schlechtes Gewissen. Er sollte etwas netter zu seinem Bruder sein.
„Vielleicht gehen wir mal zusammen in den Steinbruch. Da finden wir bestimmt jede Menge davon.“
Jakobs Augen begannen zu leuchten.
„Kommt man da denn rein?“, fragte er.
„Klar, da ist doch nur ein Zaun.“
„Cool, das machen wir!“
Und wieder war ihr brüderliches Verhältnis im Lot. Manchmal war es wirklich einfach, Jakob für sich zu gewinnen. Obwohl sie fast gleich alt waren, fühlte Lukas sich verantwortlich für ihn und nahm sich selber immer als der Große Bruder wahr, was auch gut funktionierte.
Lukas setzte sich neben ihn auf die Couch und tat so, als würde er interessiert in Jakobs Zeitschrift schauen. Doch all die Bilder und Überschriften langweilten ihn ziemlich schnell.
„Ich glaube, ich geh mal duschen“, sagte er und knetete vorsichtig seine ramponierte Kniescheibe.
Ohne Vorwarnung umarmte Jakob ihn und widmete sich wieder seiner Zeitschrift.
Jakob – damals
9
Jakob war versunken in seine Umgebung. Er hockte in kurzer Hose, halbhohen Converse und mit Ohrstöpseln in den Ohren auf dem Boden eines Kraters. Aus seinem MP3-Player dröhnte „Geile Zeit“ und er zog mit beiden Händen schmalbrüchige Steinplatten aus der Wand vor sich, um sie dann zu begutachten. Jedes Mal bröckelte ein bisschen Schutt dabei herunter und fiel knisternd auf einen kleinen Haufen, der sich schon vor ihm gebildet hatte. Seine Hände waren ganz weiß vom Gesteinsstaub und neben ihm türmte sich eine kleine Auswahl an Brocken auf, die er sich später noch näher anschauen wollte. Sein bunter Rucksack war in der Ecke an einen hervorstehenden Felsen angelehnt und eine kleine PET-Flasche Cola stand direkt daneben auf dem Boden zwischen Baumwurzeln und Grasbüscheln. Ein kleiner Plüschanhänger mit einem braunen Hund – es sollte wahrscheinlich so etwas wie einen Schäferhund darstellen – baumelte per Karabinerhaken an der oberen Trageschlaufe und spielte mit einer kindlichen Anmutung. Bella lag neben Jakob in einem kleinen, flimmernden Sonnenfleck, der sich durch das wabernde Blätterdach auf dem Grund abmalte.
Launischer Wind spielte mit den Baumkronen und sie schwankten leicht hin und her. Sehr zum Leidwesen von Bella, die hin und wieder eine Korrektur ihrer Liegeposition vornehmen musste, um ganz von der Sonne angestrahlt zu werden. Dabei genoss sie, wie sich ihr schwarzes Fell aufheizte, denn heute war es sogar ausgesprochen kühl für einen Tag im späten August. Ab und zu schloss sie ihre Augen und döste vor sich hin. Nur das Klacken der Steine, die Jakob in regelmäßigen Abständen auf seinen kleinen Haufen warf, ließ kurz ihre aufmerksamen Ohren zucken.
Jakob kramte in der Seitentasche seines Kapuzenpullis, um den Next Button seines Players zu betätigen. Die Playlist, die Max ihm kopiert hatte, war so gar nicht nach seinem Geschmack, er musste morgen unbedingt daran denken, Lukas nach anderer Musik zu fragen. Dieses Zeug, das den ganzen Tag im Radio lief, interessierte ihn nicht.
In seinen Ohren begann mit einem dreckigen Lachen der Beat zu Gorillaz’ „Feel Good Inc.“. Okay, damit war er einverstanden. Vielleicht gab er der Musik auf seinem Player noch eine letzte Chance.
Seinen Zehenspitzen begannen zu kribbeln und dieses Gefühl strahlte bis in seine Waden aus. Er vergaß schnell die Zeit, wenn er konzentriert seinen Dingen nachging. Er stellte sich hin und schüttelte kurz seine Beine aus. Sie waren eingeschlafen. Tausende kleiner Ameisen krabbelten in seinen unteren Extremitäten umher und es dauerte eine Weile, bis sie wieder verschwanden.
Bella saß nun aufrecht und beobachtete dieses lustige Gezappel.
„Dir macht das lange Rumliegen nichts aus ...“, sagte Jakob zu ihr, doch sie verstand nur etwas von „lieg“ und „aus“, und wusste nicht so recht, was er ihr damit nun sagen wollte. Sie beobachtete, wie er zu seinem Rucksack hinüberstapfte und sich nach seiner Colaflasche bückte.
Als würde ihr die Ansprache von eben nicht mehr aus dem Kopf gehen wollen, stand Bella nun auf und tapste zu ihm hin, um ihn dann fragend anzusehen. Brav setzte sie sich auf ihren Allerwertesten, ihre Augen immer noch zu groß für ihren kleinen Welpenkopf. Langsam musste Jakob sich daran gewöhnen, dass sie nicht immer so drollig bleiben würde.
Er öffnete den Reißverschluss seines Rucksacks und zog eine kleine Glasschale heraus, die er zur Sicherheit in ein Küchentuch eingewickelt hatte. Dann kramte er noch etwas tiefer und angelte sich eine Fahrradtrinkflasche, die nicht weniger bunt war als sein Rucksack, und goss etwas Wasser in die Schale. Bella begann zu trinken.
Mit verschränkten Armen sah Jakob sich seine Baustelle an. Irgendwie war die Ausbeute hier nicht so toll. Er nahm ein paar handtellergroße Steinplatten von seinem Haufen und kniete sich wieder hin. Sie waren alle glatt. Er schlug eine Platte gegen die Felswand, bis sie sich wie Blätterteig in mehreren Schichten löste. Manchmal hatte man Glück und man fand zwischen den Schichten etwas Brauchbares, doch wieder wurde er enttäuscht.
Nun startete ein Lied über einen Monsun. Das reichte nun wirklich. Er schaltete seinen MP3-Player aus und wickelte das Kabel der Ohrhörer darum. Mit einem geschickten Wurf traf er die Öffnung seines Rucksacks, in dem der Player dann verschwand. Wenigstens das klappt, dachte sich Jakob. Zu gerne hätte er noch ein paar versteinerte Zeugnisse einer vergangenen Zeit gefunden, doch er hatte einfach kein Glück. Er stopfte sich eins von seinen Kaubonbons in den Mund und begann zusammenzupacken.
Der Wind wurde etwas stärker und der Himmel zog sich zu. Erste Tropfen fielen vereinzelt auf den trockenen Waldboden herab. Jakob verzog das Gesicht.
In der Ferne hörte er ein Grollen.
Das Licht verfärbte sich langsam grünlich und die Sonne fand keinen Weg mehr in den zimmergroßen Kessel, in dem er sich befand. Ein leises Tröpfeln erklang, und als würden die Blätter flüstern, verwandelte sich der Wald in eine angenehme Symphonie aus lauten und leisen Tönen. Die Schatten verloren ihre Schärfe und ein seichter Wind bewegte die Härchen auf Jakobs Beinen.
„Ich glaube, wir sollten los“, sagte er zu Bella, die gerade damit beschäftigt war, an einem Ast herumzukauen.
Er ging zum Rand des Kraters, wo eine kräftige Baumwurzel vom oberen Rand bis zu ihm herunterreichte. Er hatte sie eben schon als Leiter benutzt, als er in den großen Erdkessel hinabgestiegen war.
Jakob strich sanft über das knorrige Holz und beobachtete, wie ein kleines Rinnsal versuchte, über die Erdkante zu laufen. Der Boden war noch staubtrocken und so versiegelte er sich gegen jede Feuchtigkeit. Wie eine Perle kullerten die Wassertropfen über den staubigen Rand und fielen dann hinab auf die Außenwand des Kessels, wo sie schließlich versickerten.
Plötzlich hielt er inne.
Bella spitzte ihre Ohren und machte ein paar aufgeregte Schritte näher an Jakobs Seite. Er lauschte, doch nur das Tröpfeln war zu hören.
Wieder ein Grollen, diesmal näher.
Er konnte sich nicht erinnern, wann das Unbehagen einsetzte, doch seine unbekünnerte Stimmung machte nun einer inneren Unruhe Platz.
Auch Bella schien nervös zu werden. Sie machte gurgelnde Laute und schaute aufgeregt umher. Ihre Ohren hatte sie wie zwei hektische Radarschüsseln, die unentwegt die Umgebung abscannen, aufgestellt.
Ein Rascheln. Dann ein brechender Ast.
Jakob stockte der Atem. Er griff Bella an ihrem grünen Halsband und zog sie noch ein Stück näher zu sich, als er sich hinkniete. Unter seinem rechten Arm war der eingeklemmte Rucksack. Er fokussierte das andere Ende seiner Leiter und konnte über die Kuppe des Kessels nur das Walddach erkennen, das im immer stärker werdenden Wind unruhig tanzte, als würde es hämisch auf ihn hinabblicken.
Wieder ein Knacken.
Bella machte keinen Mucks mehr.
Jakob verharrte in seiner Hockstellung und empfand nun große Angst. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare aufstellten, doch er fasste all seinen Mut zusammen, setzte sich seinen Rucksack auf, nahm Bella unter seinen linken Arm und griff nach der Wurzel, um sich langsam hochzuziehen. Die hervorstehenden Steine in der Wand boten einen guten Halt für seine Füße. Als er die Kante erreichte, setzte er Bella wieder ab und schaute unruhig umher. Der ausgefahrene Lehmpfad vor ihm warf nun dunkle Schatten in jede Spur und der Ilex war zu dicht, um weit sehen zu können.
Kalte Regentropfen fielen auf seinen Nacken.
Wieder ein Knacken. Eine Bewegung.
Diesmal näher.
Jakob stand stocksteif da und hielt seinen Atem an.
Nun regte sich auch Bella. Sie jaulte erst leise, dann bellte sie den kräftigsten Laut, den sie je hervorgebracht hatte. Sie fing an zu laufen. Schnell und zielstrebig. Um eine Ecke, hinter einen Haselstrauch. Dann ein lautes Krachen.
Jakob wollte rennen, doch wie versteinert stand er da und sah vor sich in die grüne Leere.
MARINA
10
Eine Popcorntüte knisterte neben Marina, als sie sich zur Seite drehte. Bläuliches Licht zeichnete Konturen auf Lukas’ Gesicht. Er konnte richtig hübsch sein, wenn er nur von der richtigen Seite und dem richtigen Licht angestrahlt wurde. Die Sitze waren sehr bequem, man konnte wunderbar in ihnen versinken. Sie schmunzelte. Naja, so ganz „ihr Typ“ war er ja eigentlich nicht, zumindest nicht optisch. Sein Gesicht war sehr markant und kantig, und obwohl er erst achtzehn war, wirkte er ein paar Jahre älter und auch irgendwie ernster. Seine Nase war relativ unspektakulär, in einer Broschüre für „Normnasen“ würde sie wahrscheinlich den ersten Platz gewinnen. Seine dichten, braunen Locken wucherten heute etwas wild, er sollte sich mal wieder die Haare schneiden lassen, dachte sie und musterte ihn weiter.
In seinem schwarzen Kapuzenpulli versunken wischte er mit seinem Daumen über das Display seines Smartphones. Eigentlich hatte er sich nur überreden lassen, mit Marina ins Kino zu gehen, denn so richtige Lust hatte er nicht. Er hasste das ganze „Chi Chi“ ums Ausgehen und die Kartenpreise waren in den letzten Jahren in astronomische Höhen geschossen. In seiner linken Hand hielt er die zusammengefaltete Plastikbrille, die ihnen einen außergewöhnlichen Kinoabend bescheren sollte – oder einen Anflug heftigster Kopfschmerzen, je nachdem, in welcher Verfassung man sich gerade befand. Er verstand diesen ganzen Irrsinn mit den 3D-Kinofilmen nicht. Ging es nicht eigentlich um die Geschichte? Das geht doch auch ohne Kopfschmerzen. Die letzten 3D-Filme, die sie sich im Multiplex Kino angesehen hatten, waren alle relativ inhaltsleer gewesen. Er erinnerte sich an die Ausführungen seines Kunstlehrers, als er über die Anfänge des bewegten Bildes referiert hatte. Damals waren angeblich die Menschen scharenweise panisch aus den Kinos gerannt, weil sie das erste Mal das bewegte Bild einer sich nähernden Lokomotive sahen und Angst hatten, von ihr zermalmt zu werden. Da reichte ein banaler Film, um die Menschen zu faszinieren, doch dieser 3D-Hype in der heutigen Zeit zerstörte seiner Meinung nach das Genre. Video kills the radio star – die nächste Etappe.
„Du könntest wenigstens so tun, als hättest du Lust auf’s Kino!“,
sagte Marina mit einem enttäuschten Unterton.
„Ich freu’ mich doch!“ Bei Lukas war es immer schwer, Sarkasmus und Ernst auseinander zu halten.
„Der Film soll echt gut sein!“
„Mir wird davon schlecht und das Bild ist immer so dunkel.“
Marina verdrehte die Augen und griff in seine Popcorntüte.
„Ey, meins!“, raunte Lukas.
„Du hättest dir ruhig das Süße holen können, salzig ist voll widerlich!“ Marina verzog den Mund.
„Damit DU mir alles weg isst ... Worum geht es überhaupt?“ Lukas schlürfte an seiner Cola.
„Da sind Menschen auf einem anderen Planeten und die Außerirdischen wollen sie nicht bei sich haben. Dann verliebt sich ein Mensch in eine Außerirdische ...“
„Oh, neee, Liebesfilm?“
„Nein! Also, da sind wohl echt tolle Bilder und die Story ist auch gut!“
„Wenigstens sind die alle blau!“ Er lachte über seinen eigenen dummen Witz und zog provokativ die Popcorntüte weg.
„Ich kann mir ein Loch unten rein schneiden und meinen Hosenstall aufmachen, vielleicht habe ich dann etwas mehr Spaß bei dem Film.“
Wieder verdrehte Marina die Augen.
„Jetzt verdirb mir nicht den Abend!“
Endlich wurde es im Kinosaal dunkel.
„Und nun sei still. Und mach das Handy aus!“
Er steckte sein Smartphone widerwillig in seine Tasche und setzte sich die Buddy Holly-3D-Brille auf die Nase. Mit ein paar Handgriffen versuchte er sie so auszurichten, dass das Bild möglichst scharf wurde. Der Surround-Sound vibrierte in den Sitzen, als der Film begann. Lukas fläzte sich in seinen Sitz und nutzte die Rückenlehne vor sich als Fußablage.
„Lukas ....!“, zischte Marina.
Er drehte sich zu ihr hin und nahm seine Füße in Zeitlupe wieder nach unten.
„Ja, Mama ...“
Dann stopfte er sich noch eine Handvoll Popcorn in den Mund und verschränkte griesgrämig seine Arme.
Der Film begann.
Der Besuch der letzten Spätvorstellung bereitete ihnen den Komfort, dass die ganze vorgeschaltete Werbung wegfiel. Einziger Nachteil: Die Popcornkrümel auf und in den Sitzen nahmen ein fast schon ekliges Ausmaß an. An der Reinigung wurde hier offenbar gespart.
Aus Lukas Hose summte es.
„Schhhhht!“, kam es aus der hinteren Reihe
„Lukas ...“, flüsterte Marina.
Hektisch griff Lukas in seine Hosentasche und drückte den Anrufer blind weg.
„Willst du es nicht ausmachen?“
„Schhhht ...“
„Ruft schon keiner mehr an.“
„Schhhhhhht ...“
Lukas drehte sich genervt um und warf dem doppelt bebrillten Mann hinter sich einen finsteren Blick zu. Es kehrte wieder Ruhe ein. Marina verdrehte die Augen. Lukas griff wieder in seine Popcorntüte und produzierte ein provokativ lautes Knistern. Dann stopfte er sich wieder eine Handvoll in den Mund und streckte gähnend seine Arme nach oben, um es noch etwas auf die Spitze zu treiben.
Wieder summte es in seiner Tasche, diesmal aber unbemerkt, da die laute Intromusik des Films inzwischen aus den Lautsprechern dröhnte. Er versuchte es auszusitzen, doch das Summen hörte nicht auf. Marina warf ihm einen vernichtenden Blick zu, als er es aus seiner Tasche zog. Wieder wurde sein Gesicht in blaues Licht getaucht. Hinter ihm trat jemand gegen seine Rückenlehne.
„Es knallt gleich“, murmelte Lukas kaum hörbar.
„Frechheit!“, erwiderte der Mann hinter ihm.
Lukas schaute auf sein Display – Moritz ruft an.
Marina las es auch.
Lukas drückte den Anrufer erneut weg und stopfte sich das Smartphone wieder in seine Tasche. Auf der Leinwand schwebte ein schwereloser Astronaut durch den dreidimensionalen Raum eines Raumschiffes. Perfekt animierte Illusion – fast zu perfekt.
„Warum ruft Moritz dich denn dauernd an?“, flüsterte Marina.
Lukas zuckte genervt mit den Schultern. Ihm wurde etwas schwindelig und er zog sich seine 3D-Brille ab. Doch nun sah er alles doppelt. Auch nicht gut. Also zog er sie wieder auf.
„Kannst du mal fünf Minuten still sitzen?“, zischte Marina.
„Schhhhhhht!“
Lukas griff in seine Tüte und steckte sich jeweils ein Popcorn in jedes Ohr und schaute Marina aberwitzig mit einem albernen Gesichtsausdruck an.
Wieder summte das Handy. Lukas schaute nach unten und seine biologisch abbaubaren Ohrstöpsel fielen auf seinen Pulli.
„Willst du nicht ran gehen?“ Marina blickte sich um und setzte ihr charmantestes Lächeln Richtung Brille auf.
„Nein!“
„Vielleicht ist was passiert ...“
„Nein!“
„Könntet ihr das BITTE draußen klären!“, meinte die Brille.
Lukas zog das Smartphone aus seiner Tasche, um den Anruf wieder abzuwürgen, doch Marina kam ihm zuvor und zog es ihm, flink wie eine Schlange, aus der Hand. Sie entsperrte es, stand auf und ging mit einem „Warte kurz, Mo!“ Richtung Ausgang.
Ein paar Kinobesucher, die besonders lustig sein wollten, klatschten Beifall, als sie hinter der schweren Tür verschwand. Lukas legte seine Füße wieder auf seinen Vordersitz und verschränkte die Arme.
„Hey Moritz, Marina hier. Wir sind gerade im Kino, was ist denn?“
Stille breitete sich aus. Sie hörte nur ein leises Schluchzen.
„Hallo ...“, sagte Moritz leise.
„Weinst du?“
„Nein ...“
„Hört sich aber so an!“
„Warum ist Lukas nicht dran gegangen?“
Marina fing an, etwas genervt zu sein, sie drehte sich zum „EXIT“-Schild um, das ihr den Weg zurück zum Film, den sie so gerne sehen wollte, wies.
„Du, Moritz, es ist gerade echt schlecht, der Film läuft schon!“
„Okay ...“ – Stille – dann wieder ein Schluchzen.
„Moritz ... was ist los?“
Stille.
„Ich weiß, wir kennen uns noch nicht so gut, aber wir machen uns Sorgen. Sollen wir vorbeikommen? Willst du reden?“
„Nein ...“ Es war einfacher, sich mit einem leeren Spint zu unterhalten.
„Es tut mir leid“. Seine Stimme wirkte noch immer nicht gefasster.
„Was tut dir leid?“
Marina blickte umher, um sich eine Sitzgelegenheit zu suchen. Anscheinend würde das hier länger dauern. Sie ging zu der Eingangstür der Kinoetage, vergewisserte sich, dass sie ihre Eintrittskarte noch in der Tasche hatte, und ging vorbei an den Kontrolleuren zum Treppenhaus, wo sie sich auf die oberste Stufe setzte.
„Also?“ Marina wusste nicht so recht, wie sie sich in ihn hineinfühlen sollte. Moritz hörte sich schlimm an, aber eigentlich kannte sie ihn nicht so gut, um sich als adäquater Gesprächspartner zu fühlen.
„Ich kann es nicht sagen ...“
Jemand stupste sie leicht am Rücken an. Lukas stand mit seinem Colabecher hinter ihr.
„Was will der denn schon wieder?“ Er sprach so laut, dass er davon ausgehen konnte, dass Moritz mithören konnte. Marina reichte es nun. Ihre Blicke hätten töten können. Den ganzen Abend hatte er sich schon ziemlich beschissen verhalten, doch in diesem Moment hatte sie das Gefühl, dass er fehl am Platze war.
„Geh rein!“, zischte sie und ihr Blick ließ keine Widerrede zu.
Lukas drehte sich um und trottete wieder, vorbei an den Aufsehern, denen er seine Kinokarte zeigte, zurück in den Kinosaal.
„Toller Film übrigens!“, rief er noch und verschwand dann hinter der schweren Tür.
„War das Lukas?“, fragte Moritz schüchtern.
„Ja, was denkst du denn?“
„Tut mir leid, wenn ihr jetzt Stress wegen mir habt.“
„Moritz, wir haben keinen Stress wegen DIR. Kannst du mir mal sagen, was eigentlich los ist? Habt ihr Streit?“
„Nein ...“
„Moritz! Ich leg’ gleich auf ... !“
„Ich bin schwul.“
Stille
Ihr fiel es nun wie Schuppen von den Augen. Das komische Verhalten in letzter Zeit, die launischen Gefühlsausbrüche, die Abneigung, die er sie immer spüren ließ. Alles machte auf einmal Sinn.
„Was?“, wollte sie sich noch einmal vergewissern.
„Sag’s bitte nicht Lukas“, flüsterte er, begleitet von einem Schniefen.
Sie überlegte kurz, was sie sagen sollte, und aus dem Bauch heraus gab sie in ihrer beruhigendsten Tonlage eine Antwort:
„Moritz, es spielt keine Rolle, wer das weiß und wer das nicht weiß. Du bist immer noch Du! Ich weiß, du magst mich nicht besonders, aber ich mag dich und alle anderen mögen dich. Es ändert sich doch überhaupt nichts. Aber ich habe das Gefühl, dass du es für dich akzeptieren musst. Nicht die anderen müssen dir Angst machen, du bist es doch selber, der es in der Hand hat, glücklich zu sein. Ich freue mich, dass du es gerade mir anvertraust. Danke. Ehrlich. Wie fühlst du dich jetzt?“
„Okay ...“ Er klang nicht sehr überzeugend.
„Pass auf, Lukas hat schon ganz miese Laune, weil er ohnehin nicht in den Film gehen wollte, aber ich sitze hier auf der kalten Treppe in einem zugigen Flur und muss ganz dringend auf’s Klo. Was hältst du davon, wenn ich nach dem Film vorbeikomme? Wir können quatschen, wenn du willst, oder wir können schweigen. Was dir lieber ist. Das dauert nur ein paar Stunden hier. So halb zwei, zwei. Ich komme auf jeden Fall. Deine Eltern sind doch noch im Urlaub?“
„Ja, ... aber ich will keine Umstände machen.“
„Ich will aber eine Flasche Wein haben! Roten. Und nicht zu trocken!“
„Okay“, Moritz hörte sich klarer an, was sie ein wenig beruhigte.
„Und, Marina?...“
„Ja?“
„Danke.“
„Bis gleich dann, und ruf’ jetzt nicht wieder Lukas an, sonst werden wir im Kinosaal gevierteilt.“
„Okay ...“
„Bis später ... ich freu mich.“
Nachdem sie aufgelegt hatte, blieb sie noch eine Weile sitzen. Den Oberkörper auf die Knie aufgestützt, sinnierte sie über das kurze Telefonat nach. Sie spürte eine Woge des Wohlbefindens. Es fühlte sich gut an, dass er ausgerechnet ihr vertraute. Auch Erleichterung schwang mit. Sie fühlte sich gut.
Sie ging noch schnell auf die Toilette und betrat dann wieder den Kinosaal. Lukas verriet sie nichts vom Inhalt des Gesprächs, auch wenn er sie, von Brilles Flüchen bombardiert, löcherte. Nun wollte sie wenigstens noch die letzte Hälfte des Films in Ruhe genießen.
Auch Moritz lächelte.