Kitabı oku: «Muriel», sayfa 2

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***

Als Kommissar Guerin am Fundort eintraf, hatten die örtlichen Spurensicherer am Flussufer ein Schutzzelt aufgebaut, um ihm die Leiche so authentisch wie möglich vor Ort zu präsentieren. Auch der Rechtsmediziner stammte aus Vesoul, der hier zuständigen Justizdirektion. Doktor Roulin wäre ihm natürlich lieber gewesen, weil er sich mit Claude fast blind verstand und ihm auch Fragen stellen konnte, die sich nicht nur auf das Fachgebiet Rechtsmedizin bezogen. Mit ihm unterhielt er sich ebenso über Dinge, die ihn privat oder bloß im Zusammenhang mit dem jeweiligen Fall beschäftigten.

Der fremde Doktor spulte für ihn seine bisherigen Erkenntnisse ab: »Leichnam, männlich. Größe und Gewicht in normalem Bereich. Alter: circa fünfzig bis sechzig. Allgemeinzustand eher unauffällig. Trägt einfache Straßenkleidung. Der Körper wurde durch das Gewicht eines um die Hüften geschlungenen Kettenstücks am Auftauchen oder Treiben an der Wasseroberfläche gehindert. Die Kette, möglicherweise Reste einer Ankerkette, wird von einem gewöhnlichen Vorhängeschloss zusammengehalten. Die Schussverletzung im oberen Schädelbereich war in jedem Fall tödlich. Ich sehe jedoch auch Hinweise, dass er zuvor bereits ertrunken sein könnte. Möglicherweise eine Art Fangschuss, oder um ganz sicher zu gehen? Man kennt das ja aus Filmen.«

Der Doktor zuckte mit den Schultern. »Das muss ich natürlich im Einzelnen im Institut genauer untersuchen. Hier vor Ort sind alle Angaben bloß vorläufig. Die Liegezeit im Wasser scheint nur ein bis zwei Tage gedauert zu haben. Wir können es als großes Glück betrachten, dass ihn ein Angler erwischt hat, bevor der Fluss alle Hinweise zerstören konnte.«

Guerin pflichtete ihm nickend bei. Der Mann lag mit aufgedunsenem Leib vor ihm auf einer Trage. Wohl deshalb saß die Kette absolut straff und schnitt deutlich in den Bauch ein. Guerin ließ sich Zeit, um sich das durch dunkelrote Flecken entstellte Gesicht einzuprägen. Das Einschussloch oben im Schädel verbargen die wirr abstehenden, schwarzen Haare fast vollständig. Deshalb veränderte es das Aussehen des Toten nicht wirklich. Zumindest nicht für jemanden wie Guerin, der sich längst an Leichen gewöhnt hatte. Ob der Mann nur unrasiert gewesen war oder einen sehr kurz geschnittenen Bart getragen hatte? Nicht einfach zu bestimmen. Auffällig der halb geöffnete Mund, in dem sich bloß noch einzelne Zähne erkennen ließen. Waren die Fehlenden früher durch eine Teilprothese ersetzt worden, oder hatte er sie erst im Zusammenhang mit der Ermordung verloren? Das spielte eine wichtige Rolle beim Erstellen eines Bildes, das sie eventuell für die Öffentlichkeit anfertigen mussten, um dem Mann einen Namen zu geben. Darüber würde der Rechtsmediziner Auskunft geben, ohne dass man ihn danach fragen musste. Hoffentlich.

Trotz allem sollte es möglich sein, den Toten anhand seines Aussehens zu identifizieren. Zumindest von jemandem, der ihn zu Lebzeiten gut gekannt hatte.

Der Angelhaken hatte sich im Kragen des robusten und doch nachgiebigen Jeanshemdes verfangen. Vermutlich der Grund, dass der Stoff der Zugbelastung überhaupt standhalten konnte. Bei bloßem Verhaken in einem Weichteil oder an einer Stelle in der Körpermitte hätte sich der Leichnam rasch losgerissen und wäre wieder im Fluss versunken. Also doppeltes Pech für den Mörder, der dies erst so spät wie möglich, erfahren sollte.

3. Kapitel

Man hatte Guerin in einem Stadthotel ganz in der Nähe des Justizpalastes untergebracht. Immerhin lag Vesoul hundertfünfzig Kilometer von seinem Heimatort Colmar entfernt, da konnte er schlecht jeden Abend nach Hause fahren. Das Hotelgebäude stammte aus dem 16. Jahrhundert, natürlich im Innern modernisiert, aber trotzdem ziemlich eng, mit winzigen Zimmern. Zum Glück musste er sich tagsüber nicht in dieser Bleibe aufhalten; ein Schreibtisch stand im Polizeikommissariat Vesoul für ihn bereit, und für Routinerecherchen konnte er auf die Mitarbeiter der Abteilung zurückgreifen.

Sozusagen als Sahnehäubchen erhielt er Megane Gadient als persönliche Assistentin zugeteilt. Sie war eine fröhliche Mittvierzigerin im Rang einer élève-officier (entspricht in etwa einer Kommissaranwärterin), welche die Leute und die Gegend kannte, und, wie ihr Name besagte, eine Perle. Guerin verdankte sie vermutlich dem Präfekten persönlich.

An Guerins zweitem Tag in Vesoul stand ein Besuch bei Doktor Pierre, wie man den Rechtsmediziner hier nannte, an. Der hatte den Mann aus der Saône inzwischen genauer untersucht und wollte heute seinen vorläufigen Bericht näher erläutern.

Megane fuhr, Guerin blätterte auf dem Beifahrersitz in den kargen Unterlagen. Der Hefter enthielt erst wenige Angaben über den Fall. Einzig, dass es sich um einen Mord handelte, stand mit ziemlicher Sicherheit fest. Einen Suizid auf diese Art zu bewerkstelligen – eigentlich unvorstellbar. Zur Identität des Mannes zeichnete sich noch nicht einmal eine vage Möglichkeit ab. In der Vermisstenkartei fand sich bisher kein passender Eintrag. Nicht besonders ungewöhnlich, wenn man die kurze Liegezeit im Wasser in Betracht zog. Möglicherweise wurde der Mann noch gar nicht vermisst, oder er stammte aus dem Ausland.

Die Spurensicherung hatte anhand der Fotos des Toten eine erste Liste von Gegenständen erstellt, die sich bei der Leiche gefunden hatten. Kleidung und eventuelle weitere Funde an oder auch in der Leiche ließen sich erst nach der Untersuchung durch Doktor Pierre asservieren. Von einem Fundort im Sinne des Wortes konnte man genau genommen ebenfalls nicht sprechen. Diese Liste und die fotografischen Aufnahmen der Leiche bildeten die dünne Grundlage zum Beginn der Ermittlung.

Guerin sah nur kurz hoch, als Megane beim Schalten mit dem abgespreizten kleinen Finger leicht sein Bein streifte. Bestimmt ein Versehen. Ihm fiel ein, wie er so eine Situation noch vor gar nicht allzu langer Zeit angegangen wäre. Natürlich wäre er selbst gefahren, den Beinstreifer hätte er sich allerdings verkniffen. Zu plump. Normalerweise reichten einige Komplimente und bewundernde Blicke, um einer Frau wie Megane näherzukommen. Schon deshalb, weil er deutlich jünger war als sie, und seine guten Manieren verfehlten ihren Eindruck selten. Auch sein »Teure-Schuhe-Tick«, stieß bei Damen meistens auf Interesse. Daraus ergab sich Gesprächsstoff, eins führte zum anderen, und nicht selten endete das Ganze in einem Bett. Jedoch – alles Schnee von gestern: Er hatte kürzlich sein Lotterleben beendet und die absolut bezaubernde Michélle geheiratet. Ob und wie lange ihn das gegen Avancen von Frauen wie seine aktuelle Begleiterin immun halten konnte, würde sich zeigen.

Megane parkte vor einer modernen Klinik. Sie ging voraus, er trottete hinterher. Eher zufällig stellte er fest, dass sie auch von hinten ziemlich interessant aussah, zumindest ihre untere Hälfte. Ihr Rock reichte immerhin fast bis zu den Knien, war jedoch so eng, dass es wenig Fantasie bedurfte, was der elastische Stoff verdeckte. Vor allem ihr Hinterteil, das man ohne Übertreibung als markant bezeichnen konnte, beschäftigte ihn. Denn es kreiste beim Gehen irgendwie um ein imaginäres Zentrum. Absolut verwirrend, fand Guerin.

Zum »Glück« blieb sie bald vor einem Lift stehen, bevor er sich näher in den Sachverhalt vertiefen konnte.

Einige Geschosse tiefer erwartete sie Doktor Pierre bereits mit einem schwarzen Klemmbrett in der Hand, das er beim Sprechen mitbewegte, als wäre es überhaupt nicht vorhanden. »Herzlich willkommen im Reich des Hades!«, begrüßte er sie. »Sie sehen jedes Mal jünger aus, Mademoiselle«, schleimte er in Richtung Megane.

Außer einem schwachen Grinsen erntete er nichts dafür, stellte Guerin schadenfroh fest. Der Gebrauch der Anrede Mademoiselle war auch in Frankreich längst passé, aber Rechtsmediziner ticken überall etwas eigen, das wusste Guerin. Außerdem kannten sich die beiden vermutlich schon länger. Vielleicht bloß ein altes Ritual, das sie pflegten.

Der Doktor setzte eine ernste Miene auf. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen!«

Nachdem sie in einem nüchternen Raum Platz genommen hatten, legte der Doktor eine Skizze auf den Tisch, die Zeichnung eines stark stilisierten Menschen. Unzählige Kreuzmarkierungen bedeckten das Blatt. »Alles kleinere und mittlere Verletzungen. Keine Brüche, jedoch eingeschlagene Zähne und zerquetschte Finger. Der Mann wurde über längere Zeit misshandelt, bevor man ihn erst ertränkt und danach auf ihn geschossen hat. Todesursache war Ertrinken«, bekräftigte er.

Megane verzog angewidert das Gesicht. »Erschossen? Wozu? Ohne die sinnlose Schussverletzung wäre der Tod vielleicht als Unfall oder Selbstmord eingestuft worden.«

Guerin musterte sie kurz. »Sinnlos?«, wiederholte er. »Muss nicht sein. Vielleicht ein Racheakt. Ein Exempel?«

»Der Mörder konnte doch nicht damit rechnen, dass die Leiche wieder auftaucht«, warf Megane ein. »An wen sollte die Botschaft denn gehen?«

»Vielleicht an jemanden der schon im Fluss liegt«, meldete sich der Doktor.

Megane sah ihn entgeistert an. »Botschaften an andere Leichen, na klar! Sie hatten schon immer eine blühende Fantasie, Herr Doktor«, stichelte sie.

Guerin schüttelte den Kopf. »So abwegig finde ich das jetzt auch wieder nicht. Pflegen Sie denn keine Rituale, Madame, die an sich sinnlos sind?«

Megane schien skeptisch. »Geben Sie mir ein Beispiel, Herr Kommissar.«

»Salz über die Schulter werfen, Holz anfassen, darauf achten, mit welchem Bein Sie zuerst aufstehen …« Er stockte kurz. Seine Fantasie hatte ihm umgehend ein passendes Bild geliefert.

Sie schüttelte den Kopf. »Das wäre doch Blödsinn! Hier geht es darum, einen Mord zu vertuschen. Der Täter hat es uns leicht gemacht, seine Tat als solches zu erkennen. Ohne Not!«

»Das wird uns bestimmt noch eine ganze Weile beschäftigen«, sinnierte Guerin. »Weitere Auffälligkeiten?«, fragte er den Pathologen. »Gegenstände in den Taschen?«

Der Doktor schüttelte den Kopf. »Absolut nichts. Außer der Kette, natürlich.«

»Lassen sich Rückschlüsse aus den übrigen Verletzungen ziehen?«

»Hier, die kreisrunden Hämatome auf der Brust.« Er zeigte auf einige Kreuze auf der Skizze. »Scheint so, als wurde er mit einem harten Gegenstand unter Wasser gedrückt. Bestimmt kein Ruder oder ein Bootshaken. Eine kurze Eisenstange möglicherweise.«

»Sie haben doch bestimmt Fotos von den Abdrücken?«, fragte Guerin.

Doktor Pierre nickte. »Alles im Hefter, den ich für Sie zusammengestellt habe. Auch Röntgenbilder der paar Zähne, die man ihm noch gelassen hat.«

Guerin erhob sich. »Danke, Herr Doktor!«

***

Le tour lief in der letzten Woche. Guerin hatte inzwischen mit Megane unzählige Plätze am Oberlauf der Saône besucht, stets mit dem Foto des Toten und einem Muster der Ankerkette ausgestattet. Sie hatten Bootsbauer und Ladenbesitzer genauso befragt wie Hafenmeister und Gemeindeangestellte, Anwohner sowie Personal der Restaurants am Fluss und in der näheren Umgebung. Das Resultat: Keiner wollte den Mann jemals gesehen haben. So eine Kette dagegen hatte fast jeder schon einmal irgendwo bemerkt. Natürlich hatte Guerin den Hersteller gleich zu Anfang gesucht und auch gefunden. Diese Ketten wurden im ganzen Land überall verkauft; völlig illusorisch, damit auf irgendwelche brauchbaren Hinweise zu hoffen. Guerin vermutete, dass das gefundene Kettenstück irgendwo herumgelegen hatte und vom Täter entwendet worden war. Da es mit einem Schweißbrenner abgetrennt worden war, lag der Verdacht nahe, dass es sich um einen Zufallsfund des Mörders handelte. Schweißbrenner standen schließlich nicht an jeder Ecke herum und konnten auch nicht von jedermann ohne Fachkenntnisse benutzt werden. Guerin hoffte, dass jemand genau so ein Stück Kette vermisste. Dann hätte er schon mal einen Ort.

Vergeblich. Guerins Enttäuschung wurde durch die Umstände der Untersuchung gedämpft. Prachtvolles Wetter, jeden Tag im Freien und am Fluss. Er genoss es, die leicht bekleideten Urlauberinnen zu befragen. Wer konnte es ihm verdenken, dass er seinen Charme einsetzte, solange es der Wahrheitsfindung diente? Ohne, dass sie es abgesprochen hätten, übernahm Megane die Herren, bei denen sie mit ihrer einnehmenden Art meistens genauso gut ankam wie er bei den Damen. Außerdem wirkten sie in zivil und als Paar offenbar weniger wie Polizisten, eher wie Urlaubsbekanntschaften, mit denen sich die Touristen ganz locker unterhielten.

Trotzdem brauchte Guerin bald einen Fortschritt, sonst blieb der Fall unlösbar. Immer noch keine Anhaltspunkte, um wen es sich bei dem Toten handelte. Keine weiteren Erkenntnisse oder auch nur der vageste Hinweis, dass jemand glaubte, dem Opfer einmal begegnet zu sein. Sobald der Sommer zu Ende ginge, würde sich die gesamte auf den Tourismus ausgelegte Lebensweise entlang des Flusses verändern. Es war schon möglich, dass ein Zeuge sich später an etwas erinnerte, dem er heute keine Bedeutung beimaß. Ein Name zum Beispiel, oder einer dieser Zufälle, die ab und zu weiterhalfen.

Auch Megane blieb ihm ein Rätsel. Sie behandelte ihn, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen. Binnen Kurzem hatte sie seine Gewohnheiten und Vorlieben herausgefunden und sich darauf eingestellt, an sich nichts Ungewöhnliches – für eine verliebte Frau. Doch Gefühle schien sie nicht für ihn zu hegen. Ihr lasziver Gang, die zur Schau gestellten Reize, ihre Liebenswürdigkeit galten allen gleichermaßen, ohne dass er dabei besondere Absichten erkennen konnte. Dass sie eine Lesbe sein könnte, hatte Guerin rasch verworfen. Es knisterte durchaus manchmal, wenn eine zweite attraktive Frau erschien, allerdings nicht zwischen den Frauen. Nur eines fiel ihm auf: Megane schien es nicht zu mögen, wenn eine ihr möglicherweise ebenbürtige Konkurrenz auftauchte. Ein eher männliches Verhalten, fand Guerin, nur ohne das übliche Gehabe. Es gab auch weder Gehässigkeiten noch Sticheleien; Megane legte sich höchstens noch mehr ins Zeug.

4. Kapitel

Muriel saß an der Rezeption und sah nachdenklich dem Rentner Meinrad Danner hinterher, der sich gerade verabschiedet hatte. Der Mann schien das ideale Opfer zu sein. Er hatte letztes Jahr schon ein Boot gemietet und kannte den Fluss und die Penichette.

Tatsächlich war er in diesem Jahr ohne die nervige Begleiterin erschienen, die Muriel damals davon abgehalten hatte, sich ihm zu nähern. Auf sanftes Nachfragen hin hatte der Alte durchblicken lassen, dass sich seine Lebensgefährtin aus dem Staub gemacht habe. Dämliche Kuh! Aber um so besser für Muriel. Nur eins ließ sie zögern: Der Mann stammte aus dem knapp hundert Kilometer entfernten Basel. So kurz nach der Polizeiaktion, die sie mit ihrer letzten »Sichtung« ausgelöst hatte, schien ohnehin erhöhte Vorsicht geboten. Normalerweise bevorzugte sie Herren aus Norddeutschland oder wenigstens aus dem Osten der Republik. Allerdings lief ihr die Zeit davon. In sechs Wochen würde der Tourismus an der Saône deutlich abflauen. Dann sanken nicht nur die Temperaturen, sondern auch die Preise. Mit armen Schluckern, die sich die Hauptsaison nicht leisten konnten, wollte sie sich nicht abgeben. Im Fluss mochte man dann auch nicht mehr baden, geschweige denn die Nächte draußen verbringen.

Muriel straffte sich. Sie vermochte sich durchaus eine Ehe mit einem vermögenden Herrn vorzustellen – wenn sie nicht zu lange dauerte und er sie dafür mit einem ansehnlichen Erbe entschädigte. Allerdings hatte sie diese Möglichkeit eher für später vorgesehen, wenn ihre Reize langsam zu schwinden begannen. Jetzt wollte sie ihren Winterwohnsitz im Elsass noch nicht aufgeben. Andererseits, vornehm in Basel leben? Sie nahm sich vor, an einem freien Tag einmal hinzufahren und sich anzusehen, wo und wie der alte Danner wohnte. Die Adresse hatte er natürlich angegeben, wie alle, die bei ihr ein Hausboot mieteten. Besser einen alten Mann erdulden als einen kargen Winter, dachte sie. Immerhin wusste sie schon ziemlich viel über ihn. Auf jeden Fall ein großzügiger Typ. Seine Verflossene hatte vor Schmuck und teuren Kleidern nur so gestrotzt, und er hatte Muriel bei der Schlüsselübergabe eben mehr als deutlich gezeigt, dass er ihren Verlockungen keineswegs abgeneigt gegenüberstand. Außerdem hatte er zuvor mehr über sich preisgegeben, als klug für ihn gewesen wäre. Auch das es keine lästigen Nachkommen gab, die einer Lebensgefährtin das Erbe streitig machen konnten.

***

Guerin schlenderte durch eine Bootswerft, die er sich früher schon mal kurz angesehen hatte. Sie lag neben einem Jachthafen, der über rund vierzig moderne Anleger für Haus- und Sportboote verfügte. Das Areal der Werft wirkte ziemlich überfüllt. An Wasser wie an Land lagen alte Lastkähne in diversen Stadien des Verfalls herum. Das Gelände erinnerte Guerin mehr an einen Schrottplatz als an eine Werft. Das Geschäft mit den Flusstransporten lag schließlich schon längst darnieder. Wenigstens sorgte der Hausboottrend für neues Einkommen in der Gegend. Gearbeitet wurde in den Hallen der Werft ausschließlich an eleganten, teuren Booten; die alten Frachtkähne lagen nicht nur sinnbildlich auf Halde. Der ideale Ort, um über ein herumliegendes Stück Ankerkette zu stolpern, deswegen war Guerin hier.

Außerdem hatten sich bei seinem letzten Besuch kaum alle Angestellten im Werk aufgehalten. Und obwohl er und Megane ein Foto des Toten ans Schwarze Brett der Firma genagelt hatten, bedeutete dies nicht, dass es sich jeder Mitarbeiter auch genauer angesehen hatte. Er hatte sich beim Besitzer angemeldet, aber darum gebeten, das Personal nicht über den Grund seines Besuchs zu informieren.

»Schauen Sie sich ruhig um. Ich hab nichts zu verbergen, und meine Leute auch nicht«, sagte der Mann, noch bevor er Guerin die Hand geschüttelt hatte.

Guerin nickte erfreut. Kein richterlicher Beschluss nötig, das fand er sehr anständig. Er schätzte, dass die Beamten, um alle Räume und Boote zu durchsuchen, mehrere Tage bräuchten. Nun, wenn er eines hatte, dann Zeit, und eine angenehme Beschäftigung war besser, als bloß Däumchen zu drehen. Hauptsache, die Gedanken blieben am Ball beziehungsweise am Fall. Schon oft hatte sich bei solchen scheinbaren Routinedurchsuchungen etwas ergeben, das seinen Gedanken eine neue Richtung gab.

Bald stellte Guerin fest, dass längst nicht alle auf dem Gelände herumstehenden Boote vor dem Verlassen geräumt worden waren. Unmengen von persönlichen Dingen wie Kleidung, Bücher, Kosmetikartikel und alte Lebensmittelkonserven füllten Regale und Schränke. Ein ausgezeichneter Platz für einen Clochard oder einen gesuchten Kriminellen, ging Guerin durch den Kopf. Was hier lagerte, reichte Monate oder sogar Jahre zum Überleben, inklusive Wohnen und Schlafen.

Dass der Tote in diese Kategorie gehörte, glaubte Guerin jedoch nicht. Der Täter schon eher. Natürlich brauchte auch so jemand ab und zu Bargeld. Gelegenheiten, um einsame Wanderer oder Radfahrer auszurauben und im Fluss verschwinden zu lassen, gab es ohne Frage jede Menge. Der Täter könnte das spätere Opfer zur Übernachtung auf einem stillgelegten Boot in der Werft eingeladen haben – leichtes Spiel mit einem Schlafenden. Kurzer Weg ins Wasser. Einen an sich sinnlosen Kopfschuss, um eine falsche Spur zu legen. Genügend Zeug, um eine Leiche zu beschweren, lag auch herum, ohne dass sein Fehlen irgendjemandem auffiele. Je länger Guerin darüber nachdachte, desto plausibler erschien ihm das Ganze. Er würde sich damit beschäftigen müssen, ob hier mehr Leute verschwanden als im landesüblichen Durchschnitt. Oder zumindest an anderen Flüssen in Frankreich.

***

Die Truppe rückte früh am nächsten Morgen in der Werft an. Guerin hatte zehn Beamte mitgebracht, die sich so auf dem Gelände verteilten, dass sich niemand ungesehen davonschleichen konnte. Er hielt die Augen offen, ob jemand auf einem der alten Boote übernachtet hatte. Systematisch durchsuchten sie eine Kajüte nach der anderen. Guerins Gefühl erwies sich als richtig. Insgesamt fünf Personen holten er und seine Gendarmen aus den Kojen, zwei Pärchen und einen einzelnen Mann, jeweils aus verschiedenen Booten. Die Pärchen, die sich ausweisen konnten und aus der Gegend stammten, ließ Guerin bald wieder laufen, den Mann ohne Papiere dagegen vorläufig festnehmen.

Der verhaftete Typ schwieg eisern. Guerin ließ ihn erst mal in einem Einsatzwagen schmoren, während seine Spurensicherer weiter das Boot durchsuchten. Eine alte Peniche, die man schon vor langer Zeit auf Holzbalken ans Ufer gestellt hatte. Sie stand ganz hinten am Waldrand, umgeben von niederem Gebüsch. Ein deutlich erkennbarer Trampelpfad führte zwischen den Sträuchern hindurch zum Steg am Heck. Dass dieser Kahn nie wieder schwimmen würde, konnte sich auch ein Laie leicht ausrechnen. Durch die Ritzen der vermoderten Planken sah man teilweise ins Innere des Rumpfes. Da und dort wuchsen Grasbüschel auf dem Deck. An Stellen, wo Wind und Regen genug Material abgelagert hatten, um Wurzeln einen Halt und etwas Feuchte zu bieten, standen sogar kleine Stauden.

Die Kabine hingegen hatte sich erstaunlich gut gehalten, auch wenn die Bettwäsche vor Dreck starrte und es nach altem Schweiß und Essensresten müffelte. Der Fußboden war bedeckt mit Wollmäusen, Papierfetzen und Styroporverpackungen, dazwischen leere Flaschen und offene Konservendosen. Guerin rümpfte die Nase. Ein echter Messie! Offenbar hauste er hier schon seit einiger Zeit. In den Schränken fanden sich tatsächlich Essensvorräte für mehrere Monate. Dass sich der Bewohner nicht bloß von Konserven ernährte, bewiesen die herumliegenden Fast-Food-Verpackungen und leeren Weinflaschen.

Falls der Kerl Wertsachen besaß, bewahrte er sie allerdings woanders auf als hier. Außer einigen Münzen fanden sich weder Geld noch Schmuck oder Dokumente in der Kabine. Auch seine Hosentaschen enthielten abgesehen von Unrat und Kleinkram nichts von Belang. Seine für einen Obdachlosen recht umfangreiche Garderobe fand sich über mehrere Räume im Boot verteilt. Als Guerin sich ein Hemd genauer besah, stutzte er. Das Etikett war sauber herausgetrennt, nicht bloß abgeschnitten. Oft ein Hinweis auf gestohlene Ware oder auf Leute, die ihren normalen Aufenthaltsort zu vertuschen suchten.

Dasselbe Bild bei den übrigen Kleidungsstücken, unter denen sich elegante Anzugshosen und derbe Jeans in diversen Größen mischten. Ein ähnliches Bild bot sich bei den Schuhen: fünf Paare, drei Schuhnummern. Offenbar stammte die Kleidung von verschiedenen Personen. Womöglich auf all den hier liegenden Booten zusammengesucht. Oder von diversen Wäscheleinen geklaut. Die einzige Gemeinsamkeit der Stücke, alle waren gleich dreckig. Unterwäsche hingegen, schien rar zu sein. Davon besaß der Clochard nur zwei Garnituren. Die eine Unterhose trug er, die andere hing schlaff an einer Schranktür.

Messer oder übrige Dinge, die man als Waffe bezeichnen konnte, fand Guerin nicht. Er vermutete jedoch, dass der Typ nicht so friedlich lebte, wie es den Anschein hatte. Die meisten dieser Kerle waren erfahren im Umgang mit Behörden und vorsichtig genug, sich nicht mit verdächtigen Gegenständen erwischen zu lassen. Dafür sprach auch, dass er absolut keinerlei Fragen beantwortete. Sprechen konnte er allerdings: »Lasst mich frei, ihr Schweine! Reine Willkür ist das! Ich hab nichts getan. Ihr Knechte eines faschistischen Polizeistaats, lasst mich frei!«

Der will sich als linker Spinner darstellen, vermutete Guerin, aber dem ging er nicht auf den Leim. Die fehlenden Etiketten gaben den Ausschlag. Zu typisch für Kriminelle. Solange die Spurensicherung zu keinem klaren Ergebnis gelangte, musste er den Kerl vermutlich trotzdem bald laufen lassen. Guerin brauchte eine Spur. Ein Indiz oder einen Gegenstand, die zu einem Haftbefehl führen konnten.

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Muriel nutzte den späten Nachmittag für einen Besuch bei Meinrad Danner. Sie hatte kurz im Büro nachgesehen, wo seine Penichette, die Chantal lag. Immer noch bloß wenige Kilometer vom Bootsverleih entfernt. Danner schien keinen Ehrgeiz darauf zu verschwenden, möglichst weit zu kommen. Natürlich kannte Muriel die Stelle, an der er angelegt hatte. Ganz in der Nähe eines Restaurants, »dieses« Restaurants, aber das spielte für sie keine Rolle mehr. Inzwischen hatte das Haus täglich und fast rund um die Uhr geöffnet, ideal für Leute wie Meinrad, die sich gern kulinarisch verwöhnen ließen, ohne einen langen Weg nach Hause vor sich zu haben.

Auch Muriel selbst aß ab und zu dort. Man kannte sich schließlich und empfahl sich gegenseitig. So konnte sie Danner im Glauben lassen, dass sie einen Spaziergang mit anschließendem Bad geplant habe und bloß zufällig auf ihn gestoßen sei. Wie sie ihn einschätzte, würde er sie zum Essen einladen, sobald sie dieses Restaurant oder ein Hungergefühl auch nur erwähnte. Sie würde sich während des Besuchs entscheiden, wann es so weit war, auch darüber, wie der Abend enden sollte. Am Köder würde sie bei einem so dicken Fisch bestimmt nicht sparen.

Muriel stelle ihr Fahrrad beim Restaurant ab. Erst spazierte sie an Danners Penichette vorbei, die dieser vorschriftsgemäß am Ufer vertäut hatte.

Hohe Bäume beschatteten das Boot, sodass der Alte auf dem Oberdeck in einem Liegestuhl dösen konnte, ohne sich einen Sonnenbrand zu holen. Er reagierte nicht auf Muriel, die ihn aus den Augenwinkeln genau beobachtete, während sie vorbeischlenderte.

Ein kurzes Stück ging sie noch weiter, dann zog sie sich im Gebüsch um, also eigentlich aus. Den knappen Bikini hatte sie schon die ganze Zeit unter der Kleidung getragen. Sie gönnte sich ein ausgiebiges Bad, währenddessen sie immer wieder unauffällig zum Boot hinüberspähte. Danner regte sich die ganze Zeit über nicht.

Schließlich legte Muriel sich unter die Bäume. Strandtuch und Kosmetikartikel hatte sie in einer voluminösen Tasche bei sich. Als sie auf dem Handtuch lag und die Augen ihr zuzufallen drohten, sah sie vorsichtshalber auf die Uhr. Schon bald Essenszeit, dann würde sie ihn aufscheuchen. Wem sollte es verdächtig vorkommen, wenn sie zufällig einen Kunden am Fluss traf und sich nach seinem Befinden erkundigte? Seltsam könnte es eher anmuten, wenn sie einfach achtlos vorbeiginge.

***

Kommissar Guerin stand kurz vor dem Feierabend, als Megane ihn anrief. Offenbar hatten die Techniker gerade die Schatzkiste des Clochards gefunden. Guerin bestand darauf, dass die Arbeit ruhen solle, bis er eingetroffen sei. Vielleicht bot der Inhalt eine Möglichkeit, sich dem Mann zu nähern, der weiterhin jede Auskunft verweigerte. Er machte sich eilends auf den Weg zur Werft.

Die Männer von der Spurensicherung machten ihm respektvoll Platz. Guerin fragte sich, ob die Leute hier einfach nur auf Zack waren, oder ob sich die Gerüchte über seine spektakulären Fälle und phänomenale Aufklärungsquote bereits bis zu ihnen herumgesprochen hatten. Er schickte bis auf zwei Kollegen alle nach Hause. Wie erwartet, hatte der »Schatz«, in diesem Fall ein Alukoffer, nicht einfach in der Kajüte gelegen. Das Schiff hatte einmal einen Innenbordmotor besessen, und daher lagen viele Teile der technischen Ausrüstung wie Tanks für Wasser oder Treibstoff unterhalb des Kajütenbodens. Zugang zu diesem etwa achtzig Zentimeter hohen Unterdeck boten einige Klappluken. Man konnte sich dort unten bewegen, jedoch nur auf allen vieren. Als Guerin sich selbst ein Bild vom Fundort des Koffers machte, entdeckte er zudem einen vergleichsweise sauberen Schlafsack unter einem der Lukendeckel, der sich von unten verriegeln ließ. Vermutlich die letzte Zuflucht des Obdachlosen, wenn er jemanden kommen hörte. Hinter der vorgebauten Wand am Rand des Rumpfes fand sich eine Stelle, an der ein Mensch auch auf diesem Deck aufrecht stehen konnte. In dieser schrankartigen Konstruktion befand sich auf Augenhöhe ein Türspion, durch den man die gesamte Kajüte überblicken konnte. Den Alukoffer hatten die Spurensicherungsbeamten eher zufällig darin entdeckt, weil sie das Glas des Spions von außen entdeckt hatten und ihm nachforschten. Das Versteck an sich dürfte schon länger bestanden haben. Neu wirkte nur dieser Spion. Guerin überlegte sich, ob all der Müll in der Kabine bloß davon abhalten sollte, genauer hinzusehen. Alles in allem ein guter Platz, um sich auch für längere Zeit zu verstecken.

Das Spurensicherungsteam hatte den Koffer für den Kommissar wieder zugeklappt und an die Fundstelle zurückgelegt. Guerin ließ ihn ungeöffnet zum Justizpalast schaffen, dann schickte er die letzten Kollegen nach Hause. Endlich allein! Er wollte den Ort auf sich wirken lassen, und dazu musste er ebenso verlassen sein, wie der Landstreicher ihn normalerweise erlebte.

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