Kitabı oku: «Muriel», sayfa 3
5. Kapitel
Irgendwann hatte Muriel genug davon, auf Danners Erwachen zu warten. Sie schlüpfte in ihre Kleider und rückte ihr ausladendes Dekolleté zurecht. Auch der geschlitzte Rock ihres Kleides, der den Blick auf ihre gebräunten Schenkel freigab, sollte seine Wirkung nicht verfehlen. Sie stellte sich neben das Boot und warf einen Kieselstein ins Wasser, um auf sich aufmerksam zu machen. Danner hob den Kopf, sah sich um.
»Hallo!« Sie winkte ihm lächelnd zu.
Er wirkte verschlafen. »Hallo«, gab er kraftlos zurück. Erst als er erkannte, wer ihn da geweckt hatte, schob er sich die Brille auf die Nase. »Sie, Madame?«
»Ich wollte Sie nicht stören«, entschuldigte sie sich.
»Aber nicht doch. Welch eine angenehme Überraschung. Kommen Sie bitte an Bord, Madame!« Er schien leicht verwirrt, aber auch sehr erfreut.
Gespielt zögerlich balancierte Muriel über das angelegte Landungsbrett. Danner hatte sich inzwischen erhoben, war vom Oberdeck heruntergestiegen und bot ihr seine Hand an. »Bitte, Madame!«
Sie griff beherzt zu und ließ sich an Deck ziehen, wobei sie den Rock etwas raffte und ihm viel Bein zeigte. Als sie sich extra weit vorbeugte, um ihre Tasche abzustellen, spürte sie seine Blicke auf ihrem Busen fast körperlich. Meinrad hatte ja keine Ahnung, dass er genau das tat, was sie bezweckte.
Mit leicht belegter Stimme sagte er: »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein, vielleicht?«
Sie gab sich verlegen. »Ich vertrage Alkohol nicht besonders gut auf leeren Magen.«
Er reagierte sofort. »Aber natürlich, Madame. Das hätte mir auch direkt einfallen können. Ich esse jeden Abend in diesem ausgezeichneten Restaurant da oben!«
Er deutete eifrig flussaufwärts. »Es wäre mir eine Riesenfreude, wenn Sie mich heute begleiten würden!«
Sie wand sich kokett. »Wie nett von Ihnen. Aber das kann ich doch nicht annehmen. Einfach so?«
»Aber weshalb denn nicht? Ich würde mich unbeschreiblich darüber freuen. Es ist so schön hier. Auch das Boot ist perfekt. Jedoch so ganz allein? Ihre Gesellschaft würde meinen Aufenthalt endgültig unvergesslich machen.«
Muriel gab sich geschlagen. »Wenn Ihnen so viel daran liegt. Hungrig bin ich tatsächlich.«
Danner blühte richtiggehend auf. »Nehmen Sie doch bitte kurz Platz. Ich ziehe mich rasch um.«
Muriel setzte sich brav hin. Er verschwand in der Kabine. Deutlich zu hören, dass er sich duschte. Sie nickte zufrieden. Er schien zu wissen, was sich gehörte. Sie würde zwar einiges in Kauf nehmen, um an sein Vermögen zu gelangen, aber wenn sie sich dabei nicht ekeln musste, umso besser. Wenn er sich Mühe gab, würde sie ihm seine letzten Monate genau so versüßen, wie er es verdiente und danach seine hingebungsvoll trauernde Witwe geben. Zumindest so lange, bis alles geregelt sein würde.
***
Guerin ließ es sich nicht nehmen, bei der Sichtung des Kofferinhalts von Anfang an dabei zu sein. Ähnlich wie ein Rechtsmediziner diktierte der Leiter der Abteilung Spuren seine Eindrücke in ein Aufnahmegerät: »Koffer der Marke Del Sey, Paris. Graue Hartschale, Kanten aus eloxiertem Aluminium. Größe 70 x 55 x 13 Zentimeter. Schlösser nicht verriegelt.«
Der Techniker sah kurz hoch. »Kann ich öffnen, Herr Kommissar?«
Guerin nickte zustimmend. »Bitte!«
Der Techniker rollte mit den Augen, als der Deckel aufsprang. »Das dürfte einige Zeit dauern, Herr Kommissar, bis wir damit durch sind. Wollen Sie wirklich so lange warten?«
Guerin zuckte mit den Schultern. »Bis Sie eine grobe Übersicht haben, bleibe ich.«
»Ok.« Der Techniker griff zu einer Kamera und knipste etliche Bilder. Danach klaubte er eine schwarze Brieftasche aus dem Sammelsurium im Innern des Koffers und begann, die einzelnen Fächer zu leeren und auf dem Tisch auszubreiten. Auch davon machte er Fotos. Danach beschriftete er Zettel, die den Gegenständen beigefügt wurden.
Guerin räusperte sich. »Irgendwas, womit sich der Kerl auf dem Boot identifizieren ließe oder uns sonst weiterhilft?«
Der Techniker grinste. »Zaubern kann ich nicht, Herr Kommissar! Das dauert nun mal.«
Guerin gab nach. »Ich genehmige mir einen Kaffee, dann komme ich wieder.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Herr Kommissar«, empfahl der Mann.
Als Guerin eine halbe Stunde später den Raum wieder betrat, hatte der Techniker bereits eine respektable Liste verfasst. Unter anderem war eine eckige Blechdose mit Deckel aufgeführt. Ihr Inhalt interessierte Guerin: mehrere Portemonnaies und Brieftaschen. Alle enthielten Kleingeld und weitere übliche Dinge wie Quittungen, Fotos, Heiligenbildchen und so weiter, die im Einzelnen noch nicht erfasst waren. Keine Ausweise oder Bankkarten. Gesamtbetrag aller Börsen etwa fünfundzwanzig Euro. Lose im Koffer: ein lädiertes Jagdmesser mit Horngriff, ein Medaillon mit Silberkette, ein zerfleddertes Pornoheft, mehrere Kugelschreiber, ein Notizbuch, schwarz, kaum Einträge. Eine Papierschere, Büroklammern und Gummibänder. Ein Umschlag mit einigen schwarz-weißen Fotos. Kulturbeutel eines Mannes, darin: gebrauchte Rasierklingen, Nagelpflegewerkzeug, zwei Pinzetten, Rasierwasser und ein Parfum, frische und gebrauchte Papiertaschentücher, Zahnstocher, ein Streifen Tabletten mit der Aufschrift Ibuprofen, also ein Schmerzmittel.
Der Techniker winkte ihn heran. »Das hier könnte vielleicht doch interessant sein. Eine evangelische Taufurkunde. Name des Kindes: Georg Wetzel, geboren am 26. Mai 1949, getauft am 21. August 49. Die Taufpatin hieß Dora Müller.«
Guerin runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, ob das was mit unserem Mann zu tun hat. Eigentlich passt der Koffer nicht zu ihm, eher die Blechdose.«
»Das ist auch mein Eindruck«, bestätigte der Techniker. »Womöglich hat er den Koffer gefunden«, er stockte. »Oder entwendet.«
»Könnte passen«, bestätigte Guerin. »Aber einige der Dinge dürften doch von ihm selbst stammen. Welcher normale Reisende würde ein solches Konvolut an unpraktischen Dingen mit sich herumschleppen?«
»Es erinnert mich an Kram, den jeder irgendwo lagert. Bloß, dass er hier in einem Koffer liegt anstatt in diversen Schubladen«, wandte der Techniker ein. »Bei Durchsuchungen finden Sie oft genau solche Mischungen.«
Guerin musste ihm Recht geben. Damit verdichteten sich die Hinweise, dass der Mann tatsächlich schon seit einiger Zeit in der Peniche hauste, offenbar unbemerkt von den Werftarbeitern.
***
Muriel schlich sich aus dem Salon der Chantal, ohne Meinrad aufzuwecken. Sie hatten nach dem Essen auf dem Boot eine Flasche Wein getrunken und locker geplaudert, bis er schließlich eingenickt war. Sie regte sich nicht darüber auf, dass ihre weiblichen Reize ihn nicht wachzuhalten vermocht hatten. Das hatte sie gar nicht beabsichtigt, und eigentlich fühlte sie sich eher erleichtert. Ob er überhaupt noch imstande war, mit einer Frau zu schlafen, würde sich bei Gelegenheit erweisen.
Für Muriel spielte es keine große Rolle. Aber es fiel natürlich leichter, einen Mann durch gelegentlichen Sex bei Laune zu halten, als durch bloße Sympathie und ihn schließlich dazu zu bringen, sie zu heiraten. Egal. Sie würde sich dem einen wie dem anderen stellen.
Er hatte auf jeden Fall durchblicken lassen, dass er nicht gern allein weiterleben wollte, ohne sie dabei ins Auge zu fassen. Er schien nicht zu erwarten, bei einer Frau wie Muriel überhaupt eine Chance zu haben. Das gab ihr Zeit, ihre Strategie genau auf ihn auszurichten, damit sie ihn perfekt vorbereitet an Land ziehen konnte. Ihn zu heiraten, wäre nur das nächste Etappenziel. Danach gälte es, ihn so schnell wie möglich unter die Erde zu bringen. Warum sich länger als nötig mit einem Kerl abgeben, der ihr außer Geld nichts zu bieten hatte? Dass sie das schaffen würde, daran zweifelte sie nicht, aber noch wusste sie nicht, wie sie es anstellen wollte. Ihr würde bestimmt etwas einfallen; wie immer. Und am Ende winkte eine deutlich fettere Beute als üblich. Muriel sah sich schon als Hausherrin durch Danners nobles Anwesen schlendern. Sie musste sich allerdings auch weitaus mehr vorsehen, denn als reiche Witwe würde sie automatisch zur ersten Verdächtigen.
***
Guerin konfrontierte den Clochard am nächsten Morgen mit den gefundenen Fotos und den Aufnahmen vom Inhalt des Koffers. Der Mann schnaubte verächtlich. »Das habt ihr mir doch untergeschoben, ihr Faschos!«
Den Taufschein hielt Guerin daraufhin noch zurück, obwohl er nicht einmal glaubte, dass das Dokument etwas mit dem Unbekannten zu tun hatte. Die Reaktion des Clochards auf den Anblick wollte er gern unverfälscht bekommen: Er musste den Kerl überraschen, und zwar bald. Allzu lange würde Guerin ihn nicht mehr festhalten können. Einzig, dass der Clochard seinen Namen nicht nennen wollte, ließ noch etwas Spielraum zu.
Guerin unterdrückte seinen Ärger darüber, dass der Typ so hartnäckig schwieg. Aber sie konnten ihm nichts nachweisen, und nicht einmal die gehorteten Portemonnaies waren ein Grund, ihn anzuklagen. Einen echten Bezug zu der gefundenen Leiche konnte Guerin daraus nicht konstruieren. Dazu benötigte er ein klares Indiz, einen Gegenstand nachweislich aus dem Besitz des Toten oder eine ihm zuzuordnende Blutspur. Auf das absolute Nonplusultra zu hoffen, die bei der Tat verwendete Pistole, erschien müßig. Aber Guerin hatte schon zuviel erlebt, um es grundsätzlich auszuschließen.
***
Meinrad Danner erwachte erst gegen zehn Uhr am nächsten Vormittag. Er trank zwar ab und zu ein Glas Rotwein, jedoch nicht den größeren Teil von zwei Flaschen. Er erinnerte sich daran, dass er mit der Dame vom Bootsverleih, Madame Muriel, zurück aufs Boot geschlendert war.
Eine fast leere Weinflasche stand immer noch auf dem Tisch in der Kajüte. Eine aus seinem Vorrat. Die musste ihm den Rest gegeben haben, ausgerechnet an diesem Abend! Nie hätte er erwartet, dass diese aufregende Frau sich mit ihm abgeben würde. Dass sie mit zurück zum Boot gekommen war … Diese Haut, die wunderbar geformten Brüste, die unglaublich schönen Beine … Und was machte er daraus? Neben ihr eingepennt. Super!
Bisher hatte er immer gedacht, solange man sich im Geist jung fühlt, ist man nicht alt. Seine Schwäche der letzten Nacht verwies auf das Gegenteil. Fehlte bloß noch, dass er mit offenem Mund geschnarcht hatte. Stirnrunzelnd betrachtete er sich im Spiegel. Eigentlich doch ganz passabel, für seinen Jahrgang. Sie hatte ihm immerhin ebenfalls ab und zu nachgeschenkt. In ihrem Alter sollte man doch eigentlich wissen, ab wann es prekär werden konnte. Trotzdem würde er sich bei ihr mit einem riesigen Blumenstrauß entschuldigen. Schließlich hatte er ihr einen schönen Sommerabend gestohlen, den sie sicher viel lieber anders verbracht hätte.
***
Heute sollte die Bestandsaufnahme auf dem Bootswrack des Clochards zu Ende gehen. Megane hatte geduldig gewartet, bis sich der Letzte der Spurensicherer verabschiedete. Erst danach sah sie sich die Bleibe dieses Mannes noch mal in Ruhe an. Sie musste ein paar Mal tief durchatmen, um sich mit dem Geruch zu versöhnen, der ihr Übelkeit bereitete und sich wie ein Film über ihre Gedanken legte. Sie stand nicht zum ersten Mal in einer zugemüllten Wohnung, deshalb kannte sie den Gestank, der aus der Mischung von ungewaschenen Kleidern, vergammeltem Essen und Schimmel resultierte. Hier jedoch fehlte etwas. Zu eintönig, irgendwie flacher, als er sein sollte.
Sie betrachtete den Müll zu ihren Füßen. Leere Lebensmittelverpackungen jeder Art, aber außer einigen dunklen Rückständen in Pizzaschachteln keinerlei Essensreste. Die müsste man in allen Stadien der Verwesung erwarten bei jemandem, der kein fließendes Wasser zur Verfügung hatte. Ob sich ein Messie die Mühe machte, die Sachen im Fluss zu waschen, um sie danach zurück zum übrigen Müll zu legen? Ausschließen konnte man bei solchen »Sammlern« kaum etwas, aber realistisch erschien ihr das nicht.
Überhaupt schien die Zusammensetzung der Abfälle kurios. Wenn ein Mensch aufgrund einer psychischen Störung Müll hortete, bezog sich das anfangs auf Dinge von Wert – Gebrauchswert in erster Linie. Einen Stuhl, den er jahrelang benutzt hatte, den konnte so jemand nicht einfach wegschmeißen. Megane grinste. Fast so, als hätte er eine Art Gnadenbrot verdient. Genauso Bücher, die man liebte. Danach zum Beispiel Zeitschriften mit interessanten Inhalten. So entwickelte sich das weiter. Das Sammeln von richtigem Müll stand am Schluss einer Messie-Karriere. Wenn sich die Person sozusagen ergeben hatte.
Plötzlich fühlte sie sich beobachtet. Aber hier war niemand, sie hatte alle fortgeschickt. Und wenn jemand gekommen wäre, sie hätte ihn auf jeden Fall gehört. Trotzdem, auch der Geruch wirkte unvermittelt wieder intensiver. Schweiß, dachte sie. Abgestandener Männerschweiß. Die Schwaden schienen nach ihr zu greifen. Unaufhaltsam krochen sie in ihre Kleider, fluteten ihre Nase.
Er konnte seit der Festnahme nicht mehr hier gewesen sein. Außerdem hatte man ihm frische Kleidung gegeben. Ihr Herz pochte bis zum Hals. Kein Gedanke mehr an sorgfältiges Nachdenken vor Ort.
So schnell wie möglich kletterte Megane nach draußen.
***
Muriel feilte den ganzen Tag über an ihrer Strategie. Sie musste die Zeit nutzen, die Meinrad Danner vor Ort blieb. Er hatte seine Penichette seit gestern nicht weiterbewegt, das zeigte das GPS. Sollte sie die Gelegenheit nutzen, oder würde ihm das auffallen? Gut, eigentlich wollte sie ihm auffallen. Allerdings konnte sie heute nicht früher Feierabend machen. Wahrscheinlich würde sie zum gemeinsamen Abendessen zu spät eintreffen. Aber egal. Mit Zaudern ließ sich nichts gewinnen.
Gegen acht am Abend rollte Muriel auf dem Treidelpfad an Danners Hausboot, der Chantal, vorbei. Alles dunkel. Er schien nicht an Bord zu sein. Sie drehte das Fahrrad um und radelte zum Restaurant. Dort wollte sie aus einiger Entfernung einen Blick durchs Fenster werfen. Wenn er wieder am gleichen Tisch saß wie mit ihr gestern, konnte sie ihn sehen, bevor sie das Lokal betrat.
Er lehnte tatsächlich lässig am Fenster und genoss offenbar eine Crème brûlée. Muriel durchfuhr es heiß, denn ihm gegenüber saß eine alte Schlampe mit großzügigem Ausschnitt. Selbst auf die Entfernung ließen sich die tiefen Falten in den Brustansätzen deutlich erkennen. Und erst der Hals … Muriel entfuhr ein leises »merde«.
Warum bloß hatte sie ihm gestern nicht sofort alles klargemacht? Natürlich wusste sie genau, warum. Er sollte sie nicht für eine Hure halten, die sich gleich von jedem bespringen ließ. Das wären ganz schlechte Voraussetzungen für ihr Vorhaben. Aber diese vulgäre Hexe, die sich ihm jetzt so offensichtlich anbot, würde sich bestimmt nicht vornehm zurückhalten. Das erkannte Muriel auf den ersten Blick.
Sie musste etwas tun. Verhindern, dass ihr Meinrad auf dem welken Fleisch dieser alten Zicke landete. Es wirkte nicht so, als ob er sich vor ihr ekelte. Männer verhielten sich in dieser Beziehung oft äußerst seltsam, das wusste Muriel aus Erfahrung.
Nun konnte sie nur noch eines tun, ihm einen kleinen Schreck einjagen. Kurz entschlossen radelte sie zurück zur Chantal. Meinrad hatte das Landungsbrett offenbar irgendwo versteckt, stellte sie genervt fest. Deshalb konnte sie nicht einfach an Bord gehen, um die Enden der auf dem Boot festgemachten Leinen zu lockern. »Selbst schuld«, murmelte sie vor sich hin. Dann würde sie eben aufs Ganze gehen. Anstatt sich bloß ein wenig in die Strömung zu drehen, sollte der Kahn völlig abtreiben. Sie zog das Boot an den Leinen zu sich, um die Schlingen an den Ankerstäben zu lockern und leicht abstreifen zu können. Mit einem kräftigen Schubs beförderte sie die Chantal danach wieder vom Ufer weg. Natürlich würde es eine Weile dauern, bis die entlang der Uferböschung schwache Strömung das Boot in Bewegung setzte. Und es würde an dieser Stelle weder besonders weit kommen noch irgendeinen Schaden erleiden. Schließlich hatte Muriel solche Pannen schon des Öfteren erlebt und kannte sich aus. Hauptsache war: Meinrad verlor durch den Schreck für heute Abend die Lust, eine faltige Kröte zu begatten. Ab morgen würde sie ihn mit der Aussicht auf ihre jungen, knackigen Formen davon abhalten.
***
Nach dem Essen schlenderte Meinrad Danner allein an den Anlegeplatz zurück. Dort blieb er wie angewurzelt stehen. Wo war das Boot? Er hatte es doch hier festgemacht, sicher vertäut! Seine Hand fuhr zum Bootsschlüssel in der Hosentasche. Noch da. Auch die Eisen, an denen er festgemacht hatte, steckten noch in der Erde. Hatte es jemanden gestört, dass er schon so lange am gleichen Platz lag? So viele gut zugängliche Anlegeplätze gab es nun mal nicht am Ufer.
Höchstens zwei Kilometer Luftlinie bis zur nächsten Schleuse, und die war um diese Zeit geschlossen, überlegte er. Der Fluss führte am Abgang des nächsten Kanalstücks eine starke Biegung nach links aus, und die Strömung wurde an dieser Stelle durch eine breite Schwelle abgeschwächt. Das Wehr regulierte nicht bloß den Abfluss, sondern hielt auch die Höhe des Wasserspiegels konstant. Unabdingbar für ein Schleusensystem. Die Chantal würde durch die schräg zum Fluss laufende Überlaufkante sicher zurück ans rechte Ufer und damit in den Kanal geführt werden. Strömung entstand dort nur, solange eine Schleusenkammer gefüllt wurde. Normalerweise bewegte sich dieses Wasser jedoch nicht vorwärts. Also müsste auch ein Boot ohne Antrieb darin stehenbleiben.
Meinrad erwartete allerdings, dass seine Penichette lange vorher von einem der zahlreichen im Fluss liegenden Bäume aufgehalten worden sein dürfte. Er hatte die Strecke flussabwärts in den letzten Tagen mehrmals zu Fuß auf dem Treidelpfad zurückgelegt und sich dabei die Bäume, die durch Unterspülung des Ufers ins Wasser gekippt waren, genauer angesehen. Offenbar störte dies hier kaum jemanden. Die Kronen ragten fast immer ein Stück weit aus dem Wasser und warnten dadurch die Bootsführer. Doch wenn man nicht aufpasste, konnte man leicht hängen bleiben. Unter Umständen gereichte Meinrad dies jetzt zum Vorteil.
Ohne besondere Eile spazierte er voran. Er hatte heute Abend ohnehin nichts mehr vor, und es würde bestimmt noch eine Stunde lang hell bleiben.
Kaum fünfhundert Meter weiter bestätigte sich seine Vermutung. Der Bug ragte praktisch direkt auf den Pfad, sodass er sogar trockenen Fußes einsteigen konnte. Die Leinen lagen quer auf dem Deck, einfach über die Reling geworfen. Noch deutlich erkennbar die Stellen im Seilgewebe, wo sie um die Eisen geschlungen gewesen waren.
Handelte es sich um einen Bubenstreich, oder hatte er einen Fischer verärgert? Egal. Morgen würde er ein Stück weiterfahren, schon um der aufdringlichen Alten zu entgehen, die ihn heute Abend beim Essen genervt hatte. Dabei hatte ihn gar nicht so sehr gestört, dass sie immer noch alles zeigen wollte, was sie früher einmal zu bieten gehabt hatte. Wenn sie dazu wenigstens eine Minute lang den Mund hätte halten können!
6. Kapitel
Polizeipräsidium Freiburg im Breisgau. Kommissar Max Krüger versuchte, das Gesicht des Toten auf dem Foto mit demjenigen im Personalausweis von Rainer Lau in Einklang zu bringen. Nicht, um die Identifizierung zu bestätigen; die war bereits gesichert. Krüger beschäftigte vielmehr, wie sehr der Tod ein Gesicht entstellen konnte. Außerdem fand er es wichtig, dass man bei Nachforschungen nicht bloß ein optisches Bild des Gesuchten im Kopf hatte. Auch ausgeprägte Eigenschaften wie zum Beispiel sympathisch oder aggressiv gehörten zur Person, in die er sich hineinzuversetzen versuchte, um ihre Gedankenwelt zu erahnen. Das galt natürlich sinngemäß auch für männlich oder weich, verschlagen oder seriös. Oder was sich sonst noch alles aus einem Bild herauslesen ließ, solange man über nichts weiter verfügte.
Das Foto der Leiche eignete sich jedoch dazu kaum. Es erweckte in erster Linie Mitleid oder Ekel, je nach Befindlichkeit des Betrachters.
Michélle riss ihn aus seinen Gedanken. »Können wir, Chef?«
Sie waren im Begriff, ins 60 Kilometer entfernte Offenburg aufzubrechen. Dort hatte das Opfer zuletzt gewohnt. Da die Leiche im Ausland aufgefunden wurde, hatte man die Zuständigkeit nach Freiburg, das dem Fundort nächstgelegene deutsche Präsidium, verlegt. Erste Abklärungen und Befragungen von Zeugen hatten die Beamten am Wohnort bereits durchgeführt. Krüger brauchte die Ergebnisse bloß noch zu sortieren und zu bewerten. Selbstverständlich konnte er weitere Untersuchungen anregen oder auch persönlich ermitteln, wenn er es für notwendig hielt. Der Zweck der anstehenden Reise bestand darin, sich ein eigenes Bild von den beiden seltsam anmutenden Freunden des Opfers zu verschaffen. Die drei hatten einen gemeinsamen Urlaub auf einem Hausboot verbracht. Auf genau diesem Fluss in Frankreich, der Saône, aus der ein deutsches Touristenpaar, die Leiche von Rainer Lau gefischt hatte.
In den Protokollen fand sich kein einziger konkreter Satz zum Sachverhalt, den Krüger als Ausgangspunkt für eine gezielte Vernehmung verwenden konnte. Und obwohl sie getrennt befragt wurden, erzählten sie ziemlich das Gleiche. Das Verschwinden ihres gemeinsamen Freundes wollten sie überhaupt nicht bemerkt haben. Er sei, wie vorgesehen, einige Tage früher zurückgefahren, um einen wichtigen Termin wahrzunehmen. Welcher Art und wo, wollten sie ebenfalls nicht gewusst haben. Auch keine Ahnung von eventuellen Freundinnen oder Verwandten. Genauso wenig wie von Vorlieben oder Abneigungen des Mannes. Schließlich habe man praktisch nie über Privates gesprochen. Und, dass ihnen erst jetzt am Stammtisch, nach fast zwei Monaten, beim gemeinsamen Betrachten des Polizeifotos eines unbekannten Toten aufgefallen war, dass es dem Kollegen ähnlich sah. Der im Übrigen, seit der Reise tatsächlich nie mehr aufgetaucht sei. Immerhin hatten sich die beiden schließlich dazu durchgerungen, sich mit ihrer Beobachtung bei einer Polizeiwache zu melden.
Krüger konnte sich kaum vorstellen, dass ein erwachsener Mensch erwartete, dass ihm jemand eine solche Aussage abkaufte. Oder sogar davon ausging, mit einer dermaßen hanebüchenen Story unbehelligt durch eine Morduntersuchung zu kommen. Die beiden ließen sich jedoch auch durch gezieltes Nachfragen offenbar nicht beirren. Rainer Lau solle putzmunter und auf eigenen Füssen das Hausboot verlassen haben. Danach wurde er nie mehr gesehen. Der Kontakt sei ohnehin stets eher lose gewesen. Man habe sich nie verabredet, ausgenommen zur Bootstour, sondern sich immer bloß zufällig, am Stammtisch getroffen. Soweit die Kernaussage der Freunde, die sich natürlich gegenseitig bestätigen und decken konnten.
Was auf den ersten Blick als Schwachsinn wirkte, erwies sich jedoch als unwiderlegbar. Die Buchung der Reise lag mehr als ein Jahr zurück. Die Begründung, dass es schwierig sei, für alle drei eine passende Zeit zu finden, deshalb die lange Vorlaufzeit, leuchtete zweifellos ein. Ein Jahr auf eine Gelegenheit warten, um mit jemandem abzurechnen, lag noch im Bereich des Vorstellbaren.
Aber wenn sie ihn tatsächlich loswerden wollten, hätten sie ihn zum Beispiel betrunken ersäufen und das Ganze als Unfall melden können. Ein solches Vorgehen, dürfte kaum zu ernsthaften Ermittlungen geführt haben.
Also entweder zwei unschuldige Idioten oder zwei Superschlaue. Oder steckte noch etwas Anderes dahinter?
»Ich bin fertig, Michélle!«, bestätigte Krüger. »Also los!«
***
Verstohlen musterte Manfred Grob die blonde Beamtin, die ihn in den Verhörraum der Dienststelle Offenburg geführt hatte. Jetzt schien sie vertieft in den Inhalt der Papiere, die sie mit ihren gepflegten, schlanken Fingern durchblätterte. Sie trug weder Uniform noch Namensschild, und für eine Polizeibeamtin im Dienst schien der Einblick in ihre Bluse etwas zu großzügig. Einzig das – zwar leere – Pistolenhalfter und ein Paar Handschellen an ihrem Gürtel ließen darauf schließen, dass sie die Staatsgewalt vertrat. Man hatte Manfred auch nicht zu einem Verhör vorgeladen, sondern darum gebeten, den überregional ermittelnden Beamten einige Fragen zu beantworten. Leider war sie nicht allein gekommen, denn es hieß, man warte noch auf »den Chef«, der sich offenbar so viel Zeit nehmen konnte, wie er wollte. Insgeheim hoffte Manfred darauf, dass es sich beim Chef auch um eine Frau handelte. Noch so eine mit reichlich Holz vor der Hütte, die ebenfalls wusste, was Männer gern betrachten. Schließlich hatte er selbst solche Methoden ab und zu auch schon angewendet. Besonders wenn es sich um ein richtig fettes Geschäft drehte, welche erfahrungsgemäß meistens von reiferen Herren entschieden wurden. Manfred Grob arbeitete als selbständiger Immobilienmakler. Wie viel Mehrertrag ihm die Mädels vom Escort Service inzwischen beschert hatten, wusste nicht einmal er selbst genau. Aber dass es sich lohnte, daran bestand kein Zweifel. Und hie und da blieb sogar noch ein wenig bezahlte Service-Zeit übrig, die er natürlich nicht ungenutzt verstreichen ließ.
Das Geräusch schlurfender Schritte störte ihn bei seinen Gedanken, weil es absolut nicht dazu passte.
»Krüger«, stellte sich der Mann mürrisch vor.
»Hauptkommissar Krüger«, ergänzte die Blondine eifrig und lächelte dem gelangweilt abwinkenden Kommissar zu.
Für Manfred war sofort klar, woher der Wind wehte. Die wollte bestimmt die langwierigen Dienstwege nach oben durch kleine Gefälligkeiten, soweit wie möglich, abkürzen.
»Grob«, stellte er sich vor. »Manfred Grob.«
»Danke, ich weiß, wer Sie sind«, brummte Krüger.
Was sollte Manfred darauf antworten. Er zuckte resigniert mit den Schultern.
»Ja, dann erzählen Sie mal!«, forderte Krüger auf. »Wie ist das gelaufen auf dem Boot. Als Sie Herrn Lau zum letzten Mal gesehen haben, meine ich.«
»Das habe ich doch …«
»Ja, ja, das haben Sie schon einmal erzählt. Ich weiß. Aber mir noch nicht. Also bitte!«
Manfred seufzte kurz auf. Weshalb ließ ihn der alte Knacker nicht einfach mit der Blondine allein. Für die hätte ich sogar was zum ins Ohr Flüstern auf Lager, dachte er grimmig. »Ja, da gibt’s nicht viel zu erzählen. Rainer hat seinen Koffer gepackt und ist von Bord gegangen. Er hat uns noch viel Spaß gewünscht, das war’s.«
»Wo genau?«, hakte Krüger nach. »Wo stand sein Wagen?«
»Sein Wagen? Ja dort an diesem Hafen, denke ich. Wo genau, weiß ich leider auch nicht. Ich kann mir diese französischen Kaffs doch nicht alle merken. Ich kann ja auch kaum Französisch.«
»Aber wenn Sie an die Stelle zurückkehren, könnten Sie sich erinnern?«, hielt Krüger fest.
»Ja, möglich. Aber das heißt jetzt nicht, dass ich mit Ihnen …«
»Natürlich nicht. Wir haben einige Fotos mitgebracht. Wenn Sie sich die bitte ansehen wollen.«
Die Blondine bleckte leicht die Zähne, während sie sich in Manfreds Richtung schob, nur mit dem Oberkörper. Den Notizblock hatte sie sich zwischen die Knie geklemmt, um die Hände frei zu haben. Elegant fächerte sie die Aufnahmen vor ihm aus.
»Erkennen Sie einen dieser Orte?«
»Moment«, sagte Manfred. Umständlich kramte er eine Brille aus dem Jackett. »Erst den Feldstecher suchen. Dann kann ich vielleicht helfen.«
»Lassen Sie sich ruhig Zeit«, beschwichtigte die Blonde. Der Kommissar jedoch ließ ein verächtliches Schnauben hören.
Passt ihm offensichtlich nicht, wenn seine Tippse mal einem richtigen Kerl begegnet, dachte Manfred höhnisch. Bildete der sich etwa ein, dass die sich auch nur eine Minute mit ihm abgeben würde, wenn sie nicht musste? Manfred griff nach einem Bild und betrachtete es genauer. »Hier könnte es gewesen sein. Möglicherweise.« Mit Absicht hielt er das Foto direkt vor der Brust, sodass sich die Beamtin noch weiter vorbeugen musste, um es ihm aus der Hand zu nehmen. Sie bemerkte offensichtlich nichts von seiner List.
»Sind Sie sicher?«
»Na, ja. Darf ich es vielleicht noch mal sehen?«
Sie lächelte. Der Kommissar schnalzte mir der Zunge. »Ich bin kurz weg. Rufen Sie mich, wenn Sie mit den Urlaubsfotos durch sind«, brummte er gereizt.
»Aber selbstverständlich, Chef!«
Der Chef schlurfte grummelnd aus dem Raum.
Manfred witterte seine Chance. Ihr würde er anstandslos jede Frage beantworten. Außer natürlich, was wirklich passiert war bei Rainers Abgang.
Michélle streckte ihm die Aufnahme wieder hin. Manfred griff danach, nicht ohne einen weiteren tiefen Blick in ihre Bluse zu riskieren.
»Aimez-vous ce que vous voyez?«, ließ die Blondine fallen.
»Perfekt«, antwortete Manfred, ohne lange zu überlegen.
»So ausgesprochen schlecht kann Ihr Französisch aber nicht sein, wenn Sie das gleich verstanden haben«, stellte die Beamtin lakonisch fest.
Manfred zuckte zusammen. »Ja, das. Das versteht doch jeder. Gefällt Ihnen, was Sie sehen? Das hört man doch dauernd«, versuchte er zu erklären. Dass seine Stimme höher klang als sonst, fiel sogar ihm selbst auf.
»Na ja. Ich würde das jetzt nicht als Lüge bezeichnen wollen«, fuhr die Beamtin fort. »Aber wozu schwindeln Sie, wenn es keine Rolle spielt?«
»Ich wollte … Das war doch keine Lüge! Ich verstehe fast alles, kann aber nicht viel sprechen«, redete er sich heraus.
Die Blonde konnte ein Grinsen nicht vollständig unterdrücken. »Und weil Sie fast alles verstehen, können Sie sich die Namen der Dörfer nicht merken?«
Eine Schweißperle löste sich von seiner Braue und brannte in seinem Auge. »Für meine Begriffe sind meine Sprachkenntnisse mangelhaft. In Französisch! Ok?« Manfred begann sich aufzuregen. Die Tusse hatte ihn glatt reingelegt.
»Ich sagte doch, dass ich das nicht überbewerten möchte«, beruhigte sie ihn, während sie ihren Notizblock wieder zur Hand nahm. »Wie sicher sind Sie jetzt mit dem Hafen?«, fragte sie weiter. »Könnte es dieser gewesen sein, in dem Herr Lau sich verabschiedet hat?«
»Ja, doch«, brummte Manfred. Seine Selbstsicherheit war deutlich angeschlagen.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.