Kitabı oku: «Am Ende fügt sich alles», sayfa 6
Kapitel 12: Claudia, 1983
Ich nahm mir ein Taxi in Othmarschen, weil ich befürchtete, dass ich in öffentlichen Verkehrsmitteln noch die Auswirkungen der Großdemonstration spüren würde. Zu nichts hatte ich weniger Lust, als mit einer Horde aufgeheizter Friedensaktivisten dichtgedrängt in einer S-Bahn zu sitzen. Trotzdem dauerte es ewig. So schien es mir jedenfalls. Ich war den Ansichten des Fahrers schutzlos ausgeliefert. Der Höflichkeit halber warf ich hier und dort ein Ja oder ein Nein in die einseitige Konversation und sah währenddessen hinaus auf die fast kahlen Bäume der Elbchaussee. Später, ich wußte jetzt alles über die Stationierung von Pershing-Raketen, staute sich der Verkehr in die Innenstadt. Aber ich hatte allmählich das Gefühl, die geplagten Pendler waren gewillt, für eine gute Sache zu leiden.
Im Radio sagte der Nachrichtensprecher, es wären über vierhunderttausend Menschen alleine in Hamburg auf die Straße gegangen. Die Polizei ging von zweihunderttausend aus.
„Toll“, sagte der Taxifahrer.
Claudia hatte mich überraschenderweise kurz nach der Trauerfeier angerufen. Wir verabredeten uns in ihrer Wohnung in Winterhude. Sie lag in einem dieser typischen Bauwerke aus rotem Backstein. Schmale Treppenhäuser, Linoleum, abgewetztes Holz. Geruch nach Kohlsuppe, nach Bohnerwachs und nach ewiger Feuchtigkeit. Gewundert hatte es mich schon ein wenig, dass mich Claudia so schnell zu sich nach Hause einlud. Sie hatte mit einer gewissen Hartnäckigkeit darauf bestanden, obwohl mir ein Café oder ein Restaurant lieber gewesen wären. Na, denn.
Ich war mir die Tage vorher sowieso nicht sicher gewesen, ob ich sie überhaupt wiedersehen wollte. Schließlich nahm mein Leben gerade eine unvorhergesehene Wendung. Es fiel mir nicht leicht, mich in diesen neuen Lebensabschnitt einzufinden. Finanziell gesehen konnte ich mich beruhigt zurücklehnen. Aber sonst? Insgeheim hatte ich eigentlich immer mit einer Position innerhalb der Stiftung gerechnet.
Wollte ich mich wirklich zusätzlichen gefühlsmäßigen Herausforderungen aussetzen?
Als ich sie oben in der Wohnungstür stehen sah, waren diese Fragen plötzlich nicht mehr von großer Dringlichkeit.
Sie trug eine Art bulgarisches oder rumänisches Folklorekleid mit Gänseblümchenmuster, das oberhalb der Knie aufhörte. Ihre Füße steckten in halbhohen Schnürschuhen, wie sie um die Jahrhundertwende Mode gewesen waren. Sie lächelte, als freute sie sich tatsächlich, mich zu sehen, und erst in diesem Augenblick wurde mir bewusst, wie sehr ich dieses Wiedersehen herbeigesehnt hatte.
Claudia trat zur Seite, ich drückte ihr die mitgebrachte Rotweinflasche in die Hand und dann stand ich in der kleinen Diele. Es war eng. Viel Platz beanspruchte ein rustikaler Schrank, der restauriert, gelaugt und geölt worden war. Mir ist bis heute unklar, warum man immer wieder auf diese klobigen Machwerke stößt. Natürlich habe ich mich damals jeden Kommentars erhalten. Ein wenig erschrocken war ich aber schon über diesen ersten Eindruck. Folklorefummel? Landhausstil?
Zum Glück setzte sich diese Tendenz im Wohnzimmer nicht fort. Dort bestimmten drei oder vier aneinander geschobene und vollgestellte Bücheregale aus heller Kiefer die Einrichtung. Sie nahmen die längste Wand ein. Gegenüber stand ein elegantes Sideboard aus Buchenholz mit Edelstahlrahmen. Ob massiv oder Furnier, ließ sich auf den ersten Blick nicht feststellen. Außerdem stand noch ein kleiner runder Holztisch im Louis-XV-Stil mit zwei fünfziger-Jahre-Stühlen unter einem Fenster und an der anderen kurzen Seite ein ziemlich neu aussehender Fernseher einer guten Marke und davor ein Ledersofa und ein gläserner Couchtisch. Den Dielenboden bedeckte teilweise ein orientalischer Teppich, der aber nicht wirklich echt aussah.
„Und, Urteil gefällt?“, fragte Claudia.
Ich fühlte mich ertappt. Wahrscheinlich hatte ich etwas zu lange in stummer Begutachtung verharrt. Und auch jetzt fiel mir spontan keine Erwiderung ein, also schaute ich nur dümmlich aus der Wäsche.
„In deinen Kreisen geht diese Wohnung wohl als ärmlich bis erbärmlich durch.“
Ich versuchte, mich mit bissigem Humor aus der unangenehmen Situation zu retten: „Nun, meine Kreise, wie du sie nennst, bewegen sich höchst selten in so einem Umfeld, ich weiß demnach auch nicht, wie ihr Urteil ausfallen würde.“
„Und deins?“, fragte sie.
Es waren kaum drei Minuten vergangen, und die Frau hatte es wieder einmal geschafft, mich zu verunsichern.
„Ich …“
Aber bevor ich mehr sagen konnte, unterbrach sie mich.
„Komm, ganz locker. Ich ziehe dich nur ein wenig auf. Das wird doch wohl gestattet sein, oder?“
Jetzt fühlte ich mich endgültig so, als hätte sie mich in fünf Zügen beim Schach geschlagen. Wieder wusste ich nicht so recht, wie ich mich verhalten sollte, also hob ich die Hände und sagte: „Ich gebe auf. Mach mit mir, was du willst.“
„Hätte ich sowieso“, sagte Claudia.
Ich glaubte ihr aufs Wort.
Danach entspannte sich die Stimmung zusehends. Sie zeigte mir ihre Küche, die lächerlich klein war. Es passten gerade mal der Kühlschrank, ein Elektroherd und die Spüle hinein. An den Wänden hingen Pfannen und diverse Kochlöffel. Von der Decke baumelte einer dieser unsäglichen Drahtkörbe voller Zwiebeln und Knoblauch. Ich stieß mir fast den Kopf daran.
„Petit“, sagte ich und wusste nicht warum.
„Eher Petit Bourgeois“, sagte sie, schaute mich von der Seite an und fügte hinzu: „Wir tun das nicht wirklich, oder?“
„Du meinst peinliche Bemerkungen auf französisch?“, sagte ich.
„Hey, gar nicht mal so schlecht.“
In ihrer Stimme schwang Anerkennung mit, und ich fühlte mich tatsächlich erröten. Langsam lernte ich dazu.
„Guck mal, das Beste an der Küche ist dieses Schränkchen neben dem Fenster.“
Es war etwa so groß wie zwei Schuhkartons mit einem Zwischenfach. Eine kleine vergitterte Luftzufuhr direkt nach draussen.
„Das sollte wohl früher eine Art Speisekammer sein, schön kühl und trocken“, sagte sie.
„Die Vorratshaltung war damals offensichtlich bescheiden.“
„Die hatten ja nichts.“
„Es gab immer ein Stück hartes Brot und einen Kanten Käse“, sagte ich.
„Ein Glück, dass wir heute Abend mehr auftischen können.“
Eigentlich überrascht es mich angesichts des Gespräches, das wir im späteren Verlauf des Abends führten, immer noch, dass wir bei diesem ersten Treffen im Bett landeten. Ich hatte Claudia sicher nicht mit der Absicht oder in der Hoffnung besucht, Sex mit ihr zu haben, und sie hatte das bestimmt auch nicht eingeplant. Aber zum Glück waren unsere Widerstände schwach genug gewesen.
Am nächsten Morgen wachte ich verkatert auf. Es war dämmrig im Zimmer, und durch das Fenster sah ich in eine graue Wolkendecke. Dann fiel mein Blick auf ein Poster mit grellen Papageien von Walasse Ting, das vor mir an der Wand hing. Ich machte die Augen schnell wieder zu. Ich hörte die Toilettenspülung, spürte einen leisen Lufthauch im Gesicht, öffnete die Augen wieder, und da stand sie. Nackt. Perfekt. Die dunkelbraunen Haare zerzaust. Das weiß ich noch. Und ich weiß auch, dass ich seit jenem Augenblick nie aufgehört habe, sie zu begehren. Und ich sehe ihre Brüste, mit den Nippeln, die sich wie kleine Mulden nach innen stülpten, so als würden sie ruhen oder darauf warten, hervorgelockt zu werden. Und die kleine, horizontale Falte auf der Innenseite ihres Unterarms, wie eine allerletzte Spur von Babyspeck. Die durchschimmernden Adern an den Hüftknochen. Aber ihr Gesicht verschwimmt ein wenig, wird überlagert von der Ungenauigkeit meiner Erinnerung. Doch der Klang ihres Lachens ist präsent und ihr Ausdruck dabei, die Zähne, ebenmäßig, und immer so, als würde sie ein Stück vom Leben abbeißen und schlucken und immer noch schöner dabei werden. Aber ich vermisse es, nicht jede Einzelheit in mir aufrufen zu können. Es geht nicht. Es bleibt eine Tuschezeichnung von ihr. Meine Interpretation.
Aber ich greife vor.
Claudia hatte von ihrem Vater seltsamerweise zum Geburtstag einen Cocktail-Shaker geschenkt bekommen und wollte den Abend zum Anlass nehmen, einige Rezepte auszuprobieren.
„Gefährlich“, sagte ich.
„Jeder andere Mann wäre froh, wenn ihm eine hübsche Frau die Gelegenheit zum gemeinsamen Betrinken bietet“, sagte sie.
„Wohl wahr“, sagte ich.
„Komm, du kannst dich setzen, ich habe alles gekauft.“
„Und was gibt es?“
„Dir zu Ehren einen Klassiker: Tequila, Triple Sec, Limettensaft.“
„Margarita!“, rief ich.
Claudia ging zum Sideboard und holte die Flaschen, stellte sie auf den kleinen, runden Tisch. Dann ging sie zum Kühlschrank und holte ein Gläschen Saft, den sie wohl schon vorher gepresst hatte, und Eiswürfel. Ich saß bloß da, auf dem etwas harten Stuhl und sah ihr zu. Und ich merkte, dass ich dabei entspannte, dass ich es genoss und dass es überhaupt nicht unangenehm war, gar nichts zu sagen und sei es auch nur für die zwei Minuten, die es dauerte, bis die Eiswürfel im Shaker landeten. Und noch länger, während sie mich ihrerseits anlächelte und die Zutaten gewissenhaft mit der Hilfe eines Messbechers zusammenschüttete. Drei Schritte in die Küche eilte, mit Sektkelchen samt Salzrand zurückeilte. Dann den Shaker, so rechts und links nach oben rüttelte und schließlich die schäumende grün-gelbe Flüssigkeit einschenkte.
Wir prosteten uns zu.
„Drei, zwei, zwei“, sagte sie.
„Drei Teile Tequila, zwei Teile Triple Sec, zwei Saft“, sagte ich.
„Hey, du hast ja Ahnung.“
„Selbstredend.“
Während sie kochte, und sie wollte nicht, dass ich ihr dabei über die Schulter gucke, trank ich ein Bier, das sie mir unaufgefordert in die Hand gedrückte hatte, und sah mich genauer um. Zuallererst interessierten mich natürlich die Bücher, die ja in erstaunlich großer Zahl vorhanden waren. Mir wurde nach einer oberflächlichen Sichtung sofort klar, dass sie nicht geordnet waren. Da standen Romane neben Sachbüchern und Comicheften, und großformatige Kunstbücher waren kreuz und quer übereinander gestapelt. Das tat mir in der Seele weh. Bei näherem Betrachten fiel mir dann aber der gepflegte Zustand der Bücher auf. Nichts finde ich unkultivierter als die Unart mancher Menschen, Bücher zu zerlesen, zu zerfleddern, zu bekleckern, oder schlimmer noch, sie aufgeklappt herumliegen zu lassen. Das war hier nicht der Fall, die Bücher waren sogar abgestaubt worden.
Neben dem üblichen Kram wie Herr der Ringe von Tolkien, das mich schrecklich gelangweilt hatte, Scholl-Latours Tod im Reisfeld, den unumgänglichen Namen der Rose von Eco und unzähligen Kriminalromanen, fand ich die Bertinis von Giordano. Von da an konnte ich schon eine gewisse Richtung ausmachen: Von Remarque, Ein Funke Leben. Dann: Ahrendt, Eichmann in Jerusalem. Imre Kertesz, der daneben stand und den ich nicht kannte. Im Klappentext überflog ich, dass es um einen Jungen in Auschwitz und Buchenwald geht. Gustave Le Bon, Psychologie der Massen. Auch nicht gelesen, muss ich zugeben. Ich wollte gerade weiter suchen, als Claudia aus der Küche kam und mir noch ein Bier brachte.
„Während ich koche, gehört ein Bierchen dazu“, sagte sie und verschwand.
Ich stöberte weiter und wurde fündig: Hitler von Fest, ein Buch, das vermutlich niemand wirklich ganz gelesen hatte, das aber zur Selbstdarstellung des Bildungsbürgers gehörte wie die Schnitzerei von Dürers betenden Händen. Ich weiß, wovon ich rede, bei meinen Eltern stand die Schwarte auch. Ich war etwas enttäuscht. Aber zur Entlastung war da noch Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler. Ein Regal weiter oben stand ein eingerahmtes Gedicht. Ich ging näher heran. Schwarze Milch der Frühe. Paul Celan. Den hatte ich Im Abitur. Jetzt war ich neugierig geworden. Studierte Claudia neuere Geschichte oder Germanistik? Ich nahm mein Bier mit in die Küche und fand sie über den Herd gebeugt in einer Pfanne rührend.
„Sag mal, was studierst du eigentlich“, fragte ich geradeheraus.
Sie drehte sich erschrocken um.
„Spinnst du? Und wieso gehst du davon aus, dass ich studiere?“
„Nun ja, die ganzen Bücher über Judenverfolgung, Hitler und so weiter.“
„Ich bin hier gerade beschäftigt und muss auch noch auf den Reis achten. Also, kann das warten?“
„Wenn es denn sein muss“, sagte ich.
„Ich bin in zehn Minuten fertig. Geh und beschäftige dich noch so lange. Los!“
Sie fuchtelte mit dem Küchenspachtel vor meiner Nase herum und ich verzog mich.
Ich beschloss, sozusagen zur Strafe, in ihrem Spiegelschrank herumzuwühlen.
Die Einrichtung des Badezimmers entsprach meiner Vorstellung, was die weibliche Note anging. Ganz abgesehen davon, dass es wahrscheinlich zum letzten Mal in den Fünfzigern renoviert worden war. Der Spülkasten hing tatsächlich noch über dem Klo, eins von diesen urdeutschen Modellen mit Stinketage. Ansonsten Badewanne mit Handbrause. Duschgel. Schwamm mit Holzstiel. Wie gehabt. Dann jedoch die persönlichen Akzente: Kloumrandung und Badevorleger in gleicher Farbe (rot). Klodeckel mit Frottierüberzug (ebenfalls rot). Ein schmales Regal aus Bambus. Oberstes Fach: allerlei Cremes, Schminkzeug, Eau de Toilette (Opium). Untere Fächer: akkurat zusammengefaltete Handtücher in diversen Größen und Farben. Auf dem Waschbecken ein geblümter Seifenspender aus Porzellan. Zahnbürste im rötlichen Zahnputzglas. Dann besagter Spiegelschrank. Ich öffnete ihn vorsichtig, denn ich wollte ja nicht, dass mir da womöglich etwas entgegen fiel. Aha! Bullrichsalz. Und Tabletten gegen Sodbrennen. Aspirin. Eine Salbe, die ich nicht näher untersuchte. Pinzette. Nagelfeile und Nagelschere. Augenbrauenzupfer, das kannte ich von meiner Mutter. Tampons (Normalgröße). Zahnpasta. Nichts Besonders also. Ich klappte den Spiegel wieder zu. Ich nutzte die Gelegenheit zum Pinkeln. Das tat ich im Sitzen, weil mich ein kleines handgemaltes Schild darauf hinwies.
Währenddessen hatte Claudia den Tisch gedeckt. Ich hatte Hunger und hoffte, dass mich nicht so typische Studentenessen wie Schinkennudeln oder dieses schreckliche Bami Goreng erwarteten. Zum Glück jedoch stellte Claudia, was ihre Kochkunst anging, höchste Ansprüche an sich selbst. Dass sie das mit allem, was sie anpackte, tat, sollte ich erst später erfahren.
Als Vorspeise, und die Tatsache, dass es eine gab, war an sich schon bemerkenswert, stellte sie eine Schale mit Avocadoscheiben und filetierten Orangen in die Mitte.
„Nimm dir. Hier ist noch Öl, Zitronensaft und Chilepulver.“
„Wow!“, sagte ich.
„Wollen wir beim Bier bleiben, oder wechseln wir zu Wein?“
„Kommt drauf an.“
„Keine Angst, du bist in einer Lambrusco-freien Zone.“
„Ich bin erleichtert“, sagte ich.
„Ich auch, sagte sie.“
Ich kann mich nicht mehr so recht daran erinnern, worüber wir uns beim Essen unterhielten, aber viel war es nicht. Ich weiß aber noch, dass Claudia hingebungsvoll und konzentriert aß und manchmal aufsah und mich anlächelte und verwirrte. Ich war so hingerissen von ihrer Art, eine Mischung aus ernster Selbstversunkenheit und ironischer Distanz, dass ich die Hauptspeise eher mechanisch vertilgte. Ja, es klingt verrückt, nach fast dreißig Jahren habe ich nicht vergessen, was sie gekocht hat: Coq au Vin. Ich sehe es noch vor mir. Claudia, wie sie mir mit der Schöpfkelle einen Hühnerschenkel und diese rote, schimmernde Soße auf den Teller lädt.
Ich half ihr beim Abräumen und öffnete eine zweite Flasche Wein.
Mittlerweile hatte sich das anfängliche Unbehagen, das bei ersten Verabredungen immer um einen herumgeistert, in eine leicht alkoholisierte Euphorie verwandelt, und Claudia schlug vor, Musik zu hören. Eigentlich hatte ich das Ausbleiben des üblichen Hintergrundgedudels als wohltuend empfunden, und so sagte ich:
„Halt, ich muss vorher deine Platten inspizieren.“
„Also, ich bin jetzt doch ein wenig beleidigt. Zuerst traust du meinem Wein nicht und dann stellst du auch noch meinen Musikgeschmack in Frage.“
„Schlechte Erfahrungen.“
„So schlimm?“
„Schlimmer: Neue Deutsche Welle.“
„Da ist doch nicht alles schlecht.“
„Aha“, rief ich, „gib es zu, da lauert das Böse im Plattenschrank.“
Ich setzte mich im Schneidersitz vor die Sammlung von etwa hundert Platten, die im untersten Fach des Bücherregals gestapelt waren.
„Hier haben wir es ja schon! Peter Schilling! Major Tom!“
„Das ist doch gut!“
„Ein schwacher Abklatsch ist das. Space Oddity von Bowie, das ist das einzig Wahre.“
Claudia hockte sich neben mich, legte den Kopf schief und entzifferte die winzige Schrift auf den Rücken der Alben.
„Da!", sagte sie triumphierend und hielt „The Man Who Sold The World“ hoch.
„Sei mal ehrlich, die gehört doch deinem Vater“, sagte ich.
Plötzlich wurde sie ernst, fast abweisend.
„Ganz bestimmt nicht“, sagte sie“ und es klang verachtend.
Ich hatte da wohl etwas losgetreten und versuchte sogleich, die Stimmung wieder aufzuhellen.
„Was ist das denn, was zum Teufel ist das denn? Al Bano und Romina Power? Das kann doch nicht wahr sein!“
„Jugendsünden“, sagte sie. Und da war auch wieder dieses leicht sarkastische Lächeln.
„Ich gebe zu, ich muss bei Sharazan immer heulen“, sagte ich.
Dann geschah etwas Unvorhergesehenes: Claudia hauchte mir ein Kuss auf die Wange. Ich war so erstaunt, dass ich beinahe zurückgezuckt wäre. Stattdessen sagte ich: „Ich möchte das einschränken. Ich heule bei Sharazan nur, wenn ich besoffen bin. Tatsächlich bin ich immer besoffen, wenn ich Sharazan höre.“
„Hey, wenn ich besoffen bin, dann heule ich auch bei allen möglichen Songs.“
„Zum Beispiel?“
„The Rose von Bette Midler.“
„Das geht mir genauso“, sagte ich.
„Darf ich also jetzt etwas für uns aussuchen?“
„Ich bitte darum.“
Sie legte eine Platte auf, drehte die Lautstärke hoch, und wir hörten zu. Brel. Das war keine liebliche Melodie im Hintergrund, sondern eine Aussage. Wir widmeten uns ausschließlich der Musik. Was sich dann auch als eine weitere Eigenschaft von Claudia herausstellte. Wenn sie mir Musik vorspielte, ein Gedicht vorlas, einen Film ansah oder mir ein Bild von sich erklärte, dann verlangte sie meine ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie forderte absolute Gegenwart ein. Das war im besten Sinne anstrengend, denn sie erwartete von mir die gleiche Intensität und Leidenschaft, derer sie fähig war und gab sich nur zufrieden, wenn endlich ein intellektuelles Magnetfeld, ja, eine vibrierende Gemeinsamkeit erreicht war.
Ich gebe es nur zu gerne zu, sie hat mich an jenem Abend für immer verzaubert. Sie hat mich in einem mythischen Vorgang verspeist und verwandelt. Und ich trank mit ihr einen Wein nach dem anderen auf einer Welle, die uns immer weiter trug, ohne jemals über uns hereinzubrechen. Ich sage das ungeachtet der Zweifel, die in den nächsten Wochen an mir nagen würden.
Zunächst jedoch verlor das Gespräch, fast unmerklich, seine spielerische Leichtigkeit.
Wir kamen auf unsere verschiedenen Studiengänge zu sprechen. Es stellte sich heraus, dass Claudia die Hochschule für bildende Künste besuchte und nebenbei noch ergänzende Seminare in Kunstgeschichte an der Uni belegt hatte.
„Ich hingegen bin Verlegenheitsstudent, sagte ich, eigentlich erwarten meine Eltern von mir, dass ich BWL oder Jura oder ähnliches studiere. Ich rebellierte, indem ich mich für Altamerikanistik entschied. Vor acht Semestern.“
„Und wogegen genau rebellierst du?“
Ich musste nachdenken, sagte plötzlich: „Letztendlich gegen die Absehbarkeit. Und das scheint mir eine fürchterlich schlaue Analyse zu sein.“
„Wie das?“
„Na, ja, eigentlich war immer klar, dass ich studieren sollte. Vom Abitur ganz zu schweigen. Da gab es keine Diskussionen, und auch ich habe nie darüber nachgedacht.“
„Und wenn du es nicht geschafft hättest?“, fragte sie.
Wir saßen nebeneinander auf ihrem kleinen Sofa. Auf der schwarzen Mattscheibe des Fernsehers sah ich die verschwommene Reflexion unserer Gesichter. Ich nahm einen Schluck Wein und stellte das Glas vorsichtig auf dem Glastisch vor mir ab.
Ich sagte: „Habe ich aber. Durchschnittlicher Abschluss. Ohne konkrete Ideen über die Zukunft. Null Plan. Ich wusste nur, dass ich nicht das studieren würde, was alle von mir erwarteten.“
„Alle?“
„Meine Familie.“
„Und seither also Altamerikanistik.“
„Zur großen Freude meiner Eltern.“
„Und hast du jetzt einen Plan?“
„Seit einigen Wochen noch weniger als sonst.“
„Wieso?“
Ich ließ mir Zeit mit der Antwort. Nahm mein Glas vom Tisch. Trank einen Schluck. Stellte es zurück. Schaute Claudia an. Sie lächelte entspannt. Ihr folkloristisches Kleid hatte über dem Brustansatz einen Schnürverschluss. Die Bänder baumelten herum wenn sie sich vorbeugte. Ein tropfenförmiger silberner Ohrring blitzte zwischen ihren dunklen Haaren hervor.
„Eigentlich wollte ich in die Familienstiftung. Also, eigentlich nicht wirklich. Es hat immer im Raum gestanden. Aber nach der Testamentseröffnung meine Großvaters hat sich alles geändert.“
„Bist du enterbt worden?“
„Nein, nein. Ich wollte nur einige Bedingungen nicht erfüllen. Dann ging es sehr schnell, bevor mir richtig bewusst wurde, was mit mir geschah. Ich habe die erforderlichen Unterschriften geleistet und voilá.“
„Du bist frei“, sagte Claudia.
„So kann man es auch deuten. Seltsam frei. Etwas unsicher. Ich werde das Gefühl nicht los, bei diesem ganzen Prozess nicht wirklich da gewesen zu sein.“
Mir wurde klar, dass ich endlich ausdrückte, was mich die ganze Zeit über gestört hatte.
„Du befürchtest, dass über deinen Kopf hinweg entschieden wurde?“, fragte sie.
„Das nicht. Ich bin eher über meine nicht vorhandene Gegenwehr erstaunt. Immerhin sah ich mich über kurz oder lang in dieser Firma landen. Ich flog in einer Art Warteschleife dahin.“
„Und jetzt ist der Flughafen verschwunden?“
„Ja. Ja, genau. Ich muss durchstarten, und überall ist nur Nebel. Aber Benzin habe ich für immer.“
In diesem Augenblick zog ich sie an mich heran und wir küssten uns.
„Hey“, sagte Claudia in dieser amüsierten Art, die ich immer an ihr so geliebt habe. „Hey, das müssen wir wiederholen“, sagte sie und schob mich sachte weg.
„Erzähle mir von deinem Vater.“
Das kam unvermittelt.
„Vater? Was, was …?“
Claudia lachte über mein hilfloses Gestammel.
„Entschuldigung, ist mir nur spontan eingefallen. Hat nichts mit dem Kuss zu tun, das schwöre ich.“
„Wie kommst du ausgerechnet jetzt auf meinen Vater?“
„Dein kopfloses Dahinleben. Dein offensichtlich vorhandenes Geld. Die Tatsache, dass er dir bei dieser ganzen Firmensache nicht beigestanden hat.“
„Du bist ganz schön direkt“, sagte ich ernüchtert.
„Ich bin bekannt dafür. Aber im Ernst, erzähl mir was.“
„Was?“
„Zum Beispiel: Wann hast du deinen Vater zum ersten Mal so richtig als Vater erlebt, ich meine im positiven Sinn. An irgendeine Geschichte wirst du dich doch wohl noch erinnern können.“
„Da fällt mir im Moment nichts Konkretes ein. Und dein Vater?“
„Mein Vater ist nichts. Ein Opportunist. Eine Qualle.“
„Wow!“, sagte ich.
„Lenk nicht ab, streng dich an.“
In ihrer Aufforderung lag eine merkwürdige Dringlichkeit, die ich mir zu dem Zeitpunkt noch nicht erklären konnte. Ich versuchte, ihr dementsprechend entgegen zu kommen und dachte angestrengt nach.
„Also“, begann ich zögernd, verwundert darüber, dass ausgerechnet diese Episode ihren langen Weg aus dem Vergessen heraus in mein Bewusstsein antrat.
„Also, an manchen Samstagen fuhren meine Eltern und ich nach dem Essen die Avenida Insurgentes rauf und runter. Das ist eine Hauptstraße, die Mexico City von Norden nach Süden durchquert und die damals noch nicht so verstopft war wie heute.
Ich saß an jenem Tag wie immer hinten und war so um die fünf oder sechs Jahre alt. In der Vorschule lernte ich gerade Lesen, und ich versuchte, während wir so dahinfuhren, lautstark und ziemlich erfolglos Schilder am Straßenrand zu entziffern. Meine Eltern unterhielten sich vorne leise, und meine Mutter lobte mich hin und wieder und, wie ich vermute, ohne großen Enthusiasmus, wenn ich einen Buchstaben wiedererkannte. Das ging eine Weile so. Ich war zufrieden, der Tag war sonnig und durch das offene Fahrerfenster wehte aufgeheizte Stadtluft ins Auto. Plötzlich fiel mir ein Schriftzug über einem Eiscremeladen auf. Ich konnte ihn natürlich nicht lesen, aber ich wusste, was er bedeutete, ich erkannte ihn an den langgezogenen, rosa Buchstaben wieder und schrie den Namen begeistert heraus: Chantilly, schrie ich, Chantilly, denn so hieß die Marke. Ich kann lesen! Ich kann lesen! Ich weiß noch, wie meine Mutter sich langsam zu mir umdrehte und mich skeptisch anschaute. Aber mehr noch erinnere ich mich an den Gesichtsausdruck meines Vaters: Stolz. Ich war mir sicher, dass er stolz auf mich war. Er wendete den Wagen, fuhr zurück, hielt, stieg aus, überquerte die Strasse und kam mit einem riesigen Erdbeereis zurück. Mein Lieblingseis. Er reichte es mir vorsichtig mit einer Papierserviette, und ich war ungeheuer glücklich, weil es sonst streng verboten war im Auto zu essen oder zu trinken, und dann sagte mein Vater: Gut gemacht, mein Sohn und klopfte mir auf die Schulter. Damals liebte ich ihn dafür. Das war’s.“
Claudia schwieg. Sie nippte an ihrem Wein, fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen, strich sich den Rock glatt und musterte mich.
„Das sagt eher etwas über dich aus als über deinen Vater“, sagte sie schließlich.
„Findest du?“, sagte ich.
„Du hast deinen Eltern vorgespielt, dass du liest.“
„Na klar, das ist doch offensichtlich. Die wussten bestimmt auch, dass ich das Schild nicht wirklich gelesen habe.“
„Trotzdem wurdest du belohnt. Die Frage ist nur, wurdest du belohnt, weil du gelernt hattest, gut zu täuschen, oder weil du eine gewisse Intelligenz offenbart hast, oder man glauben wollte, dass du Fortschritte beim Lesen machst?“
„Was sollen diese Spitzfindigkeiten? Du wolltest unbedingt eine Anekdote und hast sie auf dem silbernen Tablett serviert bekommen.“
„War eine schwache Leistung. Versuche es doch noch einmal.“
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