Kitabı oku: «Quitt», sayfa 11
Zwanzigstes Kapitel
Nebenan, in der großen Halle, war inzwischen für Lehnert ein Frühstück aufgestellt worden, und zwar durch Frau Rosalie Kaulbars in Person, die, weil sie der Umsicht des kleinen Cherokeemädchens mißtrauen mochte, nicht nur alles Nötige selbst herzugetragen, sondern dem angerichteten Frühstückstisch auch noch eine der preußisch-heimischen Art entsprechende Ausschmückung gegeben hatte. So kam es, daß sich, um gleich die Hauptsache zu nennen, um die Kufe mit saurer Milch ein blühender Lindenzweig legte. Eier in der Schale samt Schinken vervollständigten das einfache Mahl, dem anfänglich, einigermaßen aus der Rolle fallend, auch noch eine halbe Wassermelone beigegeben war, bis der zufällig vom Felde hereingekommene Mister Kaulbars gegen solche Zusammenstellung remonstriert hatte. »Was denkst du denn eigentlich, Rose? Soll er hier gleich mit Kullern und Schneiden anfangen?«
Das war voraufgegangen. Als aber Lehnert aus Obadjas Zimmer trat, lag nicht nur das Zwiegespräch der Kaulbarsschen Eheleute um einige Minuten zurück, sondern auch das Ehepaar selbst hatte sich, um nicht neugierig zu scheinen, aus der Halle wieder in die Wirtschaftsräume des abgetrennt stehenden Quergebäudes zurückgezogen. Statt ihrer waren jetzt Ruth und Toby da, mit ihnen Uncas, ein wundervoller, schwarz und weiß gefleckter Neufundländer, der seine Herrin Ruth auf Schritt und Tritt zu begleiten pflegte. Toby ging Lehnert entgegen, um ihn, die Honneurs des Hauses machend, bis an die Schmalseite des Tisches zu führen, wo gedeckt war.
»Stören wir dich, wenn wir uns zu dir setzen?« fragte Toby.
Lehnert suchte nach einer Antwort, aber er fand sie nicht. Er war wie benommen von dem allem. Das war mehr Liebe, als er sich in seinem ganzen dreiunddreißigjährigen Leben zusammenrechnen konnte. Er legte die Hand auf die Stuhllehne, drin ein Kleeblatt eingeschnitten war, und faltete die Hände zum ersten Male seit vielen Jahren. Dabei war ihm, als flimmere was vor seinen Augen.
Die Geschwister schwiegen und sahen ihm bewegt zu. Als sie aber wahrnahmen, daß er sich wieder gesammelt hatte, sagte Toby: »Nun also, Lehnert, wir bleiben und leisten dir Gesellschaft. Sieh nur, Uncas schließt auch Freundschaft mit dir. Nicht wahr, Ruth, das bedeutet was? Er ist sehr wählerisch und hält nicht gleich zu jedem.«
Lehnert nahm von der Milch und brach dann, um sie sich vorzustecken, einige Blüten von dem Lindenzweig ab, und Ruth sah wohl, daß ihn dieser Zweig ganz besonders erfreut hatte.
»Das dankst du dem Mister Kaulbars und seiner Frau«, sagte Ruth. »Die sagten, das sei so Sitte drüben. Und da bin ich selber gegangen und habe den Zweig gepflückt und um die Milchkufe gelegt, aber, die Wahrheit zu gestehen, doch nur mit halber Freude. Denn die Kaulbarse, besonders aber er, wollen alles preußisch machen, und wenn ich denke, daß du nun auch ein Landsmann von ihnen bist, so beschleicht mich eine kleine Furcht, daß wir hier eine preußische Kolonie werden.«
»Das hat gute Wege«, lachte Lehnert, »ich habe das Alte drüben gelassen.«
»Ja«, fuhr Ruth fort, »das sagen alle, die herüberkommen, und auch die Kaulbarse haben so was gesagt: aber eigentlich halten sie fest am alten, und da macht keiner eine Ausnahme, nicht einmal Monsieur L‘Hermite, der freilich nicht am alten hängt, aber doch an seinen alt mitgebrachten Ideen, und sich dabei einbildet, was mindestens ebenso schlimm ist, der Neueste der Neuen zu sein.«
»Und soll er es nicht?« warf Toby ein. »Ist er nicht der Allerneuesten einer? Ist er nicht ein Kommunard? Und wenn du von Furcht redest, von Furcht vor Lehnert und vor den Preußen, warum, wenn du doch von ›ebenso schlimm‹ sprichst, warum fürchtest du dich nicht vor Monsieur L‘Hermite und seiner Kommune?«
»Weil ich nicht an sie glaube.«
»Wie kannst du das sagen, Ruth! Das ist Torheit. Warum glaubst du nicht an sie?«
»Weil sie für uns ein Märchen ist.«
»Ein schönes Märchen! Rotkäppchen ist mir lieber.«
»Da triffst du‘s freilich«, lachte Ruth und war froh, von einem Gespräche loszukommen, das ganz gegen ihren Willen ins Politische hineingeraten war. Und nun tat sie noch ein paar Fragen, und als Lehnert mittlerweile sein Mahl beendet hatte, wandte sie sich wieder an den Bruder und sagte: »Nun aber ist es Zeit, Toby, daß wir Mister Lehnert auf sein Zimmer führen.«
Alle drei stiegen treppauf. Toby führte, während Ruth, im Geplauder mit Lehnert, folgte.
Der Oberstock war von ganz anderer Einrichtung als das im wesentlichen nur aus Treppenhaus, Betsaal und Halle bestehende Erdgeschoß, und wenn dieses letztere, mit Ausnahme von Obadjas Wohnzimmer, lediglich kirchlichen Zwecken oder gelegentlicher gesellschaftlicher Repräsentation diente, so diente das, was eine Treppe hoch lag, dem häuslichen Leben, der Gemütlichkeit, der Familie. Beide Hälften des Oberstockes, zwischen ihnen ein großer quadratischer Flur, waren durch einen schmalen Mittelgang wieder in eine Reihe verschiedenster Vorder- und Hinterzimmer geteilt, von denen alles Linksseitige von Maruschka, Ruth und Toby bewohnt wurde, während alles an der entgegengesetzten Seite Gelegene die Gast- und Fremdenzimmer umschloß. Eines derselben war für Lehnert bestimmt worden und lag dem Zimmer gegenüber, das von Monsieur L‘Hermite bewohnt wurde.
Ruth, als man oben war, ging, sich verabschiedend, nach links hin den Gang hinunter, während Toby Lehnerts Hand nahm und ihn, nach der anderen Seite hin, auf einen in Dämmerlicht daliegenden Korridor zuführte. Nur am Ende desselben war ein Lichtschein. Dieser kam aus Monsieur L‘Hermites Zimmer, das meist offenstand und dem Korridor nicht bloß ein eigenes von seiner Helle, sondern, nicht eben zur Freude der anderen Hausbewohner, auch viel von dem »Korporal« mitteilte, da beständig darin geraucht wurde. Lehnert, als er bis heran war, warf einen Blick in das Zimmer hinein und sah hier einen hageren Mann von Mitte Fünfzig, mit Zwickelbart und Käppi, der, an einem Schraubstock eifrig beschäftigt, eben in einem scharfen Profile sichtbar wurde. Auch L‘Hermite sah von der Arbeit auf und schob das Käppi nach hinten, was einen Gruß bedeuten, aber auch bloße Neugier sein konnte. Weiter darüber nachzudenken verbot sich, denn Toby hatte mittlerweile die gerad gegenüber gelegene Tür geöffnet und trat ein, während Lehnert folgte.
»Das ist nun also dein Heim, Lehnert, das dir eine Friedensstätte werden möge. So soll ich dir im Auftrage des Vaters sagen. Er hat dies Zimmer für dich ausgesucht, weil er meint, die Berge drüben würden dich freuen.«
»Das werden sie; danke deinem Vater dafür! Und nun sage du mir, wie hab ich mich drüben zu meinem Nachbar zu stellen? Er ist ein Franzose?«
»Ja. Von Geburt. Aber es ist sein nicht geringer Stolz und, wie du bald erfahren wirst, auch sein Lieblingsthema, die nationalen Vorurteile hinter sich zu haben. Er war, wie du vorhin schon aus unserem Gespräche gehört haben wirst, ein Mitglied der Kommune, ja mehr, ein Führer derselben, und hat den Erzbischof von Paris erschießen lassen und sollte dann später selbst erschossen werden. Nur durch ein Wunder kam er mit dem Leben davon. All das sind Dinge, wovon ich dir (wenn er‘s nicht selber tut) ein andermal erzählen werde. Heute nur das noch, daß er deinen Frieden nicht stören wird, höchstens deine nächtliche Ruhe. Denn er ist ein unruhiger Geist, den mitunter die Lust anwandelt, ein paar Stunden in der Nacht zu plaudern. Vielleicht ist es auch sein Gewissen, was ihn wach hält. Und dann wankt er durch das Haus und weckt jeden, und einmal war er selbst bei dem Vater. Und dann spricht er wie irr und deklamiert lange Gedichte vom Menschengeist, der seine letzten Fesseln abwerfen müsse.«
»So nehmt ihr ihn also einfach als einen Irren?«
»O nein, durchaus nicht, er ist nicht irr, im Gegenteil, er ist grundgescheit und kann alles und weiß alles. Er hat nur eine Menschheitsbeglückungsidee, der er alles opfert, und am liebsten einen Erzbischof, einen Empereur, einen Papst. In seinen Ideen ist er ein Fanatiker und tut das Äußerste, sonst aber ist er wie ein Kind. Er ist der Friedliebendste von uns allen, und es ist rührend, ihn zu sehen, wenn er Ruth sieht. Dann verklärt sich sein Gesicht, und ich glaube, wenn sie‘s beföhle: so ging‘ er nach Neu-Kaledonien und Numea zurück. Von da floh er nämlich und kam bis hierher. Aber was sprech ich nur von Monsieur L‘Hermite. Du wirst ihn kennenlernen, und unter allen Umständen ist er kein Gesprächsstoff für deinen Einzug an dieser Stelle. Denn es ist Blut an seinen Händen, ungesühntes Blut.«
Lehnert, als Toby so sprach, brannte der Boden unter den Füßen, und es war ihm, als ob er fliehen müsse. Toby aber, völlig ahnungslos, welche Wirkung seine harmlos hingesprochenen Worte hervorgerufen hatten, trat in diesem Augenblick an ein mit allerhand Matten und Kissen belegtes, zugleich als Sofa dienendes Bambusgestell und sagte, während er auf zwei darüber aufgehängte Bildchen in schwarzem Rahmen hinwies: »Das ist der Remter in Marienburg … Und das hier ist Kloster Oliva. Kennst du sie? Sie sind das einzig Preußische, was wir noch von alter Zeit her im Haus haben.«
Es war nicht ohne Verlegenheit, daß Lehnert Namen und Dinge nennen hörte, die jenseits seiner Kenntnis lagen, es blieb ihm aber erspart, diese Nichtkenntnis bekennen zu müssen, denn Toby brach ab, ohne auf Antwort zu warten, und verließ das Zimmer. Als er schon draußen war, wandt er sich noch einmal zurück und sagte: »Ich hoffe, daß nichts fehlt. Wenn aber etwas fehlen sollte, hier ist der Knopf, auf den du drücken mußt; es ist eine Drahtleitung, die wir Monsieur L‘Hermite verdanken. Monsieur L‘Hermite ist nämlich ein Erfindergenie; nun, du wirst ihn ja kennenlernen. Und nun Gott befohlen. Ich will zu Ruth und ihr, wozu ich gestern nicht kam, von Galveston erzählen und von Edwin Booth, der von New York auf Gastspiel da war und volle Häuser machte. Good-bye!«
Und nun war Lehnert allein, ein Moment, nach dem er sich gesehnt hatte. Benommen von der Fülle von Eindrücken, die diese wenigen Stunden ihm gebracht hatten, ging er auf das mit Matten und Kissen überdeckte Lager zu, streckte sich nieder und schloß die Augen. Er wollte nicht sehen, um die Bilder seiner Seele desto deutlicher vor Augen zu haben. Da war der Alte, lächelnd, vornehm überlegen, ein wenig zu sehr Papst. Aber was bedeutete das, bei soviel Milde! Dann trat Monsieur L‘Hermite vor ihn hin, das Käppi zurückgeschoben und das Gesicht über den Schraubstock gebeugt. Und dann wieder sah er Ruths halb noch kindliche Gestalt, und ein Gefühl unendlicher Sehnsucht ergriff ihn. Wonach? Nach einer ihm verlorengegangenen Welt. Er sann nach, womit er Ruth vergleichen könne, verwarf aber alles wieder, bis ihm zuletzt die Worte Tobys gleich bei der Vorstellung wieder einfielen, und daß Monsieur L‘Hermite gesagt habe »un ange«. Ja, das war sie, ein Lichtstrahl. Und wenn seinem Leben ein solches Licht geleuchtet hätte, ja, wenn er nur gewußt hätte, daß es Erscheinungen wie diese gäbe … Ja, dann … Aber nun war es zu spät.
Er stand auf und hielt in dem Zimmer Umschau. Schlicht und sauber war alles. Alle Stühle von Bambus (sogar der Schaukelstuhl am Fenster) und am Pfeiler daneben zwei Stiche: Washington und General Grant. Sonst nur noch ein Bett und ein Tisch und eine Bibel darauf. Und er nahm die Bibel, und der Gedanke kam ihm. er wollte sein Schicksal darin lesen, und ob er den Frieden finden würde. Und nun schlug er auf, es war ein Psalm, und las: »Zähle meine Flucht, fasse meine Tränen, ohne Zweifel, du zählest sie. Was können mir die Menschen tun? Ich hoffe auf dich, du hast meine Seele vom Tode gerettet.« Er war tief ergriffen, und Tränen entstürzten seinem Auge. Dann schritt er auf das Fenster zu, öffnete beide Flügel und sah hinaus. Greifbar nah, so wenigstens erschien es ihm, zog sich das bis auf den Kamm hinauf mit Tannen und allen Arten von Nadelholz bestandene Gebirge, dazwischen aber schlängelte sich ein Weg hernieder, und wo der Weg ins Tal mündete, stand ein weißes Haus, zerfallen und ohne Dach, vordem ein Fort, das Fort O‘Brien. Darüber lag der blaue Himmel, und ein heller Wolkenstreifen zog den Kamm entlang, den an dieser Stelle nur ein einziges mächtiges Felsenstück überragte.
»Das ist der Mittagsstein.«
Und dann sah er wieder hinaus und suchte hinauf, ob er nicht noch andere Punkte zur Vergleichung und Erinnerung fände. Zuletzt aber ruhte sein Blick immer wieder bei dem weißen Haus unten am Abhang aus, und eine Stimme rief ihm zu, daß sich seine Geschicke dort erfüllen würden.
Aber die Stimme sagte nicht, ob zu Glück oder Unglück.
Einundzwanzigstes Kapitel
Anderthalb Wochen waren um, und Lehnert hatte sich eingelebt. Er sah kein Regieren, und einfach ein Geist der Ordnung und Liebe sorgte dafür, daß alles nach Art eines Uhrwerks ging. Der Tag begann mit einer Andacht, die der Alte klug genug war, wenigstens als Regel, knapp und kurz einzurichten, weil er sich sagte, daß Ermüdung der Tod aller Erbauung sei. Gewöhnlich las er einen Psalm oder etwas aus der Patriarchengeschichte, wenn er nicht vorzog, an mehr oder weniger wichtige Tagesereignisse mit Spruch und Betrachtung anzuknüpfen. War dann unmittelbar nach der Andacht das Frühstück eingenommen, so gab er persönlich die Weisungen für den Tag, was er, gestützt auf eine genaue Kenntnis seines Grund und Bodens und andererseits auch mit Hilfe der ihm am Abend vorher durch Toby oder Kaulbars oder Lehnert erstatteten Rapporte, sehr wohl konnte. Begegnungen um die Mittagsstunde fielen aus, weil ein guter Imbiß entweder gleich mitgenommen oder auf die Felder hinausgeschickt wurde, was denn zur Folge hatte, daß man sich erst um sieben Uhr abends zum zweiten Male zu gemeinschaftlicher Mahlzeit versammelte, woran sich daran der Abendsegen und eine kurze Plauderei schloß. Bald danach zog man sich zurück, denn der Tag begann früh wieder. Es war kein herzlicher, aber doch ein unausgesetzt friedlicher Verkehr, in dem man lebte, was Lehnert um so mehr wundernahm, als die bunte Menschenmasse, daraus sich das Hauswesen von Nogat-Ehre zusammensetzte, nicht einmal durch das Band gemeinsamer kirchlicher Anschauungen zusammengehalten wurde. Die Kaulbarse, Vollblutmärker, hielten natürlich zu Luther, Maruschka, Polin, war katholisch und fuhr alle Jahre zweimal zur Beichte nach Denver, Totto, Litauer, glaubte, wenn überhaupt an was, höchstens an das schwarze und weiße Pferd seiner litauischen Urahnen, und L‘Hermite war schlechtweg Atheist, so daß von der ganzen Obadjaschen Hausgenossenschaft, selbstverständlich mit Ausnahme der eigentlichen Familie, nur die dienenden Cherokee- und Arapahoindianer, Männer und Frauen, zur »Gemeinde« gehörten, in die sie, nach zuvor empfangenem Unterrichte, meist mit zwanzig oder vierundzwanzig Jahren einzutreten pflegten. Lehnert, wenn er das überdachte, sah sich dadurch mehr als einmal an einen nach Art eines großen Vogelbauers eingerichteten Schaukasten in San Francisco erinnert, drin nicht nur ein Hund, ein Hase, eine Maus und eine Katze samt Kanarienvogel und Uhu, sondern auch ein Storch und eine Schlange friedlich zusammen gewohnt hatten. »A happy family« stand als Aufschrift darüber, und wenn Lehnert so beim Breakfast und Supper den langen Tisch musterte, kam ihm der Schaukasten immer wieder in den Sinn, und er sprach dann wohl leise vor sich hin: »A happy family.« Sann er dann aber weiter nach, wodurch dies Wunder bewirkt werde, so fand er keine andere Erklärung als den »Hausgeist«, als Obadja, der das Friedensevangelium nicht bloß predigte, sondern in seiner Erscheinung und in seinem Tun auch verkörperte.
Die Folge davon war ein Gefühl immer wachsender Verehrung und Dankbarkeit auf seiten Lehnerts. Aber so wahr und aufrichtig dies Gefühl war, so kam er demohnerachtet zu keiner rechten Freudigkeit. Er fühlte sich vereinsamt und brachte sich‘s gelegentlich zu geradezu schmerzlichem Bewußtsein, daß er in seinen schwersten und schlimmsten Tagen, ja, vor Jahr und Tag noch bei den zweifelhaften Leuten am Sacramento, heiterer und fast auch glücklicher gewesen sei als hier unter den Bekehrten und Nichtbekehrten von Nogat-Ehre. Friede und Freundlichkeit waren da, aber was er mehr und mehr vermißte, war Verkehr und Vertraulichkeit. Dazu sah er, daß er in seiner Herzensstellung nicht recht von der Stelle kam. Obadja, mit all seinen Vorzügen, war doch unnahbar, die Geschwister zu jung, Maruschka zu kindisch, Totto zu stumpf und Monsieur L‘Hermite zu reserviert und zu superior ablehnend. Bei diesem Befunde verblieben ihm nur seine Landsleute, die beiden Kaulbarse, und das war hart, weil ihre Nüchternheit keine Grenzen kannte. Dennoch, so nüchtern sie waren und in so lächerlich wichtiger Weise sie sich mit ihrer Lieblingswendung »mein Mann sagt auch« oder »meine Frau sagt auch« aufeinander zu berufen pflegten, Berufungen, von denen aus ein weiterer Appell nicht wohl mehr möglich war, dennoch sah Lehnert ein, daß er, in Ermangelung von etwas Besserem, durchaus bemüht sein müsse, mit ihnen auf einem guten Fuße zu leben, und das um so mehr, als ihn beide die Tatsache nicht entgelten ließen, daß ihre Machtstellung, das mindeste zu sagen, durch sein Eintreten in die Wirtschaft halbiert worden war. Ob dies Gutmütigkeit oder Gleichgültigkeit oder vielleicht sogar das lauernde Warten auf den Moment war, wo sich das »Umkippen« vollziehen werde, war, so wahrscheinlich das letztere sein mochte, doch nicht mit Sicherheit festzustellen, weshalb Lehnert es, bis zum Beweise des Gegenteils, für geraten, ja für pflichtmäßig hielt, von allem das Beste zu glauben. Und so verging denn kein Tag, an dem er nicht, an der Seite von Kaulbars, den Versuch einer mal flüchtigeren, mal eingehenderen Unterhaltung über Nahes und Fernes, über Wirtschaftliches und Persönliches gemacht hätte.
Gewöhnlich ritten sie gemeinschaftlich vom Nogat-Ehrer Hof aus auf die Felder und trennten sich erst weiter hin am Vorwerk, wo der Weg gabelte.
»Ja, die Schlesier, sagte Kaulbars, der gerad in einer landwirtschaftlichen Meinungsverschiedenheit mit Lehnert war, »die Schlesier machen es so. Glaub‘s schon und will auch nichts weiter dagegen sagen. Und wir haben auch ein Sprichwort: Der Klügste gibt nach.«
Lehnert wollte beruhigen, Kaulbars aber, der mal im Zuge war, hatte nicht acht darauf und fuhr fort: »Ja, die Schlesier. Bei Graf Zielen-Schwerin in Wustrau, Sie werden wohl von ihm gehört haben, bei dem war auch ein Schlesier, ein kleiner Knurzel und schon so halb pohl‘sch und mit ‚m genierten Blick un mit richtige O-Beine. Jott mag wissen, wie der Kerl dahingekommen war. Bei die Vierundzwanziger in Ruppin kann er nich gestanden haben, die Vierundzwanziger nehmen so einen gar nich an. Aber ich will weiter nichts sagen, Schlesien is auch ganz gut, und wo man her is, na, das is wie Vater und Mutter, und ein anderer soll nichts Böses davon sagen. Das is alles schon richtig … Ich bin von ‚n Glien. Kennen Sie den Glien?«
»Nein«, sagte Lehnert und lächelte.
»Na, das ist so die Cremmer Gegend, alles, was da so zwischen Oranienburg und Fehrbellin liegt. Fehrbellin kennen Sie doch woll?«
»Ja, das kenn ich. Das ist das mit dem Großen Kurfürsten.«
»Richtig. Na sehen Sie woll, es kommt schon, es dämmert schon. Und Sie solln mal sehen, zuletzt kennen Sie auch noch ‚n Glien.«
So ging es meistens in der Unterhaltung. Aus jedem Worte, das Kaulbars sprach, sprach ein unendliches Von-oben-herab, ein Dünkel, der für den reizbaren und auf seine Heimatprovinz überaus stolzen Lehnert unerträglich gewesen wäre, wenn sich dies zur Schau getragene Überlegenheitsgefühl bloß auf Schlesien und die Schlesier bezogen und sich nicht vielmehr gleicherweise, ja womöglich noch verstärkt, auch gegen Amerika gerichtet hätte. Jederzeit war er bereit, den Amerikanern ihre Sünden vorzuhalten, und diese Gelegenheit bot sich ihm täglich, weil er ein wahres Talent besaß, auf dieses sein Lieblingsthema überzulenken.
Eines Tages war es ein Gespräch über Ruth und Toby, von dem aus die Brücke mit gewohnter Geschicklichkeit geschlagen wurde.
»Die beiden Kinder sind doch der Sonnenschein von Nogat-Ehre«, sagte Lehnert. »Über Ruth ist gar nicht zu streiten; ich kann sie nicht sehen, ohne an die Lilien auf dem Felde zu denken, wovon die Bibel spricht. Aber auch Toby, wie brav und wie gescheit ist er, und wie gewandt! Wenn Obadja heute stirbt, was Gott verhüten wolle, so nimmt er die Wirtschaft in die Hand.«
»Ja, das tut er, die Einbildung dazu hat er, die haben sie hier alle. Kaum ist einer trocken hinter den Ohren, oder auch noch nich mal, so wird er ein Reverend oder ein Magistrate oder ein Justice, oder sie schicken ihn als Gesandten nach der Türkei … Na, für die Türken mag es gehen. Un is gar ein bißchen Krieg in der Luft und soll es gegen Texas losgehen oder Utah oder gegen Mexiko, na, denn hast du nich gesehen, denn backen sie die Generäle und Obersten wie Semmeln. Und wer heute noch ein Advokat is oder ein Chemist oder ein Furnischer, der is morgen ein Oberst, und nu geht das Schlachtenschlagen los, das heißt, was sie hier so Schlachtenschlagen nennen, eigentlich is es ja bloß ‚ne Hasenjagd. Und denn marschieren sie los und singen Yankee-Doodle und tun, als ob sie wenigstens die Welt erobern wollten, und solange sie die Schienen unter den Beinen haben, so lange geht es. Aber wenn nu das Marschieren anfängt und das erste Camp kommt oder das erste Bivouac, ja, du himmlischer Vater, da haben wir denn die Bescherung. Da is nichts da, da fehlt die Verpflegung, und das Gehungre geht los, und wenn sie vierzehn Tage lang im Modder gelegen und noch keinen Feind gesehen haben, dann fallen ihnen die Stiebel vom Leibe, und keine Naht hält mehr, und wenn sie dann den Feind zu sehen kriegen, das heißt, was sie so nennen, denn einen richtigen Feind haben sie hier gar nicht, dann platzen die Flinten oder gehen gar nicht los, weil das Pulver nichts taugt oder die Patrone nicht paßt. Und warum is es so? Weil es alles bloß Spielerei is und kein Ernst nich, und Ernst is immer bloß, daß der Lieferant sein Geld kriegt für die Tornister, die von Pappe sind, und für seine Mäntel von Löschpapier. Ich habe welche gesehen …«
Lehnert wollte widersprechen, aber Kaulbars litt es nicht und fuhr in gleich überlegenem Tone fort: »Ich habe welche gesehen, sag ich, die wie Zunder vom Leibe fielen. Und warum? Weil alles Geschäft is, und wo alles Geschäft is, is alles Schwindel. Und wenn ich nu frage, warum is es alles Schwindel? so kann ich bloß sagen, weil sie nichts kennen als Geld und nichts wollen als Geld und nichts anbeten als Geld und weil sie keinen richtigen Gott haben. Und wo sie keinen richtigen Gott haben, da haben sie auch keine Pflicht und keine Ehre. Und woran liegt es? Weil sie verloddert sind. Und warum sind sie verloddert? Weil sie nicht dienen. Und der Toby hat auch nicht gedient, und von Strammheit und richtiger Propreté ist keine Rede nich. Blaue Krawatte trägt er und hat ‚ne legere Haltung, aber ein blauer Schlips is nicht Propreté, und eine lange Stakete, die hin und her schlenkert, weil kein Rückgrat drin is, is nich Strammheit.«
Hier hatte sich Kaulbars vorläufig erschöpft, und Lehnert fand Gelegenheit einzuwerfen: »Ich bin überrascht, Mister Kaulbars, Sie so streng zu sehen. Als hier der große Krieg war, Anno 63, da waren wir beide noch drüben und haben beide nichts gehört und nichts gesehen, und was wir nachher, als wir rüberkamen, gehört haben, nu hören Sie, Mister Kaulbars, da muß man doch Respekt haben vor dem, wie‘s damals hergegangen ist, und haben sich geschlagen wie die besten Truppen und sind auch richtig verpflegt worden und war keine Rede von vor Hunger sterben. Und so mein ich denn, es kann nicht alles bloß Schwindel sein.«
»Es is Schwindel, sag ich, und wer gedient hat …«
»Ich habe auch gedient, Mister Kaulbars.«
Kaulbars lächelte. »Wobei denn?«
»Bei den Görlitzer Jägern.«
»Na, hören Sie, mit die Jäger, das ist immer bloß soso. Das is nich Fisch und nich Vogel und geht eigentlich immer bloß auf Jagd und wilddiebt ein bißchen und is kein richtiger Soldat nich. Ich habe bei die Vierundzwanziger gestanden, Hauptmann von Goerschen, fünfte Compagnie. Haben Sie von dem mal gehört? Ich meine von Goerschen. Das heißt, es gab eigentlich zwei Goerschens, einer hieß Franz, der war auch ganz gut, aber unserer hieß Otto, und wir nannten ihn ›unseren Otto‹, und war schon mit bei Düppel, Schanze drei. Ich sag Ihnen, die Schanze war weg wie Schnupftabak. Ja, so sind die Vierundzwanziger, Ruppin und Havelberg, und Rathenow und die ›Zietenschen‹, das gehört eigentlich auch noch mit dazu. Hören Sie, die Görlitzer mögen ja soweit ganz gut sein, man soll nicht streiten und soll nicht nein sagen, wenn man‘s nich weiß. Aber das sag ich Ihnen, Mister Lehnert, aufs Dienen kommt es an, und jeder muß mal Rekrut gewesen sein und muß die Honneurs gelernt haben und muß die Signale gelernt haben. Und das is gewiß, wenn der Hornist blies und war das Signal von der fünften Compagnie, da gab es ein Ohrenspitzen wie ‚n Kavalleriepferd und mitten im Schlaf. Und wenn dann der alte Oberst von Unruh mit seiner Krähstimme kommandierte: »Präsentiert das Gewehr!« und dann der Prinz, unser Prinz, die Front abschritt und die Spielleute spielten und wir mit ›Augen rechts‹ dastanden wie die Puppen, und ich sag Ihnen, Lehnert, was für Puppen, ja, das hätten Sie sehen sollen, das hatte so seine Art, das war ein Vergnügen, und wenn der Prinz dann sagte: Ja, das sind meine Vierundzwanziger; Kinder, wenn ich Soldaten sehen will, dann seh ich mir die Vierundzwanziger an; es lebe der Kaiser!‹, ja, Mister Lehnert, das war was, das kommt vons ›Dienen‹ und Gehorchenkönnen und von der Strammheit und der Propreté, und wenn Sie die ganzen achtunddreißig ›States‹ umstülpen und hier unser Indian-Territory mit dazu und alle Mennoniten und den alten Obadja auch, so was fällt nich raus und kann auch nich rausfallen, weil‘s nich drin is und weil alles Schwindel is … Und Miss Ruth, nu ja, Miss Ruth ist ein hübsches Ding, geb ich zu, meinetwegen, und Mister Toby kuckt in die Welt wie die Maus aus der Hede. Glau sind sie und gewaschen und haben so was wie Prinz und Prinzessin. Aber, bei Lichte besehen, das ist eben der Unsinn. Wer kein Prinz is, darf auch nicht wie ‚n Prinz aussehen. Prinz Friedrich Karl, der durfte, der war einer. Aber Toby? Toby weiß alles am besten und is doch bloß noch ein Quack. Aber das is hier alles eins, und mit zwanzig ist er bei der Gesandtschaft in Japan, und mit vierundzwanzig ist er Oberpriester in Nogat-Ehre. Denn der Alte wird klapprig, und ewig kann er doch nicht leben, und wenn er auch so fromm wäre wie Abraham oder wie Hiob.«