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Kitabı oku: «Quitt», sayfa 6
Elftes Kapitel
Frau Menz hatte zu schweigen versprochen, aber sie war unfähig, etwas auf der Seele zu behalten, und so wußte Lehnert nach einer Viertelstunde schon, was Christine berichtet hatte.
»Laß ihn, er wird nicht weit damit kommen!« Er sagte das so hin, um die Mutter, so gut es ging, zu beruhigen, in seinem Herzen aber sah es ganz anders aus, und er ging auf das Fenster zu, das er aufriß, um frische Luft einzulassen. Er hatte diesen Ausgang wohl für möglich, aber, bei der Fürsprache drüben, keineswegs für wahrscheinlich gehalten, und nun sollte doch das Schlimmste kommen, und wenn er sich diesem Schlimmsten entziehen wollte, so gab es nur ein Mittel und mußte nun das geschehen, womit er bis dahin in seiner Phantasie bloß gespielt hatte: Flucht. Ungezählte Male war es ihm eine Freude gewesen, von dem elenden Leben in diesem Sklavenlande zu sprechen, von der Lust, dieser Armseligkeit und Knechterei den Rücken zu kehren und übers Meer zu gehen, und doch – jetzt, wo die Stunde dazu da war, das immer wieder und wieder mit Entzücken Ausgemalte zur Tat werden zu lassen, jetzt wurd er zu seiner eigenen Überraschung gewahr, wie sehr er seine Heimat liebe, sein Schlesierland, seine Berge, seine Koppe. Das sollte nun alles nicht mehr sein. Um nichts, oder um so gut wie nichts, war er das erstemal von Opitz zur Anzeige gebracht worden, und um nichts sollt es wieder sein. Was war es denn? Ein Has, der in seinem Kornfeld gesessen und den er über Eck gebracht hatte. Das war alles, und dies alles war eben nichts. Und wenn es etwas war, wer war schuld daran? Wer anders als »der da drüben«, der ihm den Dienst verleidet hatte, sonst wär alles anders gekommen, und er wäre, was eigentlich sein Ehrgeiz und seine Lust war, bei den Soldaten geblieben und hätte seinem König weiter gedient und hätte jedes Jahr Urlaub genommen und wäre dann mit dem Hirschfänger und dem Czako durch die Dorfstraße gegangen, und alles hätte gegrüßt und sich über ihn gefreut. »Um all das hat er mich gebracht, weil er mir‘s mißgönnte, weil er nicht wollte, daß wer neben ihm stünde. Ja, er ist schuld, er allein. Um das Kreuz hat er mich gebracht, aber mein Haus- und Lebenskreuz war er von Anfang an und hat mich geschunden und gequält, und wie damals, so tut er‘s auch heute noch. Er hat mir das Leben verdorben und mein Glück und meine Seligkeit.«
Als er das letzte Wort gesprochen, brach er ab und sah vor sich hin. Alles, was in Nächten, wenn er nicht schlief, ihm halb traumhaft erschienen war, erschien ihm in diesem Augenblicke wieder, aber nicht als ein in Nebelferne vorüberziehendes Bild, sondern wie zum Greifen nah, und in seiner Seele klang es noch einmal nach: »und meine Seligkeit«.
Es war Mittag, und Frau Menz brachte die Mahlzeit. Aber Lehnert aß nicht, und als die Alte ihm zuredete, wies er es kurzerhand ab, stand auf und ging in seine Kammer, um, was ihn peinigte, loszuwerden und Ruhe zu suchen. Wenn er hätte schlafen können! Aber er fühlte nur, wie‘s hämmerte. Mit einem Male sprang er auf. »Nein, ich bleibe. Nicht fort. Ich will nicht fort. Einer muß das Feld räumen, gewiß. Aber warum soll ich denn der eine sein? Warum nicht der andere? Mann gegen Mann … und oben im Wald … und heute noch. Ich sage nicht, daß ich‘s tun will, ich will es nicht aus freien Stücken tun, nein, nein, ich will es in Gottes Hand legen, und wenn der es fügt, dann soll es sein … Und das Papier drüben und alles, was drin steht, das will ich schon aus der Welt schaffen … Und wenn ich ihm nicht begegne, dann soll es nicht sein, und dann will ich mich drein ergeben und will ins Gefängnis oder will weg und über See.«
Lehnert war klug genug, alles, was in diesen seinen Worten Trugschluß und Spiegelfechterei war, zu durchschauen; aber er war auch verrannt und befangen genug, sich drüber hinwegzusetzen, und so kam es, daß er sich wie befreit fühlte, nach all dem Schwanken endlich einen bestimmten Entschluß gefaßt zu haben. Er wartete bis um die sechste Stunde, legte dann, wie stets, wenn er ins Gebirge wollte, hirschlederne Gamaschen an und stieg, als er sich auf diese Weise marschfertig gemacht hatte, von seiner Bodenkammer wieder in die Wohnstube hinunter. Hier riß er aus dem unter der Jagdflinte hängenden Kalender ein paar Blätter heraus und wickelte was hinein, was wie Flachs oder Werg aussah. Alles aber tat er in eine Ledertasche, wie sie die Botenläufer tragen, gab dann der Alten, unter einem kurzen »Adjes, Mutter«, die Hand und ging auf das sogenannte »Gehänge« zu, den nächsten Weg zum Kamm und zur Koppe hinauf. Drüben in der Försterei schien alles ausgeflogen. Nur Diana lag auf der Schwelle und sah ihm nach.
Lehnert verfolgte seinen Weg, der ihn zunächst an den letzten Häusern von Wolfshau vorüberführte. Von hier aus bis zu dem das gräfliche Jagdrevier auf Meilen hin einhegenden Wildzaun waren keine tausend Schritt mehr, ein mit Kusseln besetztes, von einem schmalen Weg durchschnittnes Waldvorland, auf dem sich in diesem Augenblick eine Krummhübler Kinderschar heranbewegte, lauter halbwachsene Mädchen, die, von ihrem Lehrer geführt, eine Tagespartie nach der Schwarzen Koppe hinauf gemacht hatten. Lehnert blieb stehen; als sie näher kamen, sah er, daß sie Blumen in Haar und Hand trugen. Und dazu sangen sie:
»Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand.
Wo die Schneekoppe hoch in die Wolken steigt,
Wo der Kynast grau die Zinnen zeigt,
Wo Rübezahl tief im Berge thront,
Wo Liebe, Frohsinn, Treue wohnt,
Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand.«
Es war dasselbe Lied, das er in seinen Knabentagen und dann später, bei den Jägern, auf manchem heißen Marsch in Frankreich gesungen hatte. Wie das Lied ihn jetzt ins Herz traf, und er trat zurück, um den jungen Dingern, von denen die meisten ihn kannten, den Weg freizugeben. Sie nickten ihm zu, und eine gab ihm im Vorübergehen den Enzianenkranz, den sie hoch oben im Gebirge gepflückt und geflochten hatte. »Da, Lehnert!« Und kaum, daß sie vorbei waren, so nahmen sie das Lied wieder auf und sangen die letzte Strophe:
»Schlesierland! Schlesierland!
Du bist es, wo meine Wiege stand,
Ach, werd ich je dich wiedersehn,
Im Schatten deiner Tannen gehn,
Am Hügel meiner Eltern knien
Und sehen, wie die Wolken ziehn?
Auch in der Ferne knüpft mich ein Band
An dich, geliebtes Heimatland.«
Lehnert, als sie so sangen, hatte die Schlußzeilen unwillkürlich mitgesungen und wiederholte sie sich, als ob er in diesem Augenblicke schon ein tiefstes Heimweh in seinem Herzen empfunden hätte.
Dabei war er bis an den Wildzaun gekommen, bis an das Gatter, aus dem die Mädchen eine kleine Weile vorher herausgetreten waren. Er öffnete jetzt seinerseits das aus Holzstämmen zusammengefügte, schwer in den Angeln gehende Tor und ließ es wieder ins Schloß fallen, und der Ton, mit dem es einklinkte, durchfuhr ihn und ließ ihn zusammenschauern. Er war nun drin in dem Waldgehege. Was war geschehen oder doch vielleicht geschehn, wenn er wieder heraustrat? Aber er entschlug sich solcher Gedanken und schritt die geradlinige, steile Straße hinauf, das »Gehänge«, das hier am Gatter seinen Anfang nahm und abwechselnd an hochstämmigem Wald und niedriger Kusselheide vorüberführte. Dann und wann kamen auch Wiesenstreifen und Streifen von Moorgrund. Es war jetzt um die siebente Stunde und die Sonne, für die Talbewohner, noch über dem Horizont, hier oben aber herrschte schon Dämmer und abendliches Schweigen, und nur dann und wann hörte man das Klucken und Glucksen eines bergabschießenden Wasserlaufes oder eine vereinzelte Vogelstimme. Kein Schmettern oder Singen, nur etwas, das wie Klage klang. Am Himmel, der hell leuchtete, wurde die Mondsichel sichtbar, ein blasser Ring, und einmal war es Lehnert, als ginge wer neben ihm her. Aber es war eine Sinnestäuschung, und wenn er seinen Schritt anhielt, schwieg auch der begleitende Schritt im Walde.
So war er, das »Gehänge« hinauf, schon bis ziemlich hoch gekommen, und durch eine bergan steigende Lichtung im Walde konnte er bereits den Gebirgskamm in aller Deutlichkeit erkennen. Er sah aber nicht lange hinauf, sondern setzte sich, plötzlich der Ruhe bedürftig, auf eine Bank, die man hier, wohl zu Nutz und Frommen bergan steigender Sommergäste, zwischen zwei dicht nebeneinander stehenden Tannen angebracht hatte. Das dachartig überhängende Gezweige war Ursache, daß es um die ganze Stelle her schon dunkelte, trotzdem war es noch hell genug, um alles Nächstliegende deutlich erkennen zu können. An der anderen Seite des Weges sprang ein Quell aus einer nur wenig übermanneshohen Felswand, und der Umstand, daß man dem Quell eine zierliche Holzrinne gegeben und ihn in geringer Entfernung davon in einen von Moos überwachsenen Steintrog geleitet hatte, gab diesem Rastplatz etwas von einem Waldidyll. An dem Steintroge vorbei zog sich, nicht allzu weit unter dem Kamm hin, ein dem Zuge desselben folgender Pfad, der zuletzt auf die Hampelbaude zulief.
Lehnert wußte hier Bescheid auf Schritt und Tritt und hatte manch liebes Mal auf dieser Bank gesessen und nach dem Quell hinübergesehen und gehorcht, ob vielleicht Opitz aus dem Unterholz heraustreten würde. Fast zu gleichem Zwecke saß er wieder hier, und als sich‘s drüben einen Augenblick wie regte, schoß ihm das Blut zu Kopf, und er griff unwillkürlich nach links, wie wenn er, der doch noch ohne Waffe war, das Gewehr von der Schulter reißen wollte. Rasch aber entschlug er sich seiner Erregung wieder, und an ihre Stelle trat ein Lächeln. War er doch mit nichts ausgerüstet als mit einer Tasche, wie sie die Führer und Botenläufer tragen, und wenn Opitz in diesem Augenblicke wirklich aus dem Walde drüben herausgetreten wäre, so hätt er ihm einen »guten Abend« bieten und trotz aller Bitterkeit im Herzen ein Gespräch über den Koppenwirt oder über den nächsten Krieg oder über die »Görlitzer« mit ihm haben müssen. Er wurd überhaupt wieder unsicher und verlangte nach einem weitern Zeichen, das ihm noch einmal sage, was er zu tun habe. So brach er denn einen dürren Zweig ab und machte zwei Lose daraus, in Länge nur wenig voneinander unterschieden, und tat beide in seinen Hut. Und nun schüttelte er und zog und maß. Er hatte das etwas längere Stück gezogen. »Gut dann … es soll also sein …«, und mit einer Raschheit, in der sich die Furcht vor einem abermaligen Schwanken und Unschlüssigwerden aussprach, erhob er sich von seiner Bank und schlängelte sich mit einer Findigkeit, die deutlich sein Zuhausesein an dieser Stelle zeigte, durch allerhand dichtes Unterholz bis auf eine Waldwiese, die, nach der einen Seite hin, ganz besonders aber in der Mitte, mit riesigen Huflattichblättern überwachsen war, während sie nach der anderen Seite hin in buschhohem Farrenkraut stand, das sich, heckenartig, an einer niedrigen Felswand entlangzog. In Front dieser Buschhecke war nirgends ein Einschnitt, weshalb Lehnert, der dies sehr wohl wußte, seinen Eingang von der Seite her nahm und sich zwischen dem Farrenkraut und der Felswand hindurchdrängte, mit seiner Rechten an dem Gesteine beständig hintastend. Als er bis in die Mitte war, war auch die Felsspalte da, nach der er suchte, freilich nur schmal und eng. Er streifte deshalb den Ärmel in die Höh, um bequemer mit Hand und Unterarm hinein zu können, und nahm, als ihm dies gelungen, aus einer in der Felsspalte befindlichen Nische sein Doppelgewehr heraus, das hier, bis an den Kolben in ein Futteral von Hirschleder gesteckt, sein Versteck hatte. Gleich danach hielt er auch Pulverhorn und Schrotbeutel in Händen, und abermals einen Augenblick später von einem der von seiner Wohnung her mitgenommenen alten Kalenderblätter einen breiten Streifen abreißend, der als Schußpfropfen dienen sollte, lud er jetzt beide Läufe, setzte die Zündhütchen auf und hakte das mit zwei Drahtösen versehene Stück Werg, das ein falscher Bart war, über die Ohrwinkel. Und nun wand er sich, wie vorher zu diesem Versteck hin, so jetzt mit gleicher Raschheit durch Farrenkraut und Unterholz zurück und trat wieder auf die große Straße hinaus. Er war derselbe nicht mehr. Der flachsene Vollbart, der aus Zufall oder Absicht tief eingedrückte Hut, der Doppellauf über der Schulter – das alles gab ein Bild, das in nichts mehr an den Lehnert erinnerte, der vor einer Viertelstunde noch, schwankend und unsicher, auf der Bank am Quell gesessen hatte.
»Nun, mit Gott«, sprach er vor sich hin und stieg höher hinauf, auf den Grat des Gebirges zu.
Stiller wurd es, und niemand begegnete ihm. Nur einmal trat ein Rehbock auf eine Lichtung und stand, und Lehnert griff schon nach dem Gewehr, um anzuschlagen. Aber im nächsten Augenblicke war er wieder anderen Sinnes geworden. »Nein, nicht so. Sein Schicksal soll über ihn entscheiden, nicht ich. Ich will ihn nicht heranrufen; ich hab es in eine höhere Hand gelegt.« Und sein Gewehr wieder über die Schulter hängend, schob er sich weiter an den Tannen hin. Aber es waren ihrer nicht allzu viele mehr, immer lichter wurd es zwischen den Stämmen, und kaum hundert Schritte noch, so lag der Wald zurück, und ein breites Stück Moorland tat sich auf, durch das, jetzt, mitten hindurch, der Weg unmittelbar auf den Grat hinaufführte. Wo der Torf nicht zutage lag, war alles von einem gelben, sonnverbrannten Gras überwachsen; dazwischen aber blinkten Sumpf und Wasserlachen, auf deren schwarzer Fläche die Mondsichel sich spiegelte. Kein Leben, kein Laut. Aber während Lehnert dieser Lautlosigkeit noch nachhorchte, klang plötzlich, durch die tiefe Stille hin, ein helles Läuten herauf.
»Das ist das Kapellchen unten. Das fängt an und läutet den Sonntag ein.«
Und wirklich, ehe noch eine Minute vergangen, fiel das ganze Tal mit all seinen Kirchen und Kapellen ein, und wie im Wettstreit klangen die Glocken mächtig und melodisch bis auf den Koppengrat hinauf. Und nun war auch Lehnert oben und sah hinab. Der Mond gab eben Licht genug, ihn alles im Tal unten, drin eben ein dünner Nebel aufstieg, wie in einem halben Dämmer erkennen zu lassen. Da lagen die beiden Falkenberge, deren einer seine Zacken phantastisch emporstreckte, dahinter aber waren die Friesensteine, noch von einem letzten Widerscheine des Abendrots überglüht.
Lange sah er hinab, bis der Widerschein verblaßt und das weite Tal unten nichts mehr als eine Nebelkufe war. Nur um ihn her war noch klare Luft, und die Mondsichel blinkte.
»Wohin jetzt?« fragte er sich.
Er sah nach links hin, den Grat entlang, und bemerkte das Licht, das oben auf der Koppe schimmerte.
»Wenn ich mich ranhalte, bin ich in zwanzig Minuten oben … Und dann bin ich ihm nicht begegnet. Aber warum nicht? Weil ich ihm nicht begegnen konnte, weil ich ihm aus dem Wege gegangen bin. Ist das das Rechte? Heißt das sein Schicksal befragen? Ich darf ihm nicht aus dem Wege gehen, das ist kein richtig Spiel; ich muß dahin, wo sich‘s begegnen läßt … Da ist mein Platz.«
Und rasch entschlossen wandt er sich wieder und schritt denselben Weg zurück, auf dem er gekommen war.
Solang er das Moor und seine freie Fläche zu Seiten hatte, hing er allerhand Träumereien nach, kaum aber daß der Hochwald wieder um ihn her war, so schien auch sein Auge zwischen den Stämmen hin das Dunkel durchdringen zu wollen. Aber es blieb trotzdem, wie‘s war, und er war schon wieder bis an jene Wegstelle, wo sich die Bank befand und der Quell in den Steintrog fiel, ohne daß sich etwas geregt oder ihm auch im geringsten nur die Gegenwart seines Gegners verraten hätte. »Was soll er auch hier auf der großen Straße? Feige bin ich, nichts als Feigheit.« Und sich von der Bank her, drauf er abermals eine kurze Rast genommen, zum Weitergehen anschickend, bog er drüben in den am Steintroge vorüberführenden Querpfad ein, der in langer Linie, waagrecht und ohne jede Steigung, auf die Hampelbaude zulief. »Da will ich hin. In der Hampelbaude will ich schlafen. Und hab ich ihn bis dahin nicht getroffen, so soll es nicht sein. Und ich muß ins Prison oder in die weite Welt.«
Er mußte so sprechen, denn er wußte nur zu gut, daß er bis dahin mit der Begegnungsfrage bloß gespielt hatte. Jetzt aber mußte sich‘s zeigen. Und wunderbar, statt erregter zu werden, ward er mit jedem Augenblicke stiller und seine Seele ruhiger, vielleicht, weil er jetzt ein Ende absah. Und ihn verlangte danach, so oder so. Nur eines war ihm lästig, die Mondsichel blinkte so hell, als ob Vollmond wäre. »Der Bart ist doch immer nur eine halbe Verkleidung. Und wenn die Toten auch schweigen … Es wäre besser, die Wolke drüben legte sich vor.«
Und wirklich, sie tat‘s. Und was jetzt niederflimmerte, war nur noch das matte Licht der Sterne …
Da kam wer auf ihn zu. »Steh!« Opitz war um eine Wegecke gebogen und hielt auf fünf Schritt.
Und Lehnert stand.
»Gewehr weg! Was ein Richtiger ist, der weiß, wie sich‘s gehört. Aber du bist wohl ein Böhm‘scher … Eins, zwei …«
Lehnert, das Gewehr in der Hand, zögerte noch.
»Gewehr weg … drei.« Und im selben Augenblicke schlug der Hahn auf das Pistol. Aber das Zündhütchen versagte.
Und nun schlug Lehnert an, und zwei Schüsse krachten.
Opitz brach zusammen.
In engem Bogen an ihm vorbei ging Lehnert auf die Hampelbaude zu.
Zwölftes Kapitel
Zehn Uhr war durch, als Lehnert, der inzwischen sein Gewehr an einem anderen Versteckort wieder untergebracht hatte, bei der Hampelbaude eintraf. Trotz später Stunde war noch Leben drin, sogar Tanz, zu dem zwei böhmische Harfenistinnen von mittleren Jahren und ein zwölfjähriger Geiger lustig aufspielten. Lehnert setzte sich und ließ sich ein Nachtessen geben, als es aber vor ihm stand, schob er es wieder zurück und sprach nur dem Bier zu. Was um ihn her tanzte, waren Sommergäste, darunter Mütter, die dicht vor der silbernen Hochzeit, und Töchter, die dicht vor der ersten Konfirmationsstunde standen. Auch die Väter waren, in Ermangelung anderen Tanzmaterials, mit herangezogen worden, behäbige Männer mit ängstlich kurzen Hälsen, die durch Bemerkungen wie »frei weg« oder »immer feste« jeder weiteren Legitimation hinsichtlich ihres Wohnorts entbehren konnten. Dazwischen trippelten die Backfische mit hohen Knöpfstiefeln und lang herabhängendem Haar, dessen letzte natürliche Welle dem voraufgegangenen sechsstündigen Marsch in Julihitze längst zum Opfer gefallen war. Zwei, die vierzehn und dreizehn sein mochten, hatten ernste Freundschaft geschlossen und gingen, während der Tanzpausen, um die Taille gefaßt, in dem mit Petroleumqualm gesättigten Saalzimmer auf und ab.
»Sieh, Ulrike, sieh bloß Hedwigen«, sagte der Vater der älteren, der jetzt als Cavaliere servente hinter dem Stuhl seiner Frau stand, »sieh bloß Hedwigen, wie sie die Augen schmeißt; ich glaube, die wird gut. Wahrhaftig, was ein guter Haken werden will …«
»Ich bitte dich, Hermann, keine Unanständigkeiten …«
»Aber, Ulrike, Haken ist doch nicht unanständig.«
»Nein. Aber besser ist besser. Ich kenne deine Anfänge und deine Schlüsse.«
Lehnert sah auf das Treiben, und mitunter könnt es fast den Anschein gewinnen, als freue er sich darüber, am meisten, wenn die jungen Dinger, von denen einige immer aus dem Takte heraus und andere noch gar nicht hinein waren, an ihm vorbeiwalzten. Dann aber schwand mit einemmal wieder alles, was um ihn her war, und er sah wieder Opitz um die Buschecke biegen und hörte, wie der Hahn aufschlug, und sah ihn zusammenbrechen. »Er hat es nicht anders gewollt … Ob er tot ist …? Er muß tot sein …« Und während er noch so sann und in sich hineinredete, trat er aus dem heißen Saal ins Freie hinaus und sah nach dem Gehänge hinüber und dann hinauf in den gestirnten Himmel. Da stand die Sichel in aller Klarheit über ihm, aber über dem Toten am Wege stand sie auch.
Eine kalte Nachtluft ging, und Lehnert trat wieder in den Saal, der sich allmählich zu leeren anfing.
Als die letzten fort waren, erschien Lissi, seine gute Freundin, auch eine Böhmin, in der Tür und sagte: »Nun, Lehnert, was meinst? wenn ich der Bertha zurede, spielt sie noch einen Ländler auf, einen Ländler oder einen Schottischen.« Und die Harfenistin, die jedes Wort, das die beiden sprachen, gehört und guten Grund zur Freundschaft mit der Kellnerin hatte, fuhr auch gutwillig über die Saiten. Aber Lehnert wich aus und sagte, »daß er die fremden Herrschaften, die gewiß sehr müde seien, in ihrem Schlafe nicht stören wolle«.
»Was du da nur redest, Lehnert! Du willst halt nit. Das is alles. Aber gib acht, wenn du willst, will ich nit.« Und damit griff sie nach einer ganzen Anzahl von Seideln, die leer auf den Tischen umherstanden, und ging spöttisch und hochmütig an Lehnert vorüber. Zuletzt kam auch der Wirt. »Nu, Lehnert, ich sehe, du willst zu Nacht bleiben. Schlimm; alles voll bis unters Dach. Aber komm nur, ich weiß schon, was du gern hast.« Und dabei ging er voran und stieg, während Lehnert folgte, draußen am Giebel eine Leiter hinauf, die zunächst bis an eine Lukentür und durch diese hindurch nach dem Heuboden führte.
Lehnert machte sich‘s hier bequem und suchte zu schlafen. Aber es war zu schwül und der Heugeruch zu stark. So trat er denn wieder bis an die Lukentür heran und riß einen der beiden Flügel auf. Aber ebenso rasch schloß er ihn wieder. Schräg über ihm stand die Mondsichel und sah herab auf ihn und fragte.
Bald nach Tagesanbruch war Lehnert auf. Alles schlief noch, und nur das hübsche böhmische Mädchen, das er am Abend zuvor durch sein »Nein« erzürnt hatte, stand im Hof und spaltete Holz. Sie schien ihn nicht sehen zu wollen. Er trat aber an sie heran und sagte: »Laß gut sein, Lissi. Du weißt, ich bin kein Spielverderber und weiß, was sich paßt. Und wenn einem ein hübsches Mädel, und nun gar eins wie du, einen Kuß oder einen Tanz anbietet, da soll man nicht nein sagen. Das weiß ich so gut wie einer. Und hab ich dir schon was abgeschlagen? Nun, siehst du, du lachst. Also laß gut sein. Ich konnte nicht, mir war so schwindlig, und ich hätte von dem Bier nicht trinken sollen. Am Ende hast du was hineingetan, was einen behext. Und nun mache mir einen Kaffee, hörst du? Und vergiß nicht, wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Für die Berliner ist das andere gut genug.« »Pst.«
»Ach, die schlafen ja noch.« Und damit ging er auf einen Vorplatz zwischen Stall und Giebel und setzte sich in eine Gitterlaube, die an der windgeschützten Seite mit Convolvulus spärlich umwachsen war.
Und nicht lange, so kam der Kaffee mit Brot und Butter und einem Cognac; denn Lissi kannte seine Gewohnheiten. »Auf dein Wohl, Lissi! Und das nächste Mal tanz ich, bis ich umfalle.« Und als er das sagte, streckte er die Hand nach ihr aus. Aber sie gab ihm einen Klaps und sagte: »Du denkst halt, jede Stund ist gut zum Brezelbacken. Aber da irrst, das is nit wahr. ›Wer nicht kommt zur rechten Zeit …‹ Und jetzt ist nicht rechte Zeit, und morgens ist nicht abends … Aber mein Gott, da klingelt es schon und ruft auch schon. Ich wette, das ist die dicke Madame, die gestern tanzte, wie wenn ihre Hochzeit wär!«
Wirklich, es war drinnen im Hause lebendig geworden, und Lissi ging hinein und überließ Lehnert seinem Frühstück und seinen Betrachtungen, die nicht freundlich, aber auch nicht traurig waren. Gestern, als er hier ankam, war er in einer vollständigen Erschöpfung gewesen, und das Geschehene hatte noch mit all seinem Graus auf ihm gelastet. Das war aber über Nacht anders geworden, vier Stunden festen Schlafs hatten ihm seine Spannkraft und Energie zurückgegeben und ließen ihn jetzt das Behagen an einem gut besetzten Frühstückstische voll genießen. Was alles in allem überhaupt kein Wunder nehmen konnte. Denn wenn er schon, wie soviel andere, die Fähigkeit hatte, sich die Dinge, auch die schlimmsten, nach seinem Wunsch und Gebrauch zurechtzulegen, so war, im besonderen, alles, was sich gestern abend ereignet hatte, so wunderbar glücklich für ihn verlaufen, daß selbst ein zu Trugschlüssen und Spiegelfechtereien minder geneigter Charakter als der seine Veranlassung gehabt hätte, sich über Gewissensskrupel einigermaßen hinwegzusetzen. Was er vorgehabt hatte, nun, darüber mochte sich streiten lassen, was sich aber tatsächlich ereignet hatte, war nichts als ein Akt der Notwehr gewesen. Opitz hatte den ersten Schuß getan, und wenn dieser Schuß versagt und nun ihm das Spiel in die Hand gegeben hatte, so war das so recht ein Zeichen, das ihn in seinem Gemüt beruhigen durfte. Das Frühere, mit der Begegnung oder Nichtbegegnung und dem Gottesurteil, das darin liegen sollte, das war etwas Ausgeklügeltes gewesen, jetzt aber war Gott aus freien Stücken für ihn eingetreten und hatte gegen Opitz entschieden. Er seinerseits war nur Werkzeug gewesen, dessen sich die Vorsehung zur Abstrafung eines bösen Menschen bedient hatte.
Dies waren so die Vorstellungen, in denen er sich erging und die so stark waren, daß selbst die Stimme des Mitleids darin erstickte. Nur an die Frau dacht er mit Teilnahme. »Sie war immer gut gegen mich; aber sie wird sich trösten und nach Jahr und Tag dem vielleicht danken, der‘s tat und sie mit befreite. War sie doch eine Kreuzträgerin, und das tägliche Brot, das sie hatte, war ein Tränenbrot.«
Und nun war sein Frühstück beendet, und er trat eben aus der Laube heraus, um seinen Weg, er wußte noch nicht wohin, fortzusetzen, als dieselbe Madame, deren Stimme sich schon vor einer halben Stunde mit einem so scharfen Ton angekündigt hatte, in einer merkwürdigen Mischung von Nacht- und Morgenkostüm auf ihn zukam und ihn fragte, ob er sie vielleicht, über den Kamm weg, bis nach Schreiberhau hinführen und dabei das Gepäck tragen wolle.
Lehnert, der nie Führerdienst geleistet hatte, suchte noch nach einer möglichst artigen Form der Ablehnung, als ihn die plötzliche Dazwischenkunft eines in seiner Erscheinung die Dame noch weit in den Schatten stellenden älteren Herrn aller unmittelbaren Antwortsbenötigung überhob. Natürlich war es der Eheherr. Seine nach oben hin jeden Halts entbehrenden Beinkleider fielen, nach unten zu, ganz nach Art einer französischen Artilleriehose, faltenreich über den Spann und bedeckten hier die Mittelteile seiner Plüschpariser von ponceauroter Farbe. Sonstige Mängel verbargen sich hinter einer dunkelgelben, mit einem springenden Panther ausgestatteten Reisedecke, die königsmantelartig um seine Schultern geschlagen war.
»Ja, lieber Pfadfinder«, nahm der so plötzlich Hinzugekommene das Wort, »nach Schreiberhau hin. Selbstverständlich über den Kamm, und zwar mit allen Schikanen, worunter ich Aussichtspunkte verstehe. Was mich persönlich angeht, so bin ich entschieden für den ›Mittagsstein‹, ein Wort, das immer angenehm berührt, wenn auch schließlich nicht viel daraus wird, meine Frau, geborne Lezius, aber wird wohl für die ›Große Sturmhaube‹ sein. Oder wenigstens für die kleine. Nicht wahr, Ulrike?«
Lehnert hatte sich mittlerweile sein »Nein« zurechtgelegt und sagte, daß er‘s beim besten Willen nicht übernehmen könne, auch nicht einmal dürfe. Wenn er aber einem Führer begegne, so werd er ihn schicken. An der Riesenbaude gab‘s ihrer immer ein halbes Dutzend. Das Ehepaar schien damit einverstanden, und eine Zigarre, die der Lohn dieser Auskunft war, wurde von Lehnert dankend und lächelnd angenommen. Dann empfahl er sich und ging auf die Riesenbaude zu. Hier angekommen, entledigte er sich seines Auftrages und bog dann, an der Aupa hin, in den Riesengrund ein, sich berechnend, daß er um zehn in Trautenau sein könne. Da (das wußt er) fand er Freundschaft und Anhang und konnte leicht weiter, fort in die Welt, und war dann keine Not und Gefahr mehr. Aber mußt er denn fort? Um was war denn das alles geschehen? Doch nur, um nicht in die Welt hinaus zu müssen. Wenn er aber umgekehrt so ohne weiteres Platz machen wollte, dann konnte »der andere« auch bleiben und die Leute weiterquälen. Er durfte nicht gehen. Wenn er ging, war alles umsonst gewesen. So sann er auf seinem Wege hin und her, und als er bis Johannisbad gekommen war, war er entschlossen, den Weitermarsch bis Trautenau aufzugeben und in seine Wolfshauer Stellmacherei zurückzukehren. Es zog ihn mit einemmal wieder heim, und ein seltsames Verlangen regte sich in ihm, Zeuge zu sein, wie‘s nun wohl kommen werde.
Der Abstieg war bequem gewesen, jetzt aber ging es wieder steil bergan, und von Bequemlichkeit war keine Rede mehr. Indessen, er war ein guter Steiger, und schon um vier war er wieder auf dem Koppenkamm und um sechs in Wolfshau.
Die Mutter, die die Siebenhaarsche Predigt unten in Arnsdorf nicht versäumt hatte, stand am Herd und hielt just einen Bunzlauer Kaffeetopf und ein Stück Streuselkuchen in Händen, als Lehnert unter Kopfnicken eintrat.
»Guten Tag, Mutter!«
»Tag, Lehnert!«
»Weiter nichts, Mutter? Du bist doch sonst nicht so kurz. Nichts Neues? Nichts vorgefallen? Keine Menschenseele dagewesen? Der Streusel da kann doch nicht durch den Schornstein gekommen sein wie der Klapperstorch oder der Gottseibeiuns.«
»Ach, rede doch nicht von dem, der kommt doch, der kommt auch so.«
»Durch die Tür, meinst du?«
Sie nickte, tat einen Zug und starrte dann wieder schweigend vor sich hin, ohne Lehnert anzusehen. Der schwieg auch. Endlich sagte sie: »Opitz ist noch nicht da.«
»So?«
»Die Frau war hier und weinte.«
»Warum?«
»Weil sie glaubt, daß ihm was passiert sein könne.«
Lehnert lachte. »Dann muß eine Förstersfrau jeden Tag weinen.«
»Und dann fragte sie nach dir …«
»So, so. Und was sagtest du?«
»Daß du nach dem ›Waldhaus‹ gewollt hättest und vom Waldhaus nach Arnsdorf … vielleicht von wegen dem Has‘ … zum Grafen. Aber ich wüßt es nicht genau.«
»Das ist recht, Mutter, daß du das gesagt hast, daß du gesagt hast, du wüßtest es nicht genau. Das ist immer das beste, das mußt du immer sagen. Und nun gib mir einen Schluck von dem Kaffee da. Nein, laß lieber, ein Teller Milch ist mir besser. Ich bin verhungert und verdurstet. Seit heute früh keinen Bissen und keinen Tropfen.«
Beide standen auf, Lehnert, um sich umzuziehen und die Gamaschen abzutun, die Mutter, um ihm die Milch zu holen, die nach Landesbrauch in einer vom Ufer aus vorgebauten Steinhütte stand, durch die nun die Lomnitz hindurchschoß und Kühle gab.
Als Lehnert wieder treppab kam, sah er, daß die Mutter ihm das Abendbrot vor dem Hause hergerichtet hatte, neben dem Rosenbusch, unter dessen überhängendem Gezweig er am liebsten saß. Drüben aber, in der Haustür der Försterei, stand die gute Frau Opitz und sah abwechselnd nach dem Gehänge hinauf und darin wieder in die tiefrot untergehende Sonne.
