Kitabı oku: «Geisterfahrten», sayfa 3

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Ich bin irgendwie angeknipst. Kann nachts nicht richtig schlafen, bin aber tagsüber gleichwohl nicht müde. Stern hingegen ist dauernd müde. Immer wieder gähnt er, immer wieder drohen seine Augenlider zuzufallen. Als wären noch immer die Schlafkuren wirksam, die in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit ihm gemacht wurden. Jetzt hält er einen Nachmittagsschlaf, der allerdings, laut Maria, nicht zu lange dauern dürfe, nach einer Stunde spätestens müsse er geweckt werden. Ich mache ein paar Vorbereitungen für unser Abendessen, stelle dann draußen die Sonnenschirme auf, hole kühle Getränke und Kaffee, ein Badetuch, ein großes Becken, gefüllt mit Wasser und einem Schuss Olivenöl für Sterns Fußbad, ebenso die Utensilien für die Fußpflege hinterher. Dann wecke ich ihn auf. Wie langsam mein großer Bruder geworden ist. Und wie ungeduldig ich bin. Es dauert in meinen Augen ewig, bis er sich installiert hat auf der Bank, ein Kissen unter seinem Hintern, die Füße im Becken, er trägt, der Wärme angepasst, bloß ein T-Shirt und eine Boxershorts. Stets muss ich ihn zum Wassertrinken animieren.

Du hast schön schlanke Beine, sage ich, ohne eine einzige Krampfader. Stern lächelt.

Wenigstens das, sagt er, plätschert mit seinen Füßen ein wenig im Wasser und wirkt zum ersten Mal, seit wir hier sind, ziemlich entspannt. Ich überlege, wie ich den Moment nützen und ihn zum Reden bringen könnte, ich weiß auch, worauf ich hinaus möchte, aber ich mache einen Umweg, um so vielleicht mein Ziel zu erreichen.

Welchen Beruf würdest du erlernen, wenn du nochmals jung wärst, frage ich. Viel schneller als erwartet antwortet er: Physiker.

Fände ich toll. Du hast dich ja mit allerlei Handfestem herumgeschlagen. Sogar die Spezialkonstruktionen der Maschinen hast du selber ausgetüftelt, um deine Trocken- oder Hydrosaat auf dem Gelände auszubringen.

Lange her, brummt Stern und bewegt nun seine Füße so heftig, dass das Wasser überschwappt und auch meine Hose etwas davon abkriegt.

Lass mich laut denken, sage ich und kremple dabei mein feuchtes Hosenbein hoch. Du würdest dir also in einem nächsten Leben zuerst die physikalischen Gesetzmäßigkeiten aneignen für einiges, was du dir mühsam erarbeiten musstest? Und bei mir selber denke ich, wie interessant, mein Bruder, bei dem es oft in seinem Leben ums Psychische ging, möchte Physiker werden.

Stern nickt, betrachtet eingehend seine Füße, als hätte er sie schon lange nicht mehr gesehen und äußert schließlich: Bin mein ganzes Leben lang ein Bastler geblieben. Leider.

Allerdings ein erfolgreicher Bastler, immerhin hast du Grün gegründet, hast Glück gehabt mit deiner Firma und bist doch ziemlich reich geworden damit. Stern zuckt mit den Schultern.

Geld, sagt er, Geld …

Geld war zumindest am Anfang ein Problem. Erinnerst du dich noch an die Szene, als du Vater nach Geld gefragt hast für deine Unternehmung? Nun schaut mich Stern interessiert an. Ich jedenfalls, fahre ich fort, erinnere mich noch so genau, als wäre es gestern gewesen. Du willst also mit Autobahnen dein Geld machen, hat Vater aufgebracht gebrüllt. Anstatt unseren Hof weiterzuführen und mein Nachfolger als Förster bei der Korporation zu werden, willst du von diesen verfluchten Autobahnen profitieren, die Ackerland und Wälder durchschneiden und unsere Existenz und jene der Waldtiere bedrohen. Keinen Franken, ich sag es dir klipp und klar, keinen Franken bekommst du von mir für eine solche Firma, so lange ich noch nicht unter dem Boden bin. Etwa so hat es geklungen, weißt du das noch, Stern?

Er antwortet nicht, sondern starrt schon wieder ins Leere, ich aber weiß noch, wie explosiv die Situation war und wie erleichtert ich später war, dass niemand von mir erwartet hat, einen Bauern zu heiraten und den Hof zu übernehmen. Und dass Mutter oft zu mir gesagt hat: Mach du uns bloß nicht auch noch Verdruss, wir haben schon genug davon.

Den ganzen wüsten Streit nur wegen des Geldes … Stern schaut mich nun fragend an.

Wahrscheinlich ging es um mehr als um Geld, erwidere ich, apropos Geld, weißt du eigentlich, was die Behandlung, die ich nun gleich deinen Füßen angedeihen lasse, bei einer Fachperson kosten würde?

Keine Ahnung, weißt du es denn?

Klar, ich gehe regelmäßig zur Podologin, sie nimmt hundertzehn Franken pro Behandlung.

Brauchst du Geld?

Nein, sage ich lachend und greife nach der Espressotasse auf dem Tisch und trinke sie in einem Zug leer. Stern tut es mir gleich, es schüttelt ihn aber unmittelbar nach dem Schlucken.

Ekelhaft bittere Brühe, stößt er hervor, er brauche Zucker in den Kaffee. Zucker. Drei Löffel mindestens.

Ach, stimmt, das habe ich vergessen, tut mir leid, nimm einen Schluck Wasser, sage ich, breite dann ein Tuch vor dem Becken am Boden aus und bitte ihn, seine Füße daraufzulegen.

Stern gehorcht und macht Anstalten, sich hinunter zu beugen, um seine Füße trocken zu reiben, aber ich sehe, wie viel Anstrengung ihn das kostet. Lass sie an der Luft trocknen, das dauert nicht lange, sage ich und drapiere ein kleineres Tuch auf meinen Oberschenkeln. Nach einer Weile weise ich ihn an, seine Beine hochzuheben und sie so zu platzieren, dass seine Füße auf meinen Oberschenkeln zu liegen kommen. Ächzend tut er, was ich von ihm verlange.

Ruhig halten, wenn ich die Nägel schneide, bitte ich, greife zum Nagelclip und nehme mir Sterns rechten Fuß vor. Der Nagel der großen Zehe reicht weit über die Zehenkuppe hinaus, er ist verdickt und das Nagelbett ein bisschen entzündet. Vorsichtig setze ich den Clip so an, dass sich ein Stück Nagelplatte zwischen den Schneidstücken befindet, dann betätige ich den kleinen Hebel. Das abgeknipste Nagelstück spickt weg und landet irgendwo, jedenfalls nicht auf dem Tuch auf meinen Beinen. Der nächste Nagel ist fast eingewachsen und verlangt nach der Eckenzange, die sich in meinem Pediküre-Set befindet. Meine semiprofessionelle Ausstattung entlockt Stern einen bewundernden Laut, und er hält während der gesamten Schneideprozedur ganz still.

Stell dir vor, über welche Strecken dich diese Füße hier schon getragen habe, äußere ich, während ich seine Nägel feile und mich dann an die Bearbeitung der Hornhaut machen will. Stern brummt erst etwas Unverständliches und klagt dann, seine Beine würden schmerzen, er müsse sie wieder eine Weile auf den Boden stellen. Ich nutze die Gelegenheit und hole die Hornhautfeile im Bad, mit dem Bimsstein allein komme ich dem Zustand seiner Füße nicht bei. In Ermangelung eines speziellen Produktes für die Füße nehme ich auch mein Gesichtspeeling mit, zur Not wird man Sterns Füße auch damit bearbeiten können, ebenso greife ich nach der Tube mit der Fußcreme. Wieder draußen, stelle ich zwei Stühle mit Polster nebeneinander, damit Sterns Beine besser abgestützt werden, klopfe auf die Polster: Bitte, Beine wieder hoch, es ist nun bequemer für dich. Er tut, was ich verlange, und während ich mich mit geneigtem Kopf konzentriert der Hornhaut an seiner linken Ferse widme, die ich zuerst mit der groben, dann mit der feinen Feilenseite abrasple, frage ich: Wie ist es eigentlich für dich, zuschauen zu müssen, wie dein Lebenswerk verschwindet? Kurz blicke ich zu Stern hoch, er hat die Augen geschlossen, vielleicht genießt er es ja, dass sich jemand um seine Füße kümmert. Ich lege die Feile weg, wechsle zum Bimsstein, und als Stern nicht antwortet, rede ich weiter. Du weißt doch, dass immer mehr Autobahnen rundum saniert worden sind. Er zuckt nur mit den Schultern. Laut Verkehrsexperten, fahre ich fort, sollen ein neues Leitplankensystem und ein neuartiger Belag über alle Fahrbahnen hinweg mehr Flexibilität bringen.

Stern hat jetzt die Augen geöffnet, schaut mich aber nicht an, und so rede ich weiter, nun etwas langsamer: Stell dir vor, die begrünten Mittelstreifen verschwinden wohl gänzlich. Sie werden entfernt und durch Betonmauern, Stahlstreifen und andere Abschrankungen ersetzt.

Stern nickt, brummt wieder etwas Unverständliches und ich spüre, dass der Bimsstein, mit dem ich noch immer seine Fersen bearbeite, etwas wärmer geworden ist. Ich rasple und rasple und bleibe am Thema dran: Immerhin wird ein kleiner Teil jener Grünflächen entlang der Nationalstraßen, die meist als Lärmschutz dienen, aufgewertet werden, aber die begrünten Mittelstreifen verschwinden mehr und mehr. Wie findest du das denn? Nun halte ich kurz inne, um zu sehen, ob mein Bruder in irgendeiner Weise auf meine Frage reagiert, aber er bleibt unbewegt. Erst nach langem äußert er: So geht halt die Zeit.

Am liebsten würde ich ihn schütteln, um seinen Panzer aus Resignation zu durchbrechen, stattdessen rasple ich nun bloß etwas heftiger die Hornhaut an seinen Fußballen weg. Bereits tun mir der rechte Arm und der Rücken weh, das Verharren in gebeugter Position ist unbequem, aber ich gebe nicht auf. Mit den Fingerkuppen suche ich Sterns Füße nach weiteren verhornten Stellen ab. Deine Hühneraugen, sage ich dann, musst du dir von einem Podologen entfernen lassen, das traue ich mir nicht zu.

Die tun ja nicht weh, erwidert er.

Ohne auf diese Bemerkung einzugehen, trage ich nun das Peeling-Gel auf und massiere es in die Fußhaut ein, dann fordere ich ihn auf, seine Füße nochmals ins Becken zu tauchen, das Wasser ist wohl mittlerweile kalt, aber das spielt keine Rolle. Ich knie mich hin, rubble seine Füße im kalten Wasser durch und entferne so Gel und Hautschüppchen. Nach dem erneuten Trocknen muss Stern sie nochmals auf meine Oberschenkel legen und nun beginne ich, die Füße meines Bruders reichlich mit Arnika-Fußcreme einzucremen. Fußmassage, sage ich dazu und spüre, dass mir diese Berührungen fast zu intim sind.

Ich war zehn, als mein Bruder mich auf seinem Motorrad mitnahm und mit mir, platziert hinten auf dem Beifahrersitz, durch das Entlebuch und das Emmental in einen Vorort von Bern fuhr. Schon auf den ersten Kilometern hatte der Fahrtwind mein Kopftuch davongetragen. Ich hatte Angst in den Kurven, Angst, wenn uns ein Auto überholte, ich hatte Angst vor dem Körper meines Bruders, an den ich mich schmiegen musste, dessen Bauch ich umfassen musste mit meinen Armen, ich hatte Angst, mein Bruder würde die Route nicht kennen und wir würden nie an unserem Ziel ankommen, bei einer Kusine nämlich, bei der ich ein paar Ferientage verbringen würde. Aber wir kamen an, und wie, waren wir doch in einem Restaurant verabredet, in dem es ein Aquarium gab, was ich in meinem ganzen Leben noch nie gesehen hatte. Wir nahmen in einem vornehmen Restaurant das Abendessen ein, schrieb ich nach den Frühlingsferien über mein schönstes Ferienerlebnis, und als mein Bruder sich verabschiedete, weinte ich. Schnell ging ich wieder zum Aquarium und betrachtete die Fische, damit niemand sah, dass ich weinte. Warum weintest du?, schrieb der Lehrer unter meinen Aufsatz. Ich wusste es wohl selbst nicht, hatte ich mich doch unglaublich auf die Reise und auf die Ferientage gefreut. Schon damals allerdings war mir bewusst, dass auch das, worauf man sich freut, alles Schöne also, vorbeigehen würde. So hat sich in die Vorfreude und in jeden einzelnen Ferientag bereits ein Vorschmerz über das unabänderliche, künftige Ende des Aufenthaltes gemischt. Die Fahrt war lang und beschwerlich gewesen, mir taten alle Glieder weh, und heute denke ich, mir wurde erst in dem Moment bewusst, als mein Bruder sich verabschiedete, dass ich meine viel ältere Kusine und ihren Mann gar nicht richtig kannte. Die beiden kamen zwei-, dreimal pro Jahr zu Besuch, tranken eine Flasche Wein mit meinen Eltern, erzählten von irgendwelchen Leuten, dann gingen sie wieder weg. Der Mann meiner Kusine war Kaminfeger, meine Kusine war Hausfrau, sie hatten zwei Mädchen adoptiert, weil sie keine eigenen Kinder bekommen hatten. Wirkliche Adoptivkinder hatte ich noch nie gesehen, diesen Status kannte ich nur aus Büchern. Als ich die zwei endlich kennenlernte, sie waren am Wochenende bei einer Freundin der Kusine gewesen, war ich enttäuscht. Sie sahen aus wie gewöhnliche Kinder, die zu meiner Kusine und ihrem Mann Mama und Papa sagten und nicht die ganze Zeit darüber nachdachten, dass sie bloß Adoptivkinder waren.

Wie lange hattest du eigentlich ein Motorrad?, frage ich in Richtung meines Bruders, ohne die Massage zu unterbrechen. Keine Antwort. Ich blicke hoch und sehe, dass Stern weint.

Was soll ich nun tun? Stern hat diverse Gründe zu weinen. Vielleicht weint er, weil er alt ist. Da gibt es keinen Trost. Mit dreiundachtzig sei man alt, das schlecke keine Geiß weg, hat er auf der Fahrt hierher gesagt. Oder weint er, weil er zwei Söhne verloren hat? Oder weil das Buschwerk der begrünten Mittelstreifen auf den Autobahnen gerodet wird, da seine Pflege, über Jahre wichtigster Auftrag von Grün, zu gefährlich und der Blendschutz, den es bot, obsolet geworden ist? Und soll ich so tun, als bemerkte ich das Weinen nicht?

Hast du vielleicht Heimweh?, frage ich schließlich. Aber Stern antwortet nicht und so schlage ich vor: Wir lassen die Fußcreme noch ein wenig einwirken, dann wird die Haut an deinen Füßen so zart wie die eines Babys. Lauf also noch nicht gleich los.

Wohin denn auch, äußert er, und es klingt nicht wie eine Frage. Dann wischt er sich mit einer Hand über das Gesicht.

Warte kurz, sage ich, ich hole Taschentücher.

Sommer und Herbst 1938

Filomena konnte auch ihr zweites Kind, Walter, nicht stillen. An einem Abend voller Abendrot – den Tag über hatte es des Öftern schwach geregnet – war es in ihrem Schlafzimmer im oberen Stockwerk des Wirtshauses zur Welt gekommen. Eine Hebamme und Filomenas Mutter waren bei der Geburt dabei gewesen. Zwar hatte auch Ernst als Säugling ab und zu geschrien, meist nach dem Trinken, aber Walters Dauergeschrei wurde bald unerträglich. Er litt an Koliken, ausgelöst wohl von der verdünnten Kuhmilch, die ihm verabreicht wurde, denn Kindermehl für die Zubereitung eines Fläschchens leistete sich niemand im Dorf. Walter schrie tagsüber, er schrie abends und er schrie nachts. Auf dem Dachboden, denn dorthin wurde er über Nacht gebracht, in einen Wäschekorb gebettet, damit niemand sein nervtötendes Geschrei mehr hören musste. Filomena hörte es dennoch, sie lag wach, aber es war ihr untersagt, aufzustehen und zu ihrem Kind zu gehen. Einmal, an einem Sonntagnachmittag, als das Geschrei wieder nicht aufhören wollte, packte Franz den Säugling und zeigte seinem Söhnchen den Meister. Dabei schrie er ihn an: Du sollst schlafen, kapierst du, schlafen sollst du. Walter brüllte nun so heftig, dass er fast keine Luft mehr kriegte und blau anlief. Sein Vater beförderte ihn unsanft wieder zurück in die Wiege, stürzte hinaus und überrannte beinahe seine Frau, die in der offenen Tür stand, schockstarr, bis Bewegung in sie kam und sie Walter aus der Wiege zerrte, ihn kopfunter hielt wie ein totes Kaninchen und ihm immer wieder kleine Klapse auf Rücken und Po verabreichte und schrie: Atme, atme. Dann rannte sie mit dem japsenden Kind in ihr Elternhaus. Ihre Mutter nahm Walter in den Arm und wiegte und wiegte und streichelte und tröstete ihn und schickte Filomena dann in ihr eigenes Bett, damit sie sich endlich ein wenig ausruhen konnte. Wo der gut zweijährige Ernst in dieser Zeit war, wer weiß das.

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Stern, geerdet wie kein Zweiter und gleichzeitig ein Himmelskörper. Sein Bart sprießt üppig, wächst noch immer schnell und lässt ihn immer wieder verstruppt aussehen. Er verwildert. Wie ein alter Kater, nur sind alte Kater in der Regel mager. Für einen Mann, der sein Leben lang unter freiem Himmel gearbeitet hat, bei jedem Wetter draußen war und Maschinen bediente und dessen Tagwerk erst spät abends endete, für einen, der über Jahrzehnte die Jahreszeiten und die wachsenden und abnehmendem Tage und die steigenden und fallenden Temperaturen und die Gewitter und die Stürme am eigenen Leibe erfahren hat, für solch einen ist es wohl noch schwieriger, alt zu werden und nun den größten Teil der Zeit drinnen zu verbringen, schwieriger, als es für Bürogummis und Stubenhocker ist, so nennt Stern alle, die mit dem Kopf arbeiten. Für ihn ist die radikale Beschneidung seines Radius wohl sehr schmerzlich. Weil Stern zittrig ist, beträgt seine Betriebszeit draußen höchstens noch eine halbe Stunde. Mehr leistet sein Körper nicht mehr. Zwar könnten seine Beine mehr bewältigen, ein wenig Restkraft ist in den Beinmuskeln geblieben, aber die Zitteranfälle ermüden Stern und weichen seinen einst so gestählten Körper auf. Denn längst hat sein Körper die Straffheit verloren, das Fleisch die Festigkeit. Könnte man dieses Zittern abstellen, wäre viel gewonnen, sagt er immer wieder. Und er fürchte vor allem die Nacht.

Die Nacht? Er nickt.

Ja, die Nacht. Er könne es nicht erklären, sagt er und schaut dabei ins Leere.

Hast du denn quälende Träume?, bohre ich nach. Er macht nur eine wegwerfende Handbewegung. Träume, sagt er in verächtlichem Ton dazu. Stern fürchtet wohl die Schwärze der Nacht. Ihre dunkle Stille. Es verstört ihn wohl die Abwesenheit jeder Bewegung. Und was soll er denn tun, in der Nacht, wenn es schon schwierig ist, den Tag irgendwie hinter sich zu bringen? Einer, der nicht liest, bloß ein bisschen in der Lokalzeitung blättert. Einer, der nicht mehr gerne Karten spielt. Keine Rätsel löst, kein Radio hört, der sich nicht sonderlich für Sportsendungen und Spieleshows im Fernsehen interessiert. Einer, der sich bis an der Schwelle zum Alter mit nichts anderem beschäftigte als mit Arbeit. Arbeit mit den Händen, Arbeit unter hohem Körpereinsatz. Dieser alte Menschenschlag stirbt allmählich aus, in unserer Familie ganz sicher. Unser Vater war auch so. Nur Linus, Sterns Sohn, hat sich dem verweigert.

Sterns Körper lässt ihn nun im Stich. Als das Zittern immer stärker wurde, gab es ein paar Sitzungen bei der Physiotherapie. Und es habe tatsächlich ein paar Morgen gegeben, an denen er mit den Übungen, die ihm dort gezeigt wurden, begonnen habe, sagt er, als ich nachfrage. Wir haben eben das Frühstück beendet.

Zeig mir bitte die Übungen, fordere ich ihn auf. Jetzt lacht er und sagt: Gut, wenn du unbedingt einem Alten beim Turnen zuschauen willst. Ich werde gleich mal mit dem schwierigsten beginnen.

Bitte nicht, du musst dich doch zuerst ein wenig aufwärmen. Stern aber schüttelt den Kopf, steht langsam auf, schiebt einen Stuhl zur Seite, geht in die Mitte des Raumes, schaut mich an, lächelt.

Die Schwalbe, sagt er, mal schauen, ob ich sie noch hinkriege. Er breitet die Arme waagrecht aus, verlagert sein Gewicht auf das linke Bein und hebt das rechte langsam hoch. Tatsächlich versucht er sich an der Standwaage. Und scheitert. Er stürzt mit Gepolter. Ich erstarre. Dann springe ich auf, beuge mich über ihn, der aufzustehen versucht, es aber nicht schafft.

Warte, ich hole Hilfe. Nur wo, nur wie, durchfährt es mich, als ich kopflos die Treppe hinunterrenne und die Haustüre aufreiße. Da steht doch tatsächlich ein Mann auf dem Vorplatz und betrachtet Ruths Ferienhaus. Er späht es nicht aus, ist nicht bestrebt, um jeden Preis einen Blick in einen der Innenräume zu erhaschen, sondern er steht ruhig da und lässt das gemauerte Gebäude auf sich wirken. Ich kann ihn gut verstehen, denn dieses Haus wirkt auf manche Passanten anziehend in seinen harmonischen Dimensionen und seinem zurückhaltendem Gelb. Und auch ich habe die Angewohnheit, auf Spaziergängen durch die Dörfer oft stehen zu bleiben, Häuser zu betrachten und sie auf mich wirken zu lassen.

Nun aber stürme ich aus diesem gelben Haus direkt auf den Mann zu, der ganz versunken scheint in seinem Anblick und mich überrascht, fast erschrocken anschaut, als ich rufe: Entschuldigen Sie bitte, können Sie mir vielleicht helfen? Als er nicht antwortet, stelle ich ihm dieselbe Frage auf Italienisch und dabei wird mir klar, dass es sich bei ihm um den Mann handelt, der mir vorgestern beim Abendessen im Garten des Albergo aufgefallen war.

Guten Tag, sagt er nun, ich spreche Deutsch. Wie soll ich Ihnen denn helfen?

Guten Tag, sage auch ich nun, bitte entschuldigen Sie, ich bin Lisa Hauser, und eben ist ein älterer Mann hier im Haus gestürzt und ich schaffe es nicht allein, ihm wieder auf die Beine zu helfen. Als der Fremde noch immer schweigt, erkläre ich: Wir sind im Urlaub, er und ich, eine Freundin hat uns dieses Haus für ein paar Tage überlassen, wir kennen niemanden hier. Nun lächelt der Fremde, streckt mir seine Hand entgegen und stellte sich vor: Erik Sanders, auch im Urlaub, ich logiere im Albergo, wir haben uns doch neulich dort gesehen, nicht?

Ich nicke, wahrscheinlich erröte ich. Er befinde sich auf einem morgendlichen Dorfrundgang, aber klar helfe er mir, fährt er fort und macht einen Schritt auf mich zu. Ich lächle diesen Erik Sanders erleichtert an, bedanke mich, bitte ihn, mir zu folgen und eile voraus, trete ins Haus, steige die Steintreppe hoch und gehe direkt ins Wohnzimmer, wo Stern noch immer am Boden liegt. Er hat sich auf den Rücken gedreht und versucht immer wieder, hochzukommen, mit schmerzverzerrtem Gesicht, aber es gelingt ihm nicht.

Ich habe Hilfe geholt, sage ich zu ihm, und schon beugt sich dieser mir völlig unbekannte Helfer über ihn und fragt, wo er Schmerzen habe. Mein Bruder schweigt.

Wo tut es dir am meisten weh?, fasse ich nach. Stern schüttelt bloß den Kopf und streckt uns beide Hände entgegen. Dieser Sanders kniet nun neben meinem Bruder, ich tue es ihm auf der anderen Seite gleich, und er sagt zu Stern: Wir werden nun versuchen, Sie aufzurichten, um zu überprüfen, ob Sie sitzen können. Stern schaut mich ängstlich an, deutet aber ein Nicken an. Also fassen wir ihn vorsichtig unter und richten ihn mit ein wenig Hilfe seinerseits langsam auf. Das Sitzen klappt, aber er beginnt sofort heftig zu zittern. Sanders gibt mir einen fragenden Blick.

Keine Sorge, das sind seine Medikamente, die dieses Zittern auslösen, es ist nicht neu, erkläre ich und bin ungemein erleichtert, als Stern es ein wenig später mit unserer Unterstützung tatsächlich geschafft hat, aufzustehen und sich nun, rechts und links von uns gestützt, mit kleinen Schritten zum Sofa begibt, wo er sich, noch immer gestützt von uns, langsam und mit einem Ächzen niederlässt. Vorsichtig heben wir seine Beine an und lagern sie hoch.

Hast du Schmerzen?, frage ich.

Wie ist denn der Sturz passiert, fragt Sanders gleichzeitig. Sind Sie über einen Gegenstand gestolpert? Als mein Bruder nicht antwortet, wiederholt Sanders seine Frage nochmals lauter und deutlicher und schaut Stern dabei forschend und freundlich zugleich an. Wissen Sie noch, wie sich der Sturz zugetragen hat? Jetzt nickt Stern und sagt: Schwalbe. Standwaage, übersetze ich.

Standwaage?, wiederholt Sanders fragend. Ein winziges Lächeln zeigte sich auf Sterns Gesicht, als er bekräftigt: Genau, die Standwaage, meinetwegen, wir sagen Schwalbe dazu.

Ballettübungen sollten Sie vielleicht künftig besser unterlassen, meint Sanders und lacht auch ein wenig, ich pflichte ihm bei: Hast du gehört, Stern, lass die Standwaage künftig bleiben. Mit Kapriolen wie der Schwalbe ist nun leider definitiv Schluss. Stern schweigt wieder, er hält die Augen eine Weile lang geschlossen, fasst dann mit einer Hand an seinen Brustkorb rechts und äußert leise: Ein, zwei Rippen angeknackst, glaub, nicht schlimm. So ist das halt.

Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll, sage ich zu Sanders, als ich ihn nach unten begleite. Ich biete ihm einen Kaffee an, aber er lehnt ab. Gerne ein anderes Mal, nun aber würde er lieber seinen Dorfspaziergang fortsetzen. So begleite ich ihn vor das Haus, wo wir noch eine Weile stehen bleiben.

Geben Sie Ihrem Vater ein Schmerzmittel, rät er, angeknackste Rippen können heftig wehtun. Ich schaue ihn forschend an.

Sind Sie Arzt? Er verneint.

Zwar habe er viele Jahre in einem Krankenhaus gearbeitet, allerdings in der Verwaltung, aber er habe eine Zeit lang bei der Pflege seines eigenen Vaters mitgeholfen. Dieser sei auch mehrere Male gestürzt, sein letzter Sturz habe schießlich zur Überweisung in ein Pflegeheim geführt, wo er nach nicht einmal drei Wochen verstorben sei. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll zu Sanders Ausführungen, der noch immer neben mir steht. So schweigen wir, es ist nicht unangenehm, und schließlich fragt er:

Wie alt ist Ihr Ballettvater denn? Ich muss über diese neue Bezeichnung für Stern lachen. Stern sei dreiundachtzig, und er sei nicht mein Vater, sondern mein Bruder.

Stern? Ich nicke.

Genau, Stern, so heißt mein Bruder, der mir heute Vormittag die Standwaage vorführen wollte. Der Name ist ein Anagramm, füge ich an, als Sanders mich noch immer anschaut, und er enthält eine lange Geschichte. Ich beschließe, keine weiteren Erklärungen mehr abzugeben, und so streckt er mir die Hand entgegen. Ich nehme sie.

Haben Sie vielen, vielen Dank für Ihre Hilfe. Ich weiß gar nicht, was ich ohne Sie getan hätte. Sanders hält meine Hand ein klein wenig länger als üblich.

Sehr gerne geschehen, Lisa, wirklich, und passen Sie gut auf Ernst auf. Falls Sie Unterstützung brauchen, wissen Sie, wo Sie mich finden können. Ich nicke, dann lässt er meine Hand los, wendet sich ab, geht ein paar Schritte das Sträßchen hoch, dreht sich nochmals um und winkt mir zu, bevor er in der nächsten Kurve verschwindet.

Im Wohnzimmer ist Stern auf dem Sofa eingeschlafen. Ich befühle seine Hände, sie sind kühl, so decke ich ihn mit einer Tagesdecke zu, setze mich auf den Sessel gegenüber dem Sofa und betrachte ihn. Er muss meinen Blick gespürt haben, denn nach ein paar Momenten öffnet er die Augen schon wieder:

Hör auf, mich anzustarren.

Ja, in Ordnung, aber wie geht es dir?

Wie immer.

Versprichst du mir, nicht aufzustehen, bis ich wieder da bin? Ich habe etwas zu erledigen und muss dich für einen Moment allein lassen. Es dauert nicht lange.

Kein Problem. Stern versucht, sich auf die Seite zu drehen, stößt aber einen kleinen Fluch aus dabei und gibt das Unterfangen auf. Als ich vor dem Sofa stehen bleibe, fährt er mich an: Los, geh endlich, bin kein Kind, das du hüten musst, auch wenn ich auf die Schnauze gefallen bin.

Er sei zum Glück nicht auf die Schnauze, sondern irgendwie auf die Flanke gefallen, präzisiere ich, was ihm zwar nun wehtue, aber nicht vorzustellen wäre, wenn er sich das Gesicht verletzt und die Zähne eingeschlagen hätte. Er macht bloß eine wegwerfende Handbewegung, und mir fällt ein, dass ich ihm noch kein Schmerzmittel verabreicht habe. Schnell gehe ich in mein Schlafzimmer nebenan und hole aus meiner Handtasche eine Packung Novalgin, die ich immer bei mir habe, um gegen Kopfwehattacken gerüstet zu sein. Flüchtig überfliege ich den Beipackzettel, ich kenne Sterns Medikamentenmix nicht im Detail. Maria hat mir seine gefüllte Medikamentenbox überreicht und mich gebeten, den daraus hervorgehenden Verabreichungsplan genau einzuhalten, was ich bis jetzt befolgt habe. Ich drücke ein Novalgin aus dem Blister, hole in der Küche ein Glas mit etwas Wasser und gehe nochmals zu Stern ins Wohnzimmer.

Das hier hilft gegen die Schmerzen, sage ich und zeige ihm die Tablette. Er macht den Mund auf, ich lege ihm das Medikament auf die Zunge, reiche ihm das Glas und er führt es unter heftigem Zittern zum Mund, verschüttet einen Teil des Inhalts, es gelingt ihm aber, in seiner halbliegenden Position die Tablette zu schlucken, man merkt, darin ist er geübt.

Schlaf ein wenig, sage ich.

Mache ich.

Ich gehe nun.

Ist in Ordnung.

Ich verlasse das Haus und eile die paar Minuten zum Albergo, inständig hoffend, Sanders dort nicht anzutreffen. Ich betrete die Lobby, beim Empfang sind zwei ältere Damen im Gespräch mit einer freundlichen Rezeptionistin. Mir bleibt Zeit, sie zu betrachten. Sie ist dezent geschminkt, das dunkle Haar hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, sie trägt einen schwarzen Rock, eine weiße Bluse, den Blazer hat sie über den Stuhl gehängt, Strümpfe und Schuhe kann ich erst sehen, als ich an den Desk trete, nachdem die beiden Damen sich verabschiedet haben. Schuhe und Strümpfe sind dunkel und elegant und machen den Auftritt der jungen Frau perfekt oder fast perfekt. Im Hotel, in dem ich bis vor Kurzem gearbeitet habe, wäre es für eine Rezeptionistin undenkbar, ihren Blazer nicht zu tragen.

Wie kann ich Ihnen helfen?, fragt Anna Moretti, so heißt sie, das entnehme ich dem Namensschild auf dem Desk. Sie spricht Italienisch mit mir, wechselt dann aber zu Deutsch und versteht mein Anliegen sofort. Sie reicht mir die Weinkarte und sagt: Herr Sanders bewohnt Zimmer 17.

Die Wahl fällt mir leicht: Eine Flasche Le Volte, ein Rotwein, den nicht nur ich, sondern auch viele unserer Hotelgäste stets geschätzt haben. Eine Karte, um Sanders einen Gruß zu hinterlassen, habe ich nicht. Anna Moretti löst auch dieses Problem und reicht mir eine Ansichtskarte des Hotels im Sommerflor und einen Stift. Schnell schreibe ich auf die Rückseite: Lieber Erik Sanders, danke nochmals sehr herzlich für Ihre Hilfe. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt und schicke Ihnen viele freundliche Grüße, Lisa Hauser. Einen Moment lang überlege ich, meine Handynummer auf der Karte zu hinterlassen, aber tue es dann doch nicht. Anna Moretti reicht mir sogar einen Briefumschlag, und während ich die Karte hineinstecke und auf die Vorderseite in Großbuchstaben Für Erik Sanders, Zimmer 17 schreibe, klingelte sie bereits nach einem Zimmermädchen.

Wieder im Haus, schleiche ich mich auf Zehenspitzen ins Wohnzimmer. Stern scheint nun tief zu schlafen, jedenfalls erwacht er nicht, obwohl die Bodendielen knarren. Endlich habe ich Zeit, zu überlegen, was nun geschehen soll. Aus der Küche hole ich einen Kaffee, gehe damit nach unten in den Portico, wo die Mittagswärme noch immer angenehm einfällt. Nur erscheint anstelle eines konkreten Plans für die nächsten Tage unvermittelt Sanders Gesicht vor meinem inneren Auge. Ob er mittlerweile zurück ist im Hotel? Ob er Rotwein, alkoholische Getränke überhaupt mag? Ich glaube, dank meiner jahrzehntelangen Tätigkeit in der Hotellerie ein Gefühl für Menschen, für ihr Trinkverhalten und ihre Vorlieben entwickelt zu haben, aber möglicherweise liege ich bei Sanders vollkommen falsch. Egal, dann kann er ja den Wein stehen lassen oder ihn verschenken, an die junge Rezeptionistin Anna zum Beispiel, aber ich vermute, dass er nicht der Typ ist für solche Aktionen, die sehr oft anders motiviert sind. Wie viele einsame Männer sind mir begegnet während meiner Zeit hinter den Empfangsdesks, wie viele haben mich auf einen späten Drink einladen wollen, haben gewartet und gewartet, bis die Kollegen in der Bar, diskret zwar, aber unmissverständlich, mit dem Aufräumen begonnen haben? Ich bin nie mitgegangen auf ein Zimmer, kein einziges Mal, und es ist mir nie schwergefallen, professionell zu bleiben und solche Angebote freundlich und bestimmt zugleich abzulehnen.

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