Kitabı oku: «Der letzte Prozess», sayfa 4
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Lenz hatte seine Leute im Besprechungsraum versammelt und berichtete von den vorläufigen Ergebnissen der gerichtsmedizinischen Sektion. Je grausamer die Details wurden, desto mehr drückte die Stille unter den Kollegen auf den Raum.
»Das Opfer ist also über einen Zeitraum von etwa drei Tagen gefoltert worden«, fasste Lenz zusammen. »Die Folterwerkzeuge sind ungewöhnlich: eine mehrsträngige Lederpeitsche, ein Stock und ein Instrument, von dem wir nur wissen, dass es mit zehn Zentimeter breiten Fesselungsmanschetten versehen ist. Das lässt darauf schließen, dass der Mann an einem abgeschiedenen Ort gefangen gehalten wurde, an dem niemand die Schreie hören konnte. Wir können weiterhin davon ausgehen, dass das Mordopfer etwa neunzig Jahre alt war und in guten Verhältnissen gelebt hat. Darauf müssen wir die Suche eingrenzen.«
»Könnte sein, dass ich da schon etwas habe«, meldete sich Gisbert Henke zu Wort. Der Kriminalkommissar blätterte in einigen Papieren, die er vor sich liegen hatte, und tippte schließlich auf einen der Zettel. »Ich bin die aktuellen Vermisstenmeldungen durchgegangen und da gibt es tatsächlich eine, die zu unseren Kriterien passt. In der Seniorenresidenz Friedenstal in Büren ist seit drei Tagen ein vierundneunzigjähriger Mann namens Anton Kottmann abgängig.«
»Sehr gut, Kollege«, lobte Lenz. »Wissen wir Näheres über die Umstände des Verschwindens?«
»Nur dass der alte Herr nach dem Freigang …« Henke stutzte kurz und blickte seinen Nebenmann an. »Nennt man das im Altersheim auch Freigang? Na, egal … Jedenfalls hat der alte Mann zwei Stunden am Nachmittag draußen im Park verbracht und war danach verschwunden.«
»Dann sollte umgehend jemand dorthin fahren und der Sache nachgehen«, sagte Lenz.
»Die Kollegin Gladow und ich werden gleich im Anschluss nach Büren fahren«, brummte Schröder, der bislang schweigend in der Runde gesessen hatte und regelrecht zu schmollen schien.
»Leider ist ja nun von dem Gesicht des Toten nichts mehr zu erkennen«, wandte Gina Gladow ein. »Wir müssen sehen, dass wir in der Residenz DNA-Material von Anton Kottmann bekommen, um einen Abgleich mit dem Opfer machen zu können. Aber das dürfte ja kein Problem sein.«
»Richtig«, bestätigte Lenz und wandte sich wieder Kriminalkommissar Henke zu. »Sonst gibt es keine Meldung, die auf unseren Toten zutreffen könnte?«
»Nein.« Henke blätterte noch einmal vor und zurück, als müsse er sich selbst davon überzeugen, und schüttelte dann den Kopf. »Nichts.«
»Gibt es schon erste Erkenntnisse bezüglich vergleichbarer Fälle in den letzten Jahren?« Lenz blickte die anderen Beamten direkt an.
»Dafür müssen ja nun erst mal die Akten hier sein«, meckerte Oberkommissar Steinkämper zurück.
»Entschuldigung!« Lenz hob beide Handflächen in Richtung des Kollegen. »In Zeiten der Digitalisierung hätte es ja sein können.«
»Wir sind hier in der Provinz«, wandte Oberkommissar Jakobsmeier ein, dem die harsche Reaktion seines Kollegen sichtlich unangenehm war.
»Nun gut, wir sollten trotzdem keine Zeit verlieren.« Lenz erhob sich von seinem Stuhl. »Solange wir keinen weiteren Treffer haben, werden Sie, Kollege Henke, alles über diesen Kottmann in Erfahrung bringen, was Sie finden können. Außerdem brauche ich zur ersten Orientierung möglichst schnell eine kurze Zusammenfassung über die Umgebung des Tatortes. Sprechen Sie sich bitte untereinander ab, wer welche Aufgabe übernehmen will. Also, Kollegen, an die Arbeit.«
Während die drei Männer den Raum verließen, hielt Lenz die junge Kommissarin und Hauptkommissar Schröder zurück. »Wir beide, Frau Gladow, werden nach Büren in die Senioren-Residenz fahren. Sie, Herr Schröder, bleiben hier und koordinieren die Arbeit.«
Ohne sich weiter um den immer noch schmollenden Hauptkommissar zu kümmern, nickte er seiner jungen Kollegin zu, die auch gleich aufsprang und den Raum verließ. Lenz folgte ihr am Aufzug vorbei zur Treppe, deren Stufen sie in einem Tempo nahm, dass er Mühe hatte, ihr zu folgen.
»Moment, Kollegin!«, rief Lenz, als sie im Erdgeschoss an der Tür zum Verkehrskommissariat vorbeikamen. Er gab ihr ein Zeichen, betrat die Abteilung für die Verkehrsanzeigenbearbeitung und suchte die Tür des Leiters, neben der auf einem Wandschild KHK Steinbrecher stand.
Das kurze Klopfen an die Tür und das Eintreten waren eine Bewegung. Gina Gladow folgte ihm dicht auf den Fersen. Hinter einem Schreibtisch saß ein Mann mittleren Alters mit Stoppelschnitt und harten Gesichtszügen. Steinbrecher passt, dachte Lenz und ging direkt auf ihn zu. »Kollege Steinbrecher, nehme ich an.« Er hielt ihm die Hand entgegen. »Ich bin Stefan Lenz, der neue Leiter des KK1.«
»Angenehm«, entgegnete Steinbrecher förmlich und ergriff die Hand, ohne sich zu erheben. »Was kann ich für Sie tun? Oder machen Sie nur die Runde, um sich vorzustellen?«
»Nee nee!« Lenz winkte lachend ab. »Ich bin im Grunde noch gar nicht hier. Erst ab Montag. Aber ich habe ein konkretes Anliegen – unter Kollegen sozusagen.« Er zwinkerte Steinbrecher verschwörerisch zu und senkte die Lautstärke. »Heute Morgen bin ich auf der B1 in Höhe der Autobahnauffahrten geblitzt worden. Ist ja reichlich unübersichtlich, die Stelle; und dann war da noch so ein aufdringlicher Porsche an meinem Hintern. Kurz und gut: Ich wollte nur Bescheid sagen, wen es da erwischt hat. Damit ihr das Ticket nicht irrtümlich noch rausschickt.« Er lachte einmal kurz auf.
Steinbrecher lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fragte mit zusammengezogenen Brauen verständnislos: »Wo, bitte schön, wäre da der Irrtum, wenn wir es an Sie versenden würden? Oder möchten Sie, dass wir es persönlich zu Ihnen hochbringen, um der Behörde das Porto zu sparen?«
»Na, ich bitte dich, Kollege. Ich bin einer von euch und war außerdem auf dem Weg hierher.«
»Ich verstehe immer noch nicht. Mussten Sie da zu schnell fahren? Waren Sie im Einsatz? War Gefahr in Verzug oder so etwas?«
»Abgesehen davon, dass Kriminaldirektor Heitkamp mich erwartete und ich spät dran war, nicht – wenn du verstehst, was ich meine.« Lenz kniff Steinbrecher erneut ein Auge zu und lächelte verschmitzt, bewirkte dadurch aber keinerlei Veränderung der gefühlskalten Beamtenmimik seines Gegenübers. »Soll dein Schaden auch nicht sein«, fügte er deshalb vorsichtshalber hinzu. »Was trinkst du? Red Label?«
»Ich bin mir zwar nicht so sicher, ob ich das jetzt verstehen muss, aber eines ist für mich klar: Der Gebührenbescheid geht raus. Ich sehe überhaupt keinen Grund dafür, dass ich in Ihrem Fall eine Ausnahme machen sollte, zumal ich das auch gar nicht darf.«
»Sagen Sie mal«, wechselte Lenz jetzt ebenfalls in die distanzierte Anredeweise, »wie seid ihr hier eigentlich drauf? Oben verarscht ein Vorgesetzter seine Mitarbeiter und hält sich offenbar für tabu, was Kritik angeht, und ihr hier unten bei der Verkehrswacht haut Kollegen in die Pfanne? In Hamm würde keiner von euch im Dienst auch nur zwei Tage alt. Und in Dortmund würde man euch geteert und gefedert aus der Stadt jagen.«
Steinbrecher lächelte breit. »Sie meinen das tatsächlich ernst, was? Sie erwarten wirklich, dass ich Ihre Geschwindigkeitsübertretung nur deshalb unter den Tisch fallen lasse, weil Sie Polizeibeamter sind? Das ist Vorteilsnahme im Amt, Herr Kollege. Dafür sind in Paderborn schon ganz andere einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren unterworfen und mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde belegt worden. Und jetzt muss ich Sie bitten, mich weiterarbeiten zu lassen. Sie haben ja sicher auch Besseres zu tun, als Ihre Freizeit auf der Dienststelle zu verbringen.«
Lenz konnte es nicht fassen. ›Einem staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahren unterworfen‹, dachte er, ›mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde belegt‹. Was ist das denn für ein Kollegenschwein? Kopfschüttelnd drehte er sich zur Tür und verzichtete diesmal selbst auf den Handschlag.
»Und bestellen Sie dem Oberkreisdirektor einen schönen Gruß von mir«, hörte er Steinbrecher noch rufen. »So leicht lasse ich mich nicht aufs Glatteis führen.«
Einen Moment lang war Lenz versucht, ins Dienstzimmer zurückzukehren und sich die letzte Bemerkung erklären zu lassen, aber dann entschloss er sich anders. Hier schien unter der Oberfläche irgendetwas zu gären, das er noch nicht verstehen konnte. Die trauten sich hier gegenseitig nicht über den Weg. Und er konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Kriminalhauptkommissar Steinbrecher ihm die Sachlage näher erläutern würde.
Seufzend folgte er der grinsenden Gina Gladow über den Flur. »Was ist das denn für ein Sesselfurzer?«, fragte er sie auf dem Weg nach draußen.
Sie zuckte mit den Schultern. »Wenn Sie mich so direkt fragen, gibt es da ja wohl zwei Möglichkeiten. Entweder steht er nicht auf Johnny Walker, oder er kann Ihre Schimanski-Tour nicht ab. Ich tippe ja eher auf Letzteres.«
Darüber musste Lenz einen Augenblick nachdenken. Unsinn, beschloss er, die haben hier einfach nur alle den Arsch offen!
Auf dem Parkplatz steuerte Gina Gladow einen silberfarbenen VW Passat an, drückte auf die Fernbedienung und ging wie selbstverständlich zur Fahrerseite. Lenz überlegte einen Moment, ob er sie auf den Beifahrersitz verbannen sollte, aber dann ließ er es. Erstens wollte er kein weiteres Ticket riskieren, zweitens verstieß er womöglich schon wieder gegen irgendein ungeschriebenes Paderborner Gesetz, wenn er sich nicht von seiner Untergebenen chauffieren ließ, und drittens kannte er sich im Kreis Paderborn ja auch gar nicht aus.
Die junge Beamtin fuhr zügig und sicher, während Lenz die wenig einladende Vorstadt mit den Bahngleisen zu seiner Linken an sich vorbeiziehen ließ. Dabei musste er sich zwingen, nicht in den Ausschnitt seiner Kollegin zu starren, der in seiner Blickrichtung prangte und eine magnetische Anziehungskraft auf ihn hatte. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Profil seiner Kollegin. Ihr geringes Alter stand für ihn im Widerspruch zu ihrem selbstbewussten Auftreten. Das hätte eher zu einer fünfundzwanzigjährigen Diensterfahrung gepasst. Offenbar hatte Lenz es hier mit einer geborenen Kriminalbeamtin zu tun, die sich ihres Handelns instinktiv sicher war. Und obendrein wurde man in der Polizeiführungsakademie in Münster auch ganz hervorragend ausgebildet.
Die junge Kommissarin räusperte sich vernehmlich und sagte, ohne ihn dabei anzusehen: »Wenn Sie mir weiter so auf die Titten starren, trete ich Ihnen bei nächster Gelegenheit in die Eier.«
Lenz war gleichermaßen irritiert wie belustigt. Gina Gladow liebte das Direkte offenbar genauso wie er. Darauf ließ sich doch aufbauen. Grinsend wandte er sich nach vorne und sah durch die Windschutzscheibe auf die Straße. »Entschuldigung, Frau Kollegin. Betrachten Sie das bitte als Kompliment.«
»Was?«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Dass ein alter Knacker wie Sie seine Augen nicht im Griff hat?«
»Alt? Also bitte! Ich bin Mitte vierzig.«
»Sag ich doch. Sollten Sie allerdings einen Sohn haben, dürfen Sie ihn mir gerne vorstellen.«
»Wenn ich einen Sohn hätte, würde ich ihn von Frauen wie Ihnen fernhalten.«
»Dann gehen Sie mal mit gutem Beispiel voran, Papi«, konterte Gina Gladow unbeeindruckt.
Lenz merkte, wie sich seine Stimmung von Minute zu Minute verschlechterte. Kriminaldirektor Heitkamp spielte den unantastbaren Despoten; Steinkämper fühlte sich auf den Schlips getreten, wenn er nach Ermittlungsergebnissen gefragt wurde. Schröder hatte offenbar beschlossen, für den Rest seiner Dienstzeit zu schmollen, weil Lenz ihm vor die Nase gesetzt worden war; der Verkehrsfuzzi Steinbrecher hatte sich gleich bei ihrer ersten Begegnung als Kollegenschwein entpuppt. Und Gina Gladow nahm jedes Kompliment direkt als Belästigung am Arbeitsplatz auf. Mit diesem Menschenschlag sollte er bis zur Pensionierung in zwanzig Jahren zusammenarbeiten? War der Wechsel hierher in Wirklichkeit eine Strafversetzung und Lenz hatte das bislang nur noch nicht begriffen?
Er wünschte sich schon jetzt ins Ruhrgebiet zurück. Da war alles so einfach: Kollegen waren noch wirkliche Kollegen, auf die man sich jederzeit verlassen konnte und die einem nicht ans Bein pinkelten. Die unübersichtliche Verkehrssituation auf der B1 am Ortseingang war offenbar geradezu sinnbildlich für die ganze Stadt. Scheiß Paderborn!
Grummelnd wandte sich Lenz dem rechten Seitenfenster zu, während sie nun auf der gut ausgebauten Ausfallstraße zügig in Richtung Büren fuhren. Nach etwa zwanzig Kilometern, auf denen sie den Flughafen Paderborn/Lippstadt linkerhand passiert hatten und auch die Auffahrten auf die A44 in die Richtungen Dortmund und Kassel, erreichten sie einen Kreisverkehr. Rechts ging es nach Steinhausen und Geseke, geradeaus nach Rüthen und links nach Büren. Überall um sie herum drehten sich Windräder in einer Art von Niemandsland aus Feldern, die zu dieser Jahreszeit trist und öde in einer diesigen Endlosigkeit versanken. Ein Funkmast stach vor der Silhouette eines Gewerbegebietes in den grauen Himmel. Kein Zweifel, das hier war der Arsch der Welt.
»Das langgestreckte Gebäude da hinten im Industriegebiet ist übrigens der Puff«, meldete sich Gina Gladow, ließ aber offen, was sie mit diesem Hinweis bezweckte. Lenz hatte das unbestimmte Gefühl, dass er besser nicht nachfragen sollte. Von den Spitzen seiner Kollegin hatte er vorerst die Nase voll und er konnte auch nicht dafür garantieren, dass er selbst noch lange an sich halten konnte.
Die Kommissarin lenkte den Wagen bergab an einer kleinen Kapelle vorbei. Nun weitete sich der Blick über ein Tal, in dessen Mitte sich das Städtchen Büren ausbreitete. Die Häuser lagen dicht gedrängt wie ins Loch geschüttet zwischen sanften Hügeln und wurden von zwei schlanken Flüsschen in die Zange genommen. Recht malerisch machte sich in der Mitte eine Art Schloss aus, das zusammen mit zwei Kirchen quasi das Zentrum des Talkessels bildete.
»Büren im Loch, wir finden dich doch«, verkündete Gina Gladow unvermittelt. »Als ich noch Streife gefahren bin, hatte ich einen Kollegen aus Steinhausen. Der hat das jedes Mal gesagt, wenn wir den Kapellenberg runtergefahren sind.«
»Na prima«, knurrte Lenz. »Erst lande ich am Arsch der Welt und dann fahre ich auch noch direkt ins Loch.« Und das alles an der Seite einer Kampf-Emanze, fügte er in Gedanken hinzu.
Gina Gladow lachte hämisch, als wollte sie sagen: Jeder so, wie er es verdient.
Nach einer 90-Grad-Kurve erreichten sie schließlich das Ortseingangsschild. Was Lenz nun zu sehen bekam, zerstörte schlagartig den positiven Eindruck, den er von oben aus eben noch gehabt hatte. Schön geht anders, dachte er und betrachtete die gammeligen Häuser, die den Anfang der Bahnhofstraße säumten. Als er dann nach der Feuerwehr auch noch vier bunte und dicht an dicht gebaute Einfamilienhäuser mit kitschigen Säulen und zusammenstoßenden Veranden erblickte, wusste er, dass es sogar noch hässlicher ging als am Ortseingang. Es folgten ein Getränkemarkt, der obligatorische Lidl, links eine zugegebenermaßen wunderschöne, nostalgisch anmutende Bruchsteinkirche mit knallrotem Ziegeldach und dann, an einen Park mit Teichen anschließend, das Schloss, das er schon vom Hügel aus gesehen hatte.
Gina Gladow folgte der Hauptstraße, die sich geradeaus durch den Ort zog und nun wieder leicht anstieg. Oben machte sie mehrere Windungen, bis rechts ein langgestrecktes Gebäude aus roten Ziegeln auftauchte. »Da sind wir. Das ist die Senioren-Residenz Friedenstal«, verkündete die Kriminalkommissarin und parkte den Wagen am Straßenrand.
In der Empfangshalle plätscherte ein kleiner Wasserfall über Schieferplatten in ein Bassin mit Goldfischen, die nach Lenz’ Ansicht für ein Altersheim unangemessen lebendig herumschwammen und glubschäugig blöde aus dem Wasser glotzten. Große Fenster und helle Farben sorgten für ein einladend freundliches Ambiente. Am Empfangstresen saß ein etwa zwanzigjähriges Bob-Marley-Double mit verfilzten Haarsträhnen und einem viel zu weiten bunten Hemd und starrte unter rhythmischen Kopfbewegungen auf seinen Computermonitor. Als er Gina Gladow und Stefan Lenz bemerkte, zog er sich einen Stöpsel aus dem linken Ohr und lächelte die Kommissarin entzückt an.
Die schien für derartige Avancen zugänglich zu sein. Vielleicht galt das Knistern, das sie nun zwischen sich und dem Filz-Man zuließ, aber auch einzig als Signal an Lenz. Der konnte darüber nur müde lächeln, denn er war Realist genug, um zu wissen, dass ihm eine Beziehung zu einer derart jungen Frau ohnehin zu anstrengend wäre.
»Was kann ich für Sie tun?« Bob Marley richtete sich an Gina Gladow und ignorierte Lenz völlig.
Mit mir nicht, Bürschchen, dachte der. »Kripo Paderborn«, reagierte er in unangemessen autoritärem Tonfall und hielt dem Schnösel seinen Dienstausweis entgegen. »Kriminalhauptkommissar Lenz und Kriminalkommissarin Gladow. Wir möchten mit der Leitung des Hauses sprechen.«
»Da steht aber nicht Paderborn«, wandte der Knabe altklug ein, »da steht Hamm. Sind Sie hier überhaupt zuständig?«
»Sieh mal an«, sagte Lenz erstaunt zu seiner Kollegin. »Der Wackeldackel kann lesen.«
Die Kommissarin zwinkerte dem jungen Mann schelmisch zu.
»Dann werde ich Sie mal anmelden.« Wieder kein Blick zu Lenz, nur dieses balzende Lächeln in Gina Gladows Richtung. Aber immerhin griff der Jüngling zum Telefon. »Frau Finke, hier sind zwei Leute von der Polizei für Sie. Eine äußerst attraktive junge Dame und ein …« er taxierte Lenz abschätzend von Kopf bis Tresenoberkante, »… eher unscheinbarer älterer Herr. – Ja, ist gut.« Er legte auf und kündigte an: »Frau Finke kommt sofort.« Lächeln, balzen, Filzsträhnen präsentieren.
Gina Gladow lachte und schüttelte leicht den Kopf.
Arschloch, dachte Lenz. Er atmete erst auf, als eine Frau von etwa Anfang bis Mitte vierzig die Treppe herunterkam und ihn aus dem nervigen Geknister erlöste. Sie trug helle Freizeitkleidung, was Lenz, der automatisch in solchen Einrichtungen immer mit Krankenschwesternkitteln rechnete, erfreut zur Kenntnis nahm. Auch die sportliche Art, mit der sie ihnen entgegenfederte, gefiel ihm.
»Kerstin Finke«, stellte sich die Frau mit Handschlag vor. »Ich bin die Leiterin dieses Hauses. Kommen Sie wegen Herrn Kottmann?«
»Richtig, Frau Finke. Mein Name ist Stefan Lenz, das ist meine Kollegin Gina Gladow.« Lenz drehte dem Bob Marley für Arme betont den Rücken zu. »Können wir uns in Ihrem Büro weiter unterhalten?«
»Natürlich. Kommen Sie.« Sie federte ihnen voraus die Treppe hinauf und bog nach links in einen Flur ab, an dessen Glastür in schwarzen Klebebuchstaben Verwaltung stand.
Auch das Büro der Residenz-Leiterin hatte so gar nichts von dem üblichen Krankenhaus- oder Altersheim-Ambiente, wie Lenz es aus dem Ruhrgebiet kannte. Es war hell und farbenfroh und atmete eher die Atmosphäre eines CEO-Büros in einem aufstrebenden Internet-Startup. Vor dem Fenster breitete sich ein Schreibtisch mit einer Glasplatte aus, auf der ein stylischer Apple-PC coole Eleganz repräsentierte. Großformatige, hochglänzende Architektur-Fotos hinter Glasrahmen hingen an den Wänden. Die linke Seite des Raumes wurde von einer schwarzen Ledergarnitur mit Glastisch eingenommen. Dorthin wies Frau Finkes einladende Hand. Offenbar handelte es sich bei der Seniorenresidenz Friedenstal um eine exklusive und sicher sehr teure Einrichtung.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten? Cappuccino, Wasser?«
»Ein Cappuccino wäre nett«, antwortete Lenz erfreut und nahm auf dem Sofa Platz.
»Für mich bitte ein Glas Wasser.« Gina Gladow setzte sich in einen der beiden Sessel und schlug sofort die Beine übereinander.
Lenz, der sich mit körpersprachlichen Signalen auskannte, nahm erfreut zur Kenntnis, dass sich seine Kollegin zwischen Frau Finke und ihm nicht wohlfühlte und hinter einer Mauer verschanzte. Sogar die Arme verschränkte sie nun vor ihrer Brust. Prima, den Moment würde er auskosten. Wer konnte schon wissen, wie oft er noch Gelegenheit dazu bekommen würde?
Kerstin Finke bediente einen Kapselautomaten und während rauschend und zischend nacheinander zwei Cappuccino-Tassen vollliefen, öffnete sie eine Flasche Mineralwasser und stellte sie mit einem Glas vor Gina Gladow auf den Tisch. Nachdem auch Lenz versorgt war, setzte sie sich mit ihrer Tasse in beiden Händen in den anderen Sessel und blickte ihn fragend an.
»Tja, Frau Finke«, begann er vorsichtig. »Wir haben heute Morgen einen alten Mann in Wewelsburg aufgefunden. Ob es sich dabei um Ihren Bewohner Anton Kottmann handelt, wissen wir leider nicht.«
Die Residenzleiterin blickte ihn verständnislos an. »Konnten Sie ihn nicht fragen? Ist etwas mit ihm passiert? – Was heißt überhaupt ›aufgefunden‹?«
»Nun, der Mann ist tot.«
Frau Finkes Cappuccino schwappte in der Tasse, als sie sie hart auf der Glasplatte absetzte. Mit heiserer Stimme fragte sie: »Was ist passiert?«
»Das wissen wir noch nicht. Fest steht bislang nur, dass es kein natürlicher Tod war.«
»Das heißt …«
»Jemand hat den Mann ermordet.«
»Ermordet?« Kerstin Finke schüttelte leicht den Kopf, während sie versuchte, das Gehörte langsam zu verarbeiten. »Und wie? Ich meine …«
»Er wurde mit einem Stein erschlagen«, kam es hart von Gina Gladow, während Lenz noch nach einer rücksichtsvollen Formulierung suchte.
»Erschlagen? Mit einem Stein?« Ungläubig wanderte Kerstin Finkes Blick zwischen Lenz und seiner Kollegin hin und her.
»Nachdem er zuvor ausgepeitscht und gefoltert worden ist«, ergänzte die Kommissarin kalt. »Und der Stein war auch eher ein Felsbrocken. War kein schöner Anblick. Das Gesicht ist nicht mehr zu erkennen.«
Lenz blitzte sie an. Es war nun wirklich nicht nötig, derart ruppig mit der armen Frau umzugehen. Schlimm genug, dass es sich mit einiger Wahrscheinlichkeit um einen ihrer Schützlinge handelte. Diese Details hätte man der Frau doch wohl ersparen können.
Konnte man nicht, fand seine junge Kollegin offenbar und zeigte Kerstin Finke zwei Tatortfotos auf ihrem Handy. Entsprechend schockiert zuckte die Residenz-Leiterin in ihrem Sessel zurück.
Gina Gladow zog mit zwei Fingern ein Foto auf. »Erkenne Sie vielleicht, ob es sich bei der Kleidung um die von Herrn Kottmann handelt?«
»Nein«, antwortete die Residenzleiterin wie paralysiert. Schließlich stand sie auf und ging ein paarmal schnell im Raum auf und ab. Zweimal blieb sie vor Lenz stehen, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, konnte das dann aber nicht und nahm ihren Weg wieder auf. Während Lenz der Tigerei besorgt folgte, drückte Gina Gladows Gesicht so etwas wie Belustigung aus, aber sie enthielt sich zu Lenz’ Erleichterung eines Kommentars.
Als Kerstin Finke endlich wieder saß und mit zittrigen Fingern abwesend an ihrem Cappuccino nippte, signalisierte der Hauptkommissar seiner Kollegin mit drohend erhobenen Augenbrauen, dass sie sich nun zurückhalten sollte, und erntete dafür ein Stirnrunzeln. »Hat Herr Kottmann irgendwelche besonderen Merkmale, die uns Sicherheit bringen könnten?«, fragte er.
»Besondere Merkmale? Nein.«
»Hat er vielleicht eine Narbe an der Innenseite des linken Oberarmes?«
Die Residenzleiterin sah ihn verständnislos an und hob und senkte die Schultern. »Da müsste ich unser Personal fragen. Allerdings bezweifle ich, dass Ihnen jemand diese Frage beantworten kann. Herr Kottmann benötigt nämlich keine Unterstützung bei der täglichen Pflege.«
»Tja, dann kann uns nur noch eine DNA-Probe weiterhelfen«, stellte Lenz fest, »vielleicht ein Kamm oder seine Zahnbürste. Um keine Zeit zu verlieren, möchten wir uns außerdem schildern lassen, wie Herr Kottmann aus Ihrer Residenz verschwunden ist. Die genauen Umstände und zeitlichen Abläufe könnten für uns gegebenenfalls bei der Suche nach dem Täter von Bedeutung sein.«
»Ja, natürlich.« Kerstin Finke atmete tief ein und aus und sammelte sich. »Also, das war am Dienstag. Unser Bufdi Mario hat die Bewohner, die noch fit genug sind, nach der Mittagsruhe hinunter in den Park gebracht. Das Wetter war ja für diese Jahreszeit ungewöhnlich schön, nicht zu kalt, kein Wind, die Sonne schien, eigentlich ideal. Das war so gegen fünfzehn Uhr. Als unser Pfleger Wolfgang sie dann gegen siebzehn Uhr wieder reinholen wollte, war Herr Kottmann nicht mehr da.«
»Wie: nicht mehr da?«, hakte Gina Gladow verständnislos nach. »Einfach weg? Können die hier ein- und ausgehen, wie sie wollen? Guckt denn zwischendurch niemand nach den alten Leuten?«
Lenz hätte sie erwürgen können, als er registrierte, wie Kerstin Finke bleich wurde und betroffen den Blick senkte.
»Doch, natürlich. Wann Herr Kottmann verschwunden ist, wissen wir nicht genau. Mario hat den Rest des Nachmittags am Empfang gesessen. Dort ist er nicht vorbeigekommen.«
»Gibt es noch einen anderen Zugang zum Park?«, beeilte sich Lenz mit der Nachfrage, weil Gina Gladow schon wieder den Mund öffnete.
»Ja, zur Seite des Gebäudes ist noch eine Zufahrt. Aber das Tor dort ist immer abgeschlossen und das war es auch am Dienstag. Ich habe das sofort kontrolliert.«
»Der alte Mann kann ja nicht verdunstet sein«, stellte Gina Gladow lapidar fest.
Lenz räusperte sich vernehmlich. Er würde nachher ein ernstes Wort mit seiner Kollegin wechseln. Offenbar musste die doch noch viel lernen. Vor allem, Anweisungen von Vorgesetzten zu folgen; selbst dann, wenn die nur mimisch ausgedrückt wurden. »Dann möchten wir mit Mario und Wolfgang sprechen«, stellte er an Kerstin Finke gewandt fest.
»Ja, natürlich.« Die Residenz-Leiterin sprang auf, ging zum Schreibtisch und griff nach dem Telefonhörer. »Gitta? Schickst du mal bitte jemanden runter zum Empfang, damit er Mario ablöst? Und dann sollen Mario und Wolfgang in mein Büro kommen. – Nein, nicht gleich, jetzt sofort! Danke.«
Lenz gefiel die professionelle Art, in der sie in kürzester Zeit die Fassung wiedergewonnen hatte. Dass er sie bewundernd anstarrte, merkte er erst, als er ihren fragenden Blick auf sich ruhen fühlte. Verlegen lächelte er sie an und konzentrierte dann seine ganze Aufmerksamkeit auf seinen Cappuccino.
Mario war also der Filz-Heini. Bufdi, das war eine passende Bezeichnung, rein phonetisch und völlig unabhängig von der eigentlichen Bedeutung. Das Bild des hämisch grinsenden Jünglings geisterte vor ihm herum und ließ sich zu seinem Ärger nicht wieder vertreiben. Er blickte zur Seite und stellte fest, dass Gina Gladow die Leiterin mit Genugtuung fixierte, die schweigend und mit gesenktem Kopf an ihrem Schreibtisch lehnte.
Nach wenigen Minuten klopfte es kurz an die Bürotür und zwei junge Männer traten ein: Filz-Mario in seinem Schlabberlook und ein etwa fünfundzwanzigjähriger muskelbepackter Hüne mit Bürstenschnitt, T-Shirt, Jeans und weißen Crocs. Der Gegensatz hätte kaum deutlicher ausfallen können. Sie blieben nebeneinander mit etwa zwei Metern Abstand vor ihrer Chefin stehen und warteten schweigend.
»Die Herrschaften von der Polizei haben Fragen zu dem Verschwinden von Herrn Kottmann«, erklärte sie mit belegter Stimme.
»Setzen Sie sich bitte«, forderte Lenz die jungen Männer auf und deutete auf das Sofa, während er selbst hinüber in den freien Sessel wechselte.
Als sie der Aufforderung gefolgt waren, wandte er sich zunächst an Mario. »Frau Finke hat angegeben, Sie hätten Herrn Kottmann gegen fünfzehn Uhr hinunter in den Park gebracht. Ist Ihnen dabei etwas aufgefallen? War da jemand im Park, der kein Bewohner ist? Ein Besucher vielleicht oder ein Angehöriger?«
»Nein, alles war wie immer. Der Kottmann hat sich auf eine Bank in der Sonne gesetzt.«
»Herr Kottmann«, korrigierte Kerstin Finke.
»Und ich bin dann gleich wieder rein, um die anderen zu holen«, fuhr Mario ungerührt fort.
Lenz fixierte den Filz-Bufdi kalt. »Später hatten Sie Dienst am Empfang?«
Mario nickte.
»Hat während Ihres Dienstes jemand das Haus betreten, der hier nicht wohnt oder arbeitet?«
»Keine Ahnung. Nachmittags kommen häufig Angehörige oder die Sozialtanten von der Caritas. Da achten wir nicht so drauf. Angesprochen hat mich jedenfalls keiner.«
»Welche ›Sozialtanten von der Caritas‹?«, hakte Lenz bei Kerstin Finke nach und machte dabei schon durch seine Betonung deutlich, dass er den verfilzten Mario für einen Kotzbrocken hielt.
»Er meint die Damen, die sich um unsere alten Leute kümmern, sich mit ihnen unterhalten, ihnen etwas vorlesen und so.« Sie wandte sich dem Bufdi zu und blitzte ihn grimmig an. »Ich habe dir schon mehrfach gesagt, Mario, dass deine Ausdrucksweise unangemessen ist. Wenn du nicht ab sofort respektvoller mit anderen Leuten umgehst, werde ich deinen Bundesfreiwilligendienst hier bei uns beenden!«
»Jaja«, machte Mario. »Ich werd’s mir merken.«
Lenz zwinkerte der Leiterin anerkennend zu. »Und Sie?«, fragte er dann den Pfleger. »Wann haben Sie sich um Herrn Kottmann gekümmert?«
»Ich bin um vier Uhr in den Park gegangen und habe nachgesehen, ob alles in Ordnung ist. Sobald die Sonne weg ist, ist es ja noch ziemlich kalt draußen. Da hat Herr Kottmann mit Herrn Merschhaus und Frau Körting an einem der Gartentische gesessen und sich unterhalten. Um fünf habe ich angefangen, die Herrschaften wieder in ihre Zimmer zu begleiten. Da wurde es dunkel und ab halb sechs gibt es Abendessen.«
Lenz stellte fest, dass die respektvollere Ausdrucksweise Wolfgang keinerlei Schwierigkeiten bereitete und auch nicht aufgesetzt klang. Der junge Mann hat ein anderes Format als Gammel-Bufdi Mario, dachte er. »Als Sie in den Park kamen, um Herrn Kottmann zu holen, war er nicht mehr da?«, fuhr er fort.
»Nein. Ich habe zunächst angenommen, dass er alleine raufgegangen ist. Herr Kottmann gehört zu unseren agilsten Bewohnern, obwohl er schon vierundneunzig ist. Aber als er weder in seinem Zimmer noch im Aufenthaltsraum war, habe ich Frau Finke Bescheid gesagt.«
Sie nickte. »Wir haben das ganze Haus abgesucht und ihn nicht gefunden. Ich habe sofort Mario und Wolfgang in die Stadt geschickt. Es kommt schon mal vor, dass der eine oder andere unserer dementen Bewohner unbemerkt am Empfang vorbeikommt und durch die Stadt läuft. Herr Kottmann ist zwar nicht dement, aber es hätte ja sein können, dass er bei Rossmann oder Combi etwas einkaufen wollte. Aber auch da hat ihn niemand gesehen. Also habe ich die Polizei informiert.«