Kitabı oku: «Asian Princess», sayfa 3
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„Bitte folgen Sie mir!“
Arusa Pisuphans Privatsekretär öffnete die zweiflügelige Tür zu einem großzügigen Empfangszimmer. „Direktor Pisuphan wird Ihnen in wenigen Minuten zur Verfügung stehen. Nehmen Sie bitte Platz. Darf ich Ihnen etwas anbieten?“
„Danke. Im Moment nicht.“
„Wie Sie wünschen.“ Der Sekretär verbeugte sich und verließ nahezu geräuschlos den Raum.
William blickte sich um. Der Salon war mit antikem chinesischen Mobiliar eingerichtet. Das meiste davon stammte aus der späten Qing-Dynastie des 19. Jahrhunderts. William kannte sich ein wenig aus, er hatte während seiner Zeit als FBI-Agent hier in Bangkok selbst einige Antiquitäten erworben. Die Wände zierten kostbare Seidentapeten. Schwere dunkelrote Samtvorhänge verhinderten den Einfall von Tageslicht und dämpften zugleich die hektischen Geräusche der Außenwelt. Der hohe Raum wurde angenehm von indirektem Licht beleuchtet. Einzelne Punktstrahler hoben wertvolle Porzellanvasen und Rollbilder mit Darstellungen aus der Zeit des kaiserlichen Chinas hervor.
Penelope hatte erwähnt, dass Arusa Pisuphan der chinesischen Minderheit Thailands angehörte, die sich trotz erfolgreicher Assimilierung überwiegend den Werten und Traditionen des Konfuzianismus verpflichtet fühlte. Wie die meisten Thai-Chinesen hatte Pisuphan seinen ursprünglichen chinesischen Familiennamen abgelegt und stattdessen einen thailändischen angenommen. Nachdem William eine Weile herumgewandert war und die Einrichtung bewundert hatte, setzte er sich in einen der Sessel aus schwarz gefärbtem Birnbaumholz, die sich um einen halbhohen Lacktisch mit Perlmuttintarsien gruppierten.
Die Klimaanlage summte dezent und William entdeckte zwei unscheinbare Überwachungskameras, die jeden Winkel des Raumes erfassten. Ließ ihn sein Gesprächspartner womöglich absichtlich warten und dabei beobachten? Offenbar war die Sache doch nicht so eilig, wie Penelope es ihm in ihrem letzten Telefonat weiszumachen versucht hatte.
William hatte seinen Erholungsurlaub auf Koh Samui zwei Tage früher als geplant beendet und war nach Bangkok geeilt, wo ihn Penelope am Flughafen in Empfang nahm. Nach einer zunächst warmherzigen Begrüßung konnte die vielbeschäftigte Juristin nur schlecht verbergen, wie sehr sie unter Zeitdruck stand. Als sie Williams Ernüchterung spürte, verschob sie kurzerhand den Nachfolgetermin und lud ihn zu einem Kaffee ein, bei dem sich ihre Angespanntheit nur unwesentlich verlor. Obwohl Penelopes Lächeln, wie damals vor einem Jahr, immer wieder aufblitzte und sie sich mehrmals auf die gewohnte vertraute Weise berührten, empfand William eine Distanz, die ihn auf schmerzliche Weise erkennen ließ, dass der Zauber ihrer Beziehung verflogen war. Während Penelope im Telegrammstil noch einmal die wichtigsten Informationen zum Auftragsangebot ihres Klienten vortrug, nippte William an seinem Getränk und hing ganz anderen Gedanken nach. War es eigentlich zwangsläufig, dass selbst einer von ganzem Herzen empfundenen Seelenverwandtschaft eine Art Verfallsdatum innewohnte, das umso näher rückte, je kleiner die Schnittmenge des gemeinsam erlebten Alltags wurde?
William riss sich von seinen Grübeleien los. Er hatte Penelope versprochen, dass er sich das Anliegen ihres Klienten anhören würde, und sein Blick streifte noch einmal durch den Salon. Eine solche Pracht hatte er nicht erwartet, als er im Gassengewirr von Bangkoks Chinatown schließlich die angegebene Adresse, einen grauen, unansehnlichen Betonklotz, an dessen Fassade deutliche Spuren der Verwitterung erkennbar waren, gefunden hatte. Endlich öffnete sich die Tür.
„Guten Tag, Mr. LaRouche. Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Hat man Ihnen eine Erfrischung angeboten?“
„Guten Tag, Khun Arusa“, grüßte William zurück und verwendete dabei die in Thailand gebräuchliche Formel der Anrede, bei der die Bezeichnung Herr mit dem Vornamen des Angesprochenen kombiniert wird. „Ja, vielen Dank. Im Augenblick möchte ich wirklich nichts.“
William hatte sich erhoben und hielt dem Gastgeber, wie in Asien üblich, mit beiden Händen seine Visitenkarte entgegen. Pisuphan wirkte deutlich jünger, als es das von Penelope erwähnte Alter von Mitte achtzig vermuten ließ. Das dichte, pechschwarze Haupthaar zeigte keinerlei Alterungserscheinungen, die Gesichtshaut erschien straff und weitgehend faltenfrei. Lediglich ein paar dunkelbraune Hautverfärbungen auf den Handrücken verwiesen auf ein fortgeschrittenes Lebensalter. Pisuphan war von zierlicher Statur, einen guten Kopf kleiner als William und strahlte eine ungebrochene Lebenskraft aus. Das Auffälligste an ihm war jedoch sein Clark-Gable-Bärtchen mit dem eleganten Abschwung an den äußeren Enden und dem akkurat rasierten Abstand zur Oberlippe. Einerseits schien dieses Bartdesign ein wenig aus der Zeit gefallen zu sein, andererseits verstärkte es, im Einklang mit dem klassisch geschnittenen dreiteiligen Anzug samt Einstecktuch, die Seriosität des Gastgebers.
„Mr. LaRouche, nehmen wir Platz.“ Pisuphan studierte Williams Visitenkarte. „Wie ich sehe, befindet sich Ihr amerikanisches Büro in Manhattan. Sehr schön. Mrs. Owens hat Sie empfohlen und Ihre Erfahrung erwähnt. Sie sind bereits mit der Situation vertraut?“
„Nicht im Detail. Mrs. Owens hat angedeutet, dass Sie sich Sorgen um Ihre Tochter Suwannee machen, mit der Sie seit geraumer Zeit keine persönliche Verbindung mehr hatten.“
„So ist es.“
„Wann hatten Sie die den letzten Kontakt mit Ihrer Tochter?“
„Vor exakt fünf Tagen.“
Pisuphan reichte William ein eng bedrucktes Blatt. „Hier finden Sie sämtliche Telefongespräche, die meine Tochter und ich in den letzten Wochen geführt haben. Wir haben mindestens einmal täglich telefoniert. Ich lege Wert auf diese Regelmäßigkeit und Suwannee ist in diesen Dingen sehr zuverlässig.“
„Welchen Charakter hat Ihre Tochter? Wo liegen ihre Schwächen? Wer sind ihre Freunde? Hat sie eine feste Beziehung? Wenn ich Ihren Auftrag annehme, brauche ich eine detaillierte Beschreibung der Gewohnheiten und Vorlieben Suwannees. Lassen Sie dabei nichts außer Acht, auch wenn es Ihnen nicht wichtig erscheint oder unangenehm sein sollte.“ William hatte noch längst nicht entschieden, ob er Pisuphans Angebot annehmen wollte. Bis ein derartiges Persönlichkeitsprofil vorlag, blieb ihm sicher genügend Bedenkzeit, um zu überlegen, wie er eine solche Recherche mit seinen New Yorker Verpflichtungen unter einen Hut bringen konnte.
„Wir haben bereits alles für Sie zusammengestellt.“ Pisuphan überreichte William eine Mappe. „Sie finden hier auch eine Sammlung von Fotografien. Suwannee verändert von Zeit zu Zeit gerne ihr Äußeres. Sie wissen ja, wie junge Mädchen heute so sind …“
Überrascht nahm William die Unterlagen entgegen und registrierte dabei ein ungeduldiges Flackern in Pisuphans Blick. „Sie möchten keine Zeit verlieren. Warum ist Ihre Tochter in Deutschland?“
„Sicher hat Ihnen Mrs. Owens verraten, dass Suwannee mein einziges Kind ist. Meine ersten beiden Ehen verliefen nicht sonderlich erfolgreich. Erst mit meiner dritten Frau Constanze, eine Österreicherin aus Wien, hatte ich das Glück, Vater zu werden. Leider ist sie vor ein paar Jahren von uns gegangen. Zu ihren Lebzeiten hat Constanze stets Wert darauf gelegt, dass unsere Tochter auch ihre deutsche Muttersprache beherrscht und die europäische Kultur kennen und verstehen lernt.“
„Mrs. Owens berichtete mir, dass Suwannee in Heidelberg studiert.“
„Das ist richtig. Der Aufenthalt in angenehmer akademischer Umgebung soll ihr Gelegenheit geben, ihre ein wenig eingerosteten Deutschkenntnisse aufzufrischen. Sie hat in Amerika Jura und Betriebswissenschaft studiert und bereits abgeschlossen.“
William musterte Pisuphan, dessen anfängliche Bedrücktheit nun einer gefassten, geschäftlichen Ausstrahlung gewichen war.
„Was ist, wenn Suwannee sich eine Auszeit genommen hat, deren Gestaltung sich nicht unbedingt mit den Vorstellungen ihres Vaters deckt? Sie wissen, was ich meine …?“
„Mr. LaRouche, ich verstehe genau, auf was Sie anspielen. Natürlich soll sich Suwannee in Deutschland amüsieren. O ja! Ich kenne das Mädchen! Sie wird ihren Spaß haben. Aber Sie können sicher sein, dass sich meine Tochter an die Regeln hält, die in unserer Familie gelten.“
William schaute kurz auf. Hatte Pisuphan seinen skeptischen Blick bemerkt?
„Sie müssen wissen, dass Suwannee und ich aus dem gleichen Holz geschnitzt sind. Wenn meine Tochter, aus welchen Gründen auch immer, eine Zeitlang auf unsere täglichen Kontakte hätte verzichten wollen, würde ich es wissen“, fügte Pisuphan mit einer Intonation an, die jeden Zweifel an seiner Aussage im Keim erstickte.
„Sie glauben also, dass Suwannee etwas zugestoßen ist?“
„Welche andere Möglichkeit gibt es sonst?“
„Khun Arusa, haben Sie Feinde?“
„Selbstverständlich.“
Das Eingeständnis Pisuphans kam ohne Zögern und noch dazu in einer Art, als wären persönliche Feinde für ihn die natürlichste Sache der Welt.
„Mrs. Owens hat mir den Rat gegeben, Sie als eine Art unabhängigen Ermittler nach Deutschland zu schicken.“ Pisuphan schien ein wenig zu zögern, fuhr dann aber fort: „Ich verstehe natürlich, wenn Sie von mir engste Kooperation erwarten. Bitte wenden Sie sich trotzdem zunächst an Mrs. Owens, sollten Sie bei Ihren Nachforschungen auf Hinweise stoßen, aus denen sich eine Verbindung zu meinen geschäftlichen Aktivitäten schließen lässt. Mrs. Owens wird mich dann umgehend informieren und ich selbst liefere Ihnen dann, bei hinlänglichem Verdacht, Details.“
„Warum misstrauen Sie der deutschen Polizei?“, fragte William, dem die letzten Ausführungen Pisuphans ein wenig merkwürdig erschienen.
„Weil die Zeit drängt. Wir können uns kein umständliches bürokratisches Verfahren leisten, zu dem europäische und insbesondere deutsche Behörden neigen. Wie ich höre, sind in Deutschland außerdem nahezu sämtliche staatliche Institutionen, einschließlich der Polizei, mit der Bewältigung des Flüchtlingsansturms beschäftigt und vollkommen überlastet. Glauben Sie, dass unter diesen Umständen der Suche nach einer vermissten asiatischen Studentin Priorität eingeräumt wird? Verstehen Sie mich bitte, ich bin in Sorge um meine Tochter! Ich habe nur dieses eine Kind. Mr. LaRouche, nehmen Sie den Auftrag an!“
7
Das fünf Meter hohe Natursteingewölbe wurde nur von einer einsamen nackten Glühbirne beleuchtet, die ziemlich genau in der Mitte des quadratischen Raumes an einem Elektrokabel baumelte. Das Gebläse der Lüftung stieß in unregelmäßigen Intervallen Frischluft in das fensterlose Verlies und ließ dabei die Lichtquelle nervös hin und her tanzen.
In einer Ecke, unweit eines mobilen elektrischen Wärmelüfters, lag eine Matratze auf dem kalten Fliesenboden. Darauf stapelten sich ordentlich zusammengefaltete weiße Wolldecken und weiß bezogene Kissen. Der Heizlüfter war ausgeschaltet und klamme Kälte kroch in die Schlafunterlage.
Der Matratze gegenüber befand sich eine Duschkabine, links daneben eine Toilettenschüssel ohne Sichtschutz, rechts ein Waschbecken, darüber ein Spiegelschrank. Über einem Edelstahlrohr hingen fabrikneue weiße Frotteetücher in verschiedenen Größen. Auf einer Ablage standen ungeöffnete Produkte zur Körperpflege bereit: eine Zahnbürste, Zahnpasta, Duschcreme, ein Haarwaschmittel, eine Bodylotion. Schließlich gab es noch einen stabilen Metallstuhl ohne Armlehnen, dessen fröhliches, pinkfarbenes Polster das Sitzmöbel wie einen zufällig vorbeigekommenen Gast wirken ließ, dem das Motto der Veranstaltung nicht bekannt war.
Alles machte einen aufgeräumten, blitzsauberen Eindruck. Das dominierende Weiß wirkte allerdings bei längerer Betrachtung in seiner kalten Sterilität unheimlich und furchteinflößend. Diese Empfindung wurde von den klinisch weißen Wandkacheln und den glänzenden Bodenfliesen im selben Farbton verstärkt, die als Projektionsflächen für die Lichtspiele der dürftigen Beleuchtung dienten.
Auf der Matratze lag eine junge Frau, die sich schon eine Ewigkeit lang bemühte, ihre Umgebung zu vermessen. Man hatte sie wie ein Paket zusammengeschnürt. Die Arme waren verschränkt auf den Rücken gebunden, die Unterschenkel mit den Oberschenkeln verknotet. Ihr Mund verschloss ein Klebeband, dessen Verankerung im Nacken es ihr unmöglich machen sollte, die Knebelung zu entfernen. Dadurch war zudem die Beweglichkeit ihrer Halswirbelsäule empfindlich eingeschränkt und ihr Blickfeld minimiert, sodass sie zwischenzeitlich die Erkundung aufgegeben hatte.
Die Frau hatte keine Ahnung, wie lange sie schon gefangen gehalten wurde. Waren es erst ein paar Stunden oder war es schon ein Tag? Wie spät mochte es sein? War es Tag oder war die Nacht bereits angebrochen? Sie hatte nicht nur jedes Zeitgefühl verloren, sie konnte sich auch nicht mehr erinnern, wie sie an diesen Ort gekommen war. Man musste sie betäubt und mit Drogen ihre Erinnerung ausgelöscht haben. Sie wusste noch, wie sie am Morgen aufgestanden war, geduscht und danach gefrühstückt hatte. Was war anschließend passiert? Die letzten Stunden schienen wie in einem schwarzen Loch verschwunden zu sein und so versuchte die Frau, sich in der trostlosen Gegenwart zu orientieren. Sie war entführt worden. So viel stand fest. War es ein Einzeltäter? Kaum möglich, dachte sie. Die Aktion musste von einer Gruppe, die ihr Geschäft verstand, geplant und durchgeführt worden sein.
Wieder strich ihr Blick, so eingeschränkt es die Lage zuließ, durch das Gewölbe. Nirgendwo war ein Fenster, ein Lichtschacht oder dergleichen zu entdecken. Ihr Gefängnis schien sich unter der Erde zu befinden. Vielleicht ein alter Bunker oder ein Funktionsraum eines stillgelegten Bergwerks? Auf keinen Fall konnte es ein gewöhnlicher Keller sein, in dem üblicherweise das eine oder andere Geräusch der Außenwelt zu vernehmen war. Hier unten war nur das Rasseln der Lüftung zu hören, und wenn das Gebläse aussetzte, wurde es totenstill. Befand sie sich womöglich an einem abgeschiedenen Ort, fernab jeder Behausung, wo Menschen lebten, von deren Aufmerksamkeit ihr Leben und ihre Rettung abhängen konnte?
Nach einer weiteren Ewigkeit, in der sie vor sich hin dämmerte, glaubte sie, ein Geräusch gehört zu haben. War es ein Traum gewesen? Nein, es waren tatsächlich Schritte, die sich von außerhalb des Verlieses näherten. Ihr Herz schlug so stark, dass sie kaum noch atmen konnte. Mit aller Kraft veränderte sie ihre Körperlage, um die Kachelwand im Blick zu haben, aus deren Richtung der Hall der Schritte zu ihr drang. Dann sah sie den Türdrücker, der unscheinbar in eine Kachelfuge eingelassen war und der sich in diesem Moment behutsam nach unten bewegte.
8
Arusa Pisuphan hatte nach Williams Zusage darauf bestanden, dass sich sein Privatermittler unverzüglich auf den Weg nach Deutschland begibt. Der überstürzten Abreise aus Bangkok fiel bedauerlicherweise auch das geplante Abendessen mit Penelope zum Opfer. Immerhin fanden sie noch Zeit, um sich bei einem gemeinsamen Frühstück am Flughafen zu verabschieden, ehe William die Maschine nach Frankfurt am Main bestieg.
Als Penelope einen Abschiedskuss auf Williams Wange drückte und er sie daraufhin fest an sich zog, glaubte er für ein paar Momente, noch einmal die Vertrautheit zu empfinden, die sie vor einem Jahr zusammengeschweißt hatte. Aber so unvermutet diese Gefühlswoge herangerollt war, so rasch war sie auch wieder verebbt. Es war vorbei. Sie waren kein Liebespaar mehr, sie waren nur noch gute Freunde. Aber war das nicht auch etwas Besonderes und möglicherweise sogar wertvoller als eine wacklige Liebesbeziehung zwischen zwei komplizierten Charakteren?
Auf der Fahrt vom Frankfurter Flughafen ins badische Heidelberg schwirrten William unzählige Gedanken durch den Kopf. Immer wieder zog er zur Ablenkung den großzügig motorisierten Leihwagen auf die linke Spur der Autobahn. Zwei, drei Minuten jagte er dann über die zu dieser Abendstunde nicht übermäßig belebte Piste. Er genoss das Gefühl, wenn er das Gaspedal bis zum Anschlag durchtrat. So reguliert und bürokratisiert dieses Deutschland auch sein mochte, auf den Autobahnen herrschte eine ganz andere Freiheit als in seiner amerikanischen Heimat. Die rasante Fahrt war allerdings nicht nur vergnüglich, sie strengte auch gehörig an, und nach dem Adrenalinstoß reihte sich William gerne wieder in die gemächlicher dahinstrebende Kolonne auf der rechten Fahrbahn ein und ließ seine Gedanken erneut kreisen.
Er hatte sich während des Fluges zunächst mit der umfangreichen Fotosammlung beschäftigt, die Pisuphan den Unterlagen beigefügt hatte. Suwannee war ein hübsches Mädchen. Sie vereinte die chinesischen Gene des Vaters mit denen ihrer hochgewachsenen, blonden Mutter. Sie überragte ihren Vater um einen halben Kopf und auch ihre Körperproportionen waren nordisch-kaukasisch geprägt. Andererseits besaß das Mädchen leicht geschlitzte Augen, dazwischen lag ein abgeflachter Nasenrücken, ihre Haut war bronzefarben und ihr Haar asiatisch schwarz. Sollte diese junge Frau tatsächlich einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein? Oder lag Penelope mit ihrer Vermutung richtig, dass sich die Gaststudentin lediglich ein paar freie Tage gegönnt hatte, in denen sie unbeschwert ihren Leidenschaften nachging?
Wieder beschleunigte William seinen Wagen und schoss an einem Konvoi von Lastwagen vorbei. Heidelberg war fast erreicht. Sein Blick streifte über den östlichen Odenwald, der im Licht der Abendsonne wie die Kulisse eines kitschigen Heimatfilms anmutete. Hier irgendwo musste Rebheim liegen, dieser fremde und doch merkwürdig vertraute Ort, den seine Mutter versucht hatte, ihm mit sentimentalen Geschichten ans Herz zu legen. Vor seiner Abreise aus Bangkok hatte William ausführlich mit ihr in New Orleans telefoniert. Als er dabei seinen Auftrag in Deutschland erwähnte, überschlug sich ihre Stimme fast: „Billy, mein Junge, du wirst begeistert sein! Endlich besuchst du einmal mein Rebheim.“ Der Wortschwall seiner Mutter war kaum zu bremsen gewesen. Sie schwärmte von der Landschaft, der Freundlichkeit der Menschen und den regionalen Delikatessen mit unaussprechlichen Namen wie Lewwerkäs, Buwespitzle, Fleeschkiechlin oder Kerscheplotzer. Dazu fielen immer wieder Vornamen von Verwandten und die ehemaliger Jugendfreunde, mit denen William nichts anzufangen wusste.
Rebheim. Hier also hatte seine Mutter als Doris Klingenberger bis zu ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr gelebt, ehe sie Anfang der 1970er Jahre den jungen Soldaten Vincent LaRouche geheiratet hatte und ihm unmittelbar darauf hochschwanger nach New Orleans gefolgt war.
Es war Williams erste Deutschlandreise. Er hatte sich informiert. Rebheim, die Perle der Badischen Bergstraße, lag nur wenige Kilometer von Heidelberg entfernt. Luftaufnahmen zeigten den malerischen Ort als eine Ansammlung kleiner und mittelgroßer Häuschen, von denen keines mehr als vier Etagen besaß, und die sich mit ihren roten Ziegeldächern um ein Gotteshaus scharten, dessen Glockenturm mahnend gen Himmel wies. Gleich hinter dem östlichen Ortsrand stieg das Gelände zum Odenwald hinauf. An einem Steilhang klebte das Wahrzeichen der Ortschaft, die Ruine der mittelalterlichen Guldenburg, um die herum Wein- und Obstgärten angelegt waren. William hatte bis jetzt kaum einen Gedanken an diesen Winkel der Welt verschwendet, wo es etliche Menschen gab, die mit ihm verwandt waren. Seine Mutter hatte ihm die Namen von Angehörigen und, soweit sie ihr in Erinnerung waren, auch deren Adressen zusammengestellt. Aber William war sich nicht sicher, ob er tatsächlich Interesse an Begegnungen mit diesen fremden Menschen hatte.
Endlich war Heidelberg erreicht. William steuerte die Limousine in die Garage eines am Rande der Altstadt gelegenen Businesshotels. Er entlud sein Gepäck und erledigte die Formalitäten an der Rezeption, wo man ihn schon erwartete. Die Mitarbeiter von Pisuphans Büro hatten es sich nicht nehmen lassen, alles bestens zu organisieren und dabei auch seinen Wunsch nach einer unauffälligen Unterkunft berücksichtigt. Dabei war es eigentlich Williams grundsätzliche Arbeitsweise, sich unabhängig von seinen Auftraggebern ein Quartier zu besorgen. War es wirklich ausgeschlossen, dass ein Vertrauter oder ein Angestellter Pisuphans etwas mit dem Verschwinden von dessen Tochter zu tun hatte? In einem solchen Fall würde es dem Täter nun kaum Schwierigkeiten bereiten, den Mann, der das Mädchen finden sollte, im Auge zu behalten. William erinnerte sich an die Überwachungskameras im Salon von Pisuphans Bangkoker Zentrale. Oder wollte womöglich sein Auftraggeber selbst William unter Beobachtung und Kontrolle wissen?
William ließ sich auf sein Zimmer bringen, bestellte einen großen Salat, ein paar Flaschen Coca-Cola und spülte den Reisestaub mit einer heißen Dusche ab. Es war mittlerweile zehn Uhr abends. Er verspürte noch keine Müdigkeit, wusste aber, dass er sich zum Schlafen zwingen musste, um möglichst rasch den Zeitunterschied zwischen Bangkok und Mitteleuropa wettzumachen. William ließ die koffeinhaltige Brause ungeöffnet, nahm ein Mineralwasser aus der Minibar, schluckte ein leichtes Schlafmittel und stocherte ohne Appetit in seinem Salat herum. Dabei streifte sein Blick die Ausgabe der Bangkok Post, die er sich im Flugzeug hatte bringen lassen, um sie dann doch nicht zu lesen. Auf der Titelseite fiel William eine Schlagzeile auf: „Wieder Leichen am Strand! Was ist los in der Andamanensee?“ Darunter war das Foto einer Polizeiabsperrung zu sehen, vor der Gaffer in Badebekleidung ihre Hälse reckten. Der Text der Meldung berichtete von neun vom Seewasser zersetzten menschlichen Körpern, die an die Strände von Bang Niang und Bang Sak, sechzig Kilometer nördlich der Ferieninsel Phuket, angeschwemmt worden waren. Der Polizeichef der südthailändischen Provinz Phang Na wurde mit der Vermutung zitiert, dass es weit draußen auf hoher See ein Schiffsunglück gegeben haben musste. Möglicherweise eine Havarie durch einen technischen Defekt oder eine Explosion. So etwas käme schon ein paarmal im Jahr vor. Aber, so ließ der Polizeioffizier beruhigend wissen, zur Sorge bestehe keinerlei Veranlassung, unter den geborgenen Leichen befänden sich keine Touristen.
William rollte die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb. Thailands Strände und die Metropole Bangkok erschienen ihm mit einem Mal so unendlich weit entfernt. Und auch das Gefühl der letzten Umarmung von Penelope verkroch sich in eine dunkle Ecke der Erinnerung. William schob den Salat beiseite und schaltete den Fernsehapparat ein. Es gab mehrere englischsprachige Kanäle, durch die er sich ohne Interesse zappte. Schließlich blieb er bei einem deutschen Sender hängen, auf dem lokale Nachrichten liefen. Eine Sprecherin trug das Neueste aus der Rhein-Neckar-Region vor. William machte es sich auf der Couch bequem und ließ den Klang der deutschen Sprache auf sich wirken. Die Frau auf dem Bildschirm sprach mit einer Melodie, die der seiner Mutter zum Verwechseln ähnlich war. Die gelegentlichen harten Wortkanten, die im Rachenraum kehlig geformten Silben, die singenden Zischlaute, das alles führte William in seine Kindheit zurück, in eine Zeit, in der er nach dem Verschwinden seines Vaters verunsichert und hilflos mit seiner alkoholkranken Mutter verbunden war. William wischte diese schmerzhaften Erinnerungen beiseite und versuchte sich auf den Inhalt der Nachrichten zu konzentrieren. Es waren nicht die Meldungen aus der großen, weiten Welt, die viele Zuschauer interessierten, aber keinen wirklich betrafen. Die Nachrichten dieses Senders beschäftigten sich vielmehr mit handfesten Ereignissen aus der Gegend, wo der Neckar in den Rhein mündete. Die Topmeldung des Tages handelte von einem beliebten und volksnahen Lokalpolitiker, der in betrunkenem Zustand einen Sachschaden in Höhe von mehreren Zehntausend Euro verursacht hatte. Der Mann war in den frühen Morgenstunden mit seinem Fahrzeug auf eine Schaltzentrale der innerstädtischen Ampelsteuerung geprallt, deren Ausfall den morgendlichen Berufsverkehr Heidelbergs lahmgelegt hatte. Übernächtigt und voller Demut entschuldigte sich der Politiker vor der Kamera bei seinem Wahlvolk. So etwas sei ihm bisher noch nie passiert und er gelobte nachhaltige Besserung. William war überrascht, wie mühelos er das Vorgetragene verstand, und vermutete, dass es wohl nicht allzu lange dauern dürfte, bis er seine Deutschkenntnisse auch in anspruchsvolleren Konversationen würde anwenden können.
William erhob sich und wandte sich zum Badezimmer, da setzte die Sprecherin mit der nächsten Meldung fort. Es ging um eine Leiche, die in einem Weinberg am Ortsrand von Rebheim entdeckt worden war. Hätte er noch nie von diesem Ort gehört, wäre die Meldung sicherlich in seiner allmählich einsetzenden Schläfrigkeit untergegangen. William kehrte zum Sofa zurück.
„Bei dem Leichnam handelt es sich um eine männliche Person aus dem asiatischen Raum“, verriet die Sprecherin. „Nach Einschätzung unserer Reporter vor Ort verfolgt die Polizei noch keine konkreten Spuren. Ein Sprecher der Kriminalpolizei kündigte für die nächsten Tage eine Pressekonferenz an. Natürlich wird Sie Badenia-TV, Ihr Regionalsender mit Herz, auch in diesem mysteriösen Todesfall auf dem Laufenden halten!“
Eine Leiche in Rebheim! Der Tote ein Asiate? Ein eigenartiger Zufall, dachte William und überlegte, ob er früher als geplant den Heimatort seiner Mutter besuchen sollte.