Kitabı oku: «Schamanismus bei den Germanen», sayfa 3

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Odin erklettert den Schamanenbaum

Dass der Weltenbaum auch in der germanischen Mythologie eine schamanische Funktion erfüllt, belegt der Mythos von Odin und Yggdrasil. Wie ein Schamane erklettert dieser Gott den Weltenbaum und verharrt neun Tage und neun Nächte kopfüber in den Zweigen, vom eigenen Speer verwundet, hungernd, dürstend:

Ich weiß, dass ich hing am windigen Baum

neun ganze Nächte,

vom Speer verwundet und Odin geopfert,

selber mir selbst,

an dem Baum, von dem niemand weiß,

aus welchen Wurzeln er wächst.

(Hávamál 138)

Im körperlichen und geistigen Ausnahmezustand – in Ekstase – gelangt Odin zur Erleuchtung:

Da begann ich zu gedeihn und klug zu sein

und zu wachsen und mich wohl zu fühlen;

Wort gab mir Wort aus dem Wort,

Werk gab mir Werk aus dem Werk.

(Hávamál 141)

Sakrales Wissen offenbart sich ihm, Runen fallen von den Zweigen. Er wird eingeweiht in die geheimen Künste der Magie, lernt zu ritzen und zu röteln, lernt magische Lieder und Zaubersprüche:

Weißt du, wie man ritzen soll, weißt du, wie man raten soll?

Weißt du, wie man färben soll, weißt du wie man prüfen soll?

Weißt du wie man beten soll, weißt du wie man opfern soll?

Weißt du wie man darbringen soll, weißt du wie man vernichten soll?

(Hávamál 144)

Man zählt dieses Gedicht der Edda zur Weisheitsliteratur. Die Neunzahl (neun Nächte) ist wohl symbolisch zu verstehen: Es sind die neun Welten, die Odin am Stamm des Weltenbaumes durchwandert. Sein Geist durchdringt den Kosmos und gelangt noch in die letzten Winkel der neun Welten. Nach neun Tagen und neun Nächten kehrt er als „weiser Mann“ zurück – als ša-man.

Der germanische Mythos erinnert deutlich an die Selbstopfer, die anzugehende Schamanen im Zuge ihrer Ausbildung erbringen müssen: durch isoliertes Fasten in der Einsamkeit des tiefen Waldes, umgeben von den Tieren und den Geistwesen der Wildnis. Sie sind am ganzen Körper angemalt, stigmatisiert, und für den Rest des Stammes verkörpern sie die ‚Anderen‘, die ‚Toten‘ und die ‚Ahnen‘. Sie sind „aus-der-Kultur-ausgetreten“. Irgendwann beginnt der Initiand zu ‚fantasieren‘ und mit den Waldgeistern zu ‚sprechen‘; diese werden dann zu seinen Freunden und Verbündeten, Krafttieren und Hilfsgeistern. Schließlich wird er selbst zum wilden Tier, dann ist er ein Schamane.

Bei den Burjat-Mongolen in Sibirien gibt es einen schamanischen Initiationsritus, bei dem der Einzuweihende – er ist am ganzen Körper angemalt mit dem Blut eines geopferten Bockes – auf eine Birke klettert, in die neun Einkerbungen geritzt sind, welche die neun Welten symbolisieren. In der Hand trägt der Initiand ein Schwert (bei Odin ist es der Speer). Auf dem Baum sitzend fällt der Jungschamane in Ekstase. Nicht nur in Sibirien, auch bei den amerikanischen Indianern gibt es diese rituellen Baumbesteigungen. Deshalb haben einige Forscher vermutet, dass es sich bei Odins Runenlied und Weltenbaumgeschichte um das mythische Modellverfahren einer Initiation zum Odinskrieger und Ekstasekünstler handelt – eine ‚Proto-Initiation‘. Odin hat es vorgemacht, er ist der erste Eingeweihte und der Ur-Schamane, nun gilt es, es ihm gleichzutun.

Durch die Initiation wird der junge Mann zum Krieger Odins und eingeweiht in die ‚wütige‘ Schar, das ‚wilde Heer‘ der Toten. Das Ritual enthält: Scheinhängen und Speermarkierung und (vielleicht) Mutproben. Durch Speermarkierung (Ritzen mit einem Speer, der Waffe Odins) wird der Initiand Eigentum des Kultgottes. Und Scheinhängen ist eine Technik, ekstatische Erlebnisse zu induzieren (andere Kulturen bedienen sich dazu asketischer und meditativer Praktiken, bestimmter Körperhaltungen, des Tanzes, verschiedener Rauschgifte und narkotischer Getränke): der Einzuweihende wird an einem Strick (um den Hals) hochgezogen, bis er das Bewusstsein verliert, dann wieder heruntergelassen. Er erfährt an sich den ‚kleinen Tod‘, eine neue, tiefere Dimension des Seins, das Außer-sich-Sein, die spirituelle Wirklichkeit. […] Der Mythus von der Einweihung Odins dürfte die wichtigsten Elemente des männerbündischen Aufnahmerituals und seiner Wirkungen – auf menschliches Maß reduziert – wiedergeben. Die Initiation in den Männerbund eröffnet dem jungen Mann den Zugang zum Training bestimmter Ekstatsetechniken, die ihn befähigen, an sich die sog. Berserker-Wut zu erzeugen, eine Kampfekstase, die mit Unverwundbarkeit durch Eisen und Unempfindlichkeit gegen Feuer und mit Gestaltwandel oder Seelenexkursion verbunden ist: der Kämpfer vermag sich in ein wildes Tier (Bär oder Wolf) mit dessen Eigenschaften zu verwandeln oder seelische Kräfte in Tiergestalt (Bär) von seinem Körper zu trennen und in den Kampf auszusenden, während der Körper in Untätigkeit (Schlaf) verfällt.15

Das Trommelpferd

Das altnordische Wort drasil heißt „Pferd“. Yggr ist ein Beiname des Odin. Yggdrasil heißt also „Odins Pferd“. Wieso ist der Weltenbaum nach einem Reittier benannt? Er ist das Schamanenpferd, auf dessen Rücken Odin in das Jenseits und durch die neun Welten reitet. Das Ross des Gottes trägt eigentlich den Namen Sleipnir, hat acht Beine und ist schnell wie der Wind. Es führt die wilde Jagd an, ein wütiger Gaul, ein feuriger Hengst. In Niedersachsen war es noch lange Sitte, dem Pferd des Wotan ein Ernteopfer darzubringen, indem man einiges vom Korn des Feldes stehen ließ: Unter „Wode! Wode!“-Rufen wurde Wodelebier gereicht und sich berauscht. In der germanischen Überlieferung wird mehrfach davon berichtet, dass einer der Götter – zumal Odin und sein Sohn Hermod – Sleipnir sattelt und in die Unterwelt reitet, um von den Toten Auskunft einzuholen oder mit der Todesgöttin Hel über eine Seele zu verhandeln. Die Geschichten von und mit Sleipnir – Jenseitsreisen und Unterweltfahrten – tragen klassische schamanische Züge.

Für Eliade ist das Pferd das Schamanentier par excellence. Es diene dem Schamanen zur Herbeiführung der Ekstase; der Ritt symbolisiere den ekstatischen Flug, die Trance und den mystischen Tod. Er berichtet von Ritualen in Sibirien, bei denen die Schamanen einen Stock mit Pferdekopf zum ekstatischen Tanz benutzen, und von einem indischen Todesmythos, bei dem die Seele des Verstorbenen von einem achtbeinigen Pferd ins Jenseits getragen wird:

Nun ist das achtbeinige Pferd, wie wir wissen, typisch schamanisch. [ ] Die Pferde mit acht Füßen oder ohne Kopf sind in den Riten und Mythen der ‚Männerbünde‘ bezeugt und zwar im germanischen wie im japanischen Bereich. In allen diesen Kulturzusammenhängen haben die mehrfüßigen und Gespensterpferde zugleich die Funktion eines Toten- und Ekstasetiers.16

Im Tengrismus, das ist die schamanische Weltanschauung Zentralasiens (Mongolen, Turkvölker), wird die Seele des Menschen allegorisch als „Windpferd“ bezeichnet; der Sitz des Pferdes ist die Brust des Menschen. In der mongolisch-türkischen Überlieferung gibt es ein achtbeiniges Pferd, das fliegen kann. Es gilt als die Kraft des Menschen, Himmel und Erde harmonisch zu verbinden. Stärken lässt sich diese Kraft durch Rituale, Gebete und Opfer sowie das Inhalieren bestimmter Zauberkräuter.

In Sibirien ist der Weltenbaum fest mit dem Schamanenpferd verbunden – im wahrsten Sinne des Wortes. Denn dort dient dieser Baum – „ein heiliger Baum mit durchsichtigem, duftendem Harz, mit Rinde, die nicht trocknen wird und nicht platzt, mit schön gemustertem, nie bleichendem Laub, mit Früchten gleich Reihen umgekehrter Kumysbecher“ – als Pfosten, an dem die Schamanen ihre Pferde festbinden: „Der Wipfel dieses Baumes wuchs hinauf in den siebenschichtigen Himmel und bildete dort den Hauptanbindepfahl für die Pferde“.17

Denn das Pferd ist die Schamanentrommel. Wenn der Schamane rhythmisch auf sie einschlägt, klingt sie wie ein rennendes Pferd, und zwar im achtbeinigen Galopp. Auf dem Rücken dieses Pferdes, im Einklang mit dem monotonen Trommeltakt, in Trance, reitet der Ekstatiker über die Regenbogenbrücke in die Anderswelt. Zugleich geben die sibirischen Schamanen an, dass ihre Trommeln aus dem Holz des Weltenbaums gefertigt werden, die es dann gewissermaßen ‚einzureiten‘ gilt. Um die Trommel magisch zu beleben, streift der Schamane sich ein Fell über, ruft die Hilfsgeister herbei und setzt sich im Schneidersitz auf den Boden – auf ein ausgebreitetes Pferdefell. Dann beginnt er zu singen und rhythmisch auf die Trommel zu schlagen:

Dich verwandeln meine Worte in ein Roß von Heldengröße.

Und ein Pferd von großer Schnelle wird geschaffen.

Sei ein Springer unermüdlich, schnell und ruhig sei dein Schritt!

Dann sei stark, mein Pferd, und feurig, jung wie Sturm und voller Glück!

Lass auf deinem runden Rücken rhythmisch mich den Schlägel schwingen!

– Niemals läuft der Sinn der Wohltat von dir fort, mein kühnes Pferd!

Heilung werden bringen wir, ich und du, mein Pferd und Trommel.

Dieses seist du, kühne Trommel, Wundertrommel, Trommelpferd!

Pferd zum Fahren! Roß zum reiten!

Kühnes Roß, gebändigt Tier du!

Kühnes, gehorsames, scheckiges Pferd,

Soll ein wunderschöner Knabe

Dich an Zaum und Zügel halten!

Soll dir nie der Sattel rutschen!

Sei das beste kühne Pferd

Auf dem großen Opferwege!

Großes Wunder! Trommelpferd!

Große, starke, hohle Trommel,

Spannpferd bist du, trägst ein Halfter!

Schwerer Krankheit, schnellen Unglücks,

Wisse deren Grundursache,

Jag, verfolg sie, reib sie auf,

Werd nicht schwankend, werd nicht schwach! –18

Drei Götter der Ekstase
Wotan, der Zauberer

Wohlbefugt lässt sich Odin (nordgerm.) bzw. Wotan (südgerm.) als der germanische Schamanengott bezeichnen. Auf seinem achtbeinigen Pferd Sleipnir – einem Symbol für die Schamanentrommel – durchreist er die neun Welten. Der Weltenbaum ist „Odins Pferd“. Die substanziellen Fertigkeiten eines Schamanen – Tranceinduktion und Bewusstseinstechnik – sind dem ersten Eingeweihten seit der Initiation am Baum der Bäume wohlvertraut. In einem alten Götterlied der Edda heißt es, dass Odin beim Zaubern (in der Trance) „zusammensackt“, und zwar beim „Schlagen“ auf die „Trommel“.19

Odin ist ein „weiser Mann“ (ša-man), weil er aus der heiligen Quelle getrunken hat, die an der Wurzel des Weltenbaumes entspringt, „in der Klugheit und Verstand verborgen sind. Mimir heißt der, dem sie gehört. Er ist voller Weisheit, denn er trinkt mit dem Horn Gjallarhorn aus dieser Quelle. Dorthin kam Allvater (Odin) und erbat sich einen Trunk aus ihr. Aber er bekam nichts, bevor er sein Auge als Pfand gab“ (Gylfaginning 15). Deshalb ist Odin einäugig. Als Mimir der Kopf abgeschlagen wird, konserviert Odin diesen und trägt den Totenschädel immer bei sich, um ihn beizeiten um Rat zu fragen – eine divinatorische Technik, die auch die sibirischen Schamanen kennen.

Odin ist der germanische Schamanengott, weil er dazu in der Lage ist, die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits zu überschreiten und „hinter den Schleier der Natur“ zu blicken. Er ist ein Grenzgänger, der – wenn es sein muss – ohne zu zögern in den Tod reitet, um sich dort geheimes und dem gewöhnlichen Bewusstsein verborgenes Wissen anzueignen. Dafür weckt er auch schon einmal eine tote Seherin aus ihrem Todesschlaf, um sie durch Zauberwort zu bannen, dass sie ihm ihr Wissen preisgebe. Er ist „des Zaubers Vater“ (Baldrs draumar).

Odin ist auch der Hauptgott der ekstatischen Geheimbünde der Germanen, archaische Verkleidungskulte, bei denen Menschen rituell zu Tieren wurden und die Toten darstellten. Das wichtigste Hilfsmittel bei diesen Kulten war naturgemäß die Maske, wie denn Odin in den Mythen selbst mannigfach in Maskerade auftritt: Ein Beiname des Odin ist Grímr, das heißt „Maske“ (gríma). Aber über 180 weitere Namen bezeugen, dass es sich bei diesem Gott um einen schamanischen Gestaltwandler per se handelt. Odin ist ein wahrer Meister der Verkleidungs- und Verwandlungskunst. Er erscheint als Weisheitsgott, Totengott und Kriegsgott, als Gott der Dichter und der Mettrinker. Er ist ein Schwarzmagier und Heilkünstler. Mal erscheint er als Greis mit langem Bart und Schlapphut, mal als junger Krieger auf der Höhe seiner Manneskraft.

In der altisländischen Ynglingasaga (ca. 1230) werden Odins Zauberkünste ausführlich beschrieben. Die Passage liest sich wie ein Lexikoneintrag zum Stichwort Schamane:

Odin konnte seine Gestalt verändern. Sein Körper lag wie tot oder schlafend da; er war aber ein Vogel oder ein Tier, ein Fisch oder eine Schlange und fuhr in Augenblicken in andere Länder, in die Angelegenheiten seiner selbst oder anderer Leute. Allein mit Worten konnte er Feuer schlagen und das Meer beruhigen und den Wind in jede Richtung bewegen, wie er wollte. Odin hatte ein Schiff, das Skídbladnir hieß, das über die Maßen groß war, aber das man wie ein Tuch zusammenlegen konnte. Odin trug immer Mímirs Haupt bei sich, welches ihm Nachrichten aus der anderen Welt weissagte. Manchmal weckte er sogar die Toten aus der Erde auf oder setzte sich unter Gehenkte; deswegen nannte man ihn auch Herr der Wiedergänger oder Herr der Gehenkten. Er hatte zwei Raben, denen er die Sprache der Menschen beigebracht hat; sie flogen weit übers Land und erzählten ihm viele Neuigkeiten. Er war in allen Dingen besonders weise. All dies lernte er mit Runen und den Liedern, die Zaubersprüche heißen. (Ynglingasaga 7)

Aber nicht nur in der Mythologie des hohen Nordens erscheint Odin als Schamanengott. In der südgermanischen Überlieferungen heilt Wotan die Kranken mit Mantras und magischen Gesängen (Merseburger Zauberspruch). Den Medizinmännern und -frauen lehrt er Pflanzenpharmakologie (Neun-Kräuter-Segen). Grimm nennt Wotan den „größten zauberer oder wunderer von allen“.20 Als weiser Mann mit Stock und Schlapphut durchstreift er die kontinentaleuropäischen Wälder. Er ist der Reiter mit dem langen Zaubermantel. Als Kopf der wilden Jagd führt er die Toten durch die Rauhnachtstürme, er ist der wilde Jäger. Wenn Wotan sich in Fell hüllt, dann geht er um als Werwolf oder Bärenmann.

Dass Wotan der Beherrscher der Ekstase ist, lässt sich eindeutig an seinem Namen festmachen: Das gemeingermanische Wort *woda heißt „besessen, erregt“, was sich auf das Schütteln des Schamanen beim Eingehen in die Geisterwelt bezieht, auf das „Außer-sich-geraten“ in der Trance. „Wuodan id est furor“, charakterisiert der Theologe und Historiker Adam von Bremen in seiner Hamburger Kirchengeschichte (11. Jhd.) diesen Gott. Wotan, das ist Wut, Raserei und wilde Leidenschaft, Verzückung, Wahnsinn und Besessenheit. Volkstümlich wird Wotan auch Tolljäger oder Tollmann genannt, der, der die Tollkirsche gegessen hat.

Die älteste namentliche Erwähnung des Gottes Wotan findet sich als Runeninschrift auf einer Bügelfibel (Gewandspange) aus dem 6. Jahrhundert, die im bayrischen Nordendorf gefunden wurde – die Nordendorfer Runenspange. Die alte Inschrift ist nach wie vor geheimnisvoll, sie lautet: „logaþore wodan wigiþonar“. Mit der vollständigen Übersetzung dieser Gravur hat die wissenschaftliche Forschung lange Zeit ihre Schwierigkeiten gehabt. Die Wörter wodan und wigiþonar sind eindeutig den germanischen Göttern Wotan und Donar zuzuordnen, letzterem in seiner Form als Weihe-Donar (germ. wigian: „weihen“) oder Kampf-Donar (germ. wigan: „kämpfen“). Das erste Wort logaþore jedoch ist rätselhaft. Es könnte auf den Gott Loki hindeuten. Dreifachnennungen von Götternamen – wie Loki, Wodan, Donar – waren bei den Germanen weit verbreitet; sie dienten der magischen Beschwörung. Vielleicht handelt es sich bei dem ersten Wort aber auch nicht um einen Eigen-, sondern Gattungsnamen (Appellativ) zum altenglischen Glossenwort logeþer für „Zauberer“. Dann lautete die Inschrift: „Zauberer (sind) Wodan (und) Donar“. Was auch immer die Nordendorfer Inschrift nun genau bedeuten mag, kraftvolle Schamanengötter sind sie alle drei: Wotan, Donar und Loki.

Thor, der Donnergott

Thor (nordgerm.) bzw. Donar (südgerm.) bewohnt das größte Haus in Asgard. Er ist der Sohn und Zauberlehrling Odins/Wotans und strotzt nur so vor magischer Kraft: Sein mächtiger Wunderhammer – geschmiedet von zwei Zwergen – verfehlt niemals das Ziel und kehrt nach jedem Wurf zur Hand zurück. Ein paar Handschuhe aus Eisen helfen ihm, den schweren Hammerschaft zu fassen. Außerdem besitzt er einen Kraftgürtel, der die Asenkraft noch um das Doppelte erhöht. Dies sind gewiss schamanische Ritualobjekte, die Donar als einen mächtigen Schamanen auszeichnen. Seine Reisen in das Riesenland, die „Außen-Welt“ (Utgard), erinnern deutlich an die Reisen der Schamanen in die Anderswelt. „Und niemand ist so klug, daß er alle seine Großtaten erzählen wüßte. Ich könnte so manche Nachricht von ihm berichten, daß der Tag vergehen würde, ehe alles gesagt wäre, was ich weiß“ (Gylfaginning 21).

Thor ist der kraftstrotzende Beschützer der Menschen wie der Götter. Wer ihn an seiner Seite weiß, muss sich nicht fürchten. Das ist auch gut so, weil einige der jenseitigen Mächte immer wieder Ärger machen und Krankheit oder Missernte und Schneesturm bringen.21 Solche Angelegenheiten regelt Donar mit dem Hammer. Legendär sind seine Reisen in das Reich der Riesen und seine Kämpfe mit den schlangenartigen Dämonen aus der Außenwelt. Dabei kommt der Hammer immer dann zum Einsatz, wenn es darum geht, feindselige Geschöpfe fernzuhalten oder in die Flucht zu schlagen. Hammer und Funktion erinnern deutlich an den (im Vorwort bereits erwähnten) Zauberdolch der nepalesischen Schamanen, der seinerseits zumeist aus Holz gefertigt ist und wiederum den Weltenbaum verkörpert. Dieser „Phurba“ genannte Geisterdolch ist eine magische Waffe, die der Schamane in der Hand hält, wenn er in das Jenseits reist, und die er einsetzt, um etwaige bösartige Dämonen in die Flucht zu schlagen, etwa die negativen Nagas, krankmachende Schlangengeister.

Im naturmythologischen Bewusstsein der agrarisch lebenden Germanen spielte Thor/Donar – dessen Mutter Jörð heißt: „Mutter Erde“ – eine zentrale Rolle als Wettergott. Für alle Ackerbauern ist der Wetterzauber wichtig. Sie sind auf Regen angewiesen, der die Saat aufgehen lässt. Die Germanen, die Himmel und Erde verehrten, huldigten also dem Gott, der den Boden fruchtbar macht, dem „Donnerer“ bzw. „Donner“ (westgerm. þonar, ahd. donar). Wenn es regnete und grollte, dann sagte man: Thor zieht auf seinem von Böcken gezogenen Wagen am Firmament entlang. Sein Wunderhammer trägt den Namen Mjölnir, das heißt „Blitz“. Mit diesem lässt Donar es krachen, trommelt Wind und Wetter, schleudert Blitze aus den Wolken und donnert was der Himmel hergibt.

„Alte Götter sind Zauberer“22, heißt es bei Grimm. Und Thor/Donar ist gewiss einer der ältesten. In einem eddischen Mythos heißt es, dass dieser Gott einst in einen Streit geriet mit dem Riesen Hrungnir und es zum Zweikampf kam. Die Waffe, die der Riese mit sich führte, war ein gigantischer Wetzstein. Thor trug seinen metallischen Wunderhammer Mjölnir bei sich. Als beide Waffen aufeinanderprallten, zersplitterte der Stein am Hammer; auch Hrungnirs Haupt wurde zerschmettert. Manche Forscher vermuten, dass in dieser Geschichte der Übergang von der Steinzeit zur Metallzeit überliefert ist.

Gewiss ist, dass der Donnergott schon in der Bronzezeit bekannt war und verehrt wurde. Zahlreiche Felsritzungen aus dieser Zeit bilden einen Gott ab, der in den Händen einen Hammer hält, etwa der sogenannte „Axtgott von Lilla Flyhov“ (ca. 1.500-1.000 v. u. Z.). Weltberühmt sind außerdem die über 3.000 Jahre alten Felsritzungen von Tanum (Schweden), die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören und Hammergötter abbilden. Besonders auffällig ist dabei, dass diese Figuren häufig mit den Attributen eines Tieres, nämlich eines Bockes, ausgestattet sind und also sehr deutlich an die steinzeitlichen Höhlenmalereien von tierverwandelten Schamanen erinnern. Einige dieser Hammerböcke sind mit erigiertem Penis dargestellt, genau wie der Schamanen-Vogelmensch in der Steinzeithöhle von Lascaux. Zugleich erinnern diese Darstellungen an die antiken ithyphallischen Satyrn, aber auch an die wilden Leute mit der Keule in der Hand, die noch im Mittelalter durch die Wälder zogen.

Das mag man „Einzelheiten“, „Züge“ oder „Spuren“ nennen. Dass es sich bei Donar jedoch ganz sicher um einen germanischen Schamanengott handelt, belegt eine Geschichte, die in der Edda überliefert ist:

Am Anfang dieser Geschichte steht, daß Ökuthor (Thor) mit seinen Ziegenböcken und dem Wagen loszog, und bei ihm war der Ase, der Loki heißt. Am Abend kamen sie zu einem Bauern und erhielten dort ein Nachtlager. Und an diesem Abend nahm Thor seine Böcke und schlachtete beide. Danach wurden sie abgehäutet und in einen Kessel gelegt. Als sie fertig gekocht waren, setzten sich Thor und seine Begleiter zum Nachtmahl. Er lud auch den Bauern mit seiner Frau und den Kindern zum Essen ein. Der Sohn des Bauern hieß Thjalfi, die Tochter Röskwa. Thor legte die Bocksfelle vor das Feuer und sagte, der Bauer und seine Hausleute sollten die Knochen darauf werfen. Thjalfi, der Sohn des Bauern, hielt den Oberschenkelknochen eines Bocks, öffnete ihn mit seinem Messer und brach ihn bis zum Knochenmark auf. Thor verbrachte dort die Nacht, aber er stand noch vor Tagesanbruch auf und kleidete sich an. Er nahm den Hammer Mjölnir, hob ihn empor und weihte die Bocksfelle. Da standen die Böcke auf, einer jedoch hinkte auf dem Hinterbein. Thor bemerkte dies und sprach, der Bauer oder jemand aus dem Haus müsse nicht vorsichtig mit den Knochen des Bockes umgegangen sein. Er stellte fest, daß der Oberschenkelknochen gebrochen war. Nicht mehr ist davon zu erzählen; alle vermögen zu wissen, wie erschrocken der Bauer gewesen sein wird, als er sah, wie Thor seine Augenbrauen über die Augen senken ließ. Aber das, was er von den Augen noch sah, dünkte ihm so, als müsse er von seinem Blick allein schon sterben. Seine Hände umschlossen den Hammerschaft so fest, daß die Fingerknöchel weiß wurden. Der Bauer machte, was zu erwarten war, und ebenso alle seine Leute: Sie schrien laut und baten um Schonung; alles, was sie besaßen, boten sie als Buße an. Aber als er ihre Angst sah, da verging sein Zorn, und er beruhigte sich. Und zum Ausgleich nahm er von ihnen ihre Kinder, Thjalfi und Röskwa. Sie sollten seine Diener sein. Seitdem folgen sie ihm überallhin.

(Gylfaginning 44)

Hinter diesem Mythos steckt ein Initiationsritus, der im Schamanismus weit verbreitet ist: die sogenannte „Zerstückelung“ – das Schlachten, Häuten, Kochen und Wiederbeleben des angehenden Schamanen. Die sibirischen Berichte sind voll davon. Die Zerstückelung ist eine Traumvision, ein Fiebertraum im Zuge der Schamanenkrankheit oder eine drogeninduzierte psychedelische Erfahrung. Das Ritual kann so aussehen, dass der angehende Schamane einen menschenleeren Ort aufsucht, wo er sich niederlegt und drei, sieben oder neun Tage lang fastet. Sein Haupt ist mit einem Strick umwunden, der den baldigen Tod symbolisiert. Dann erscheinen ihm die Geister – wie die Geier über einem Sterbenden. Sie beginnen, den Einzuweihenden bei lebendigem Leibe Stück für Stück auseinanderzunehmen und aufzufressen. Sie trennen die Gelenke auf, reißen die Gliedmaßen vom Körper ab und verzehren die Eingeweide, so dass das Blut spritzt.23 Manchmal werden die Glieder zuvor in einem großen Hexenkessel gekocht. Die Augen werden aus den Höhlen genommen und an einen erhobenen Ort gelegt, so dass der Initiand das schauerliche Schauspiel seiner eigenen Zerstückelung die ganze Zeit mit ansehen muss. Doch geben die Geister auch sorgsam darauf acht, dass die abgetrennten Knochen nicht zu Bruch gehen. Sie sammeln diese nämlich und sortieren sie. Sobald der Körper vollständig zerlegt ist, wenn der Initiand also ‚gestorben‘ ist, beginnen die Geister, diese Knochen fein säuberlich zu reinigen und sorgfältig zum ursprünglichen Skelett zusammenzusetzen. Sie fügen auch die Augen wieder in die Höhlen. Und mit Zauberkraft beleben sie zuletzt den Körper, so dass der Initiand aus dem luziden Traum erwacht. Er wird ‚wiedergeboren‘ und ist jetzt ein Schamane.

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