Kitabı oku: «Medizinische Grundlagen der Heilpädagogik», sayfa 3

Yazı tipi:

■In der präfrontalen Kortexregion schließlich finden wir Aktivitäten bei Handlungsplanung, beim Verstehen komplexer und sozialer Situationen, bei der Verarbeitung emotionaler Erlebnisse (auch in Verbindung mit Gedächtnisinhalten) sowie dem Generieren einer ausgewogenen und adäquaten Reaktion auf das Wahrgenommene.

Der frontale Bereich des Großhirns ist also ganz wesentlich mit Vorgängen verbunden, die wir in gewisser Hinsicht unserer Persönlichkeit zuordnen.

Integration

Das bisher Gesagte könnte zu zwei Missverständnissen führen. Zum einen könnte man meinen, dass es einzelne, möglicherweise sehr viele voneinander unabhängige Zentren gibt, bei deren Ausfall man entweder gar nichts oder fast gar nichts mehr sieht, nicht mehr rechnen kann oder was dergleichen Funktionen mehr sind. Dem ist aber nicht so. Das Gehirn versucht stets, unter allen erdenklichen Umständen die jeweils verfügbaren Informationen zu einer Einheit zusammenzufassen und im Sinne eines ganzheitlich erfahrbaren Erlebnisses zu integrieren. Natürlich kann es beim Ausfall bestimmter Areale dazu kommen, dass bestimmte Details nicht verarbeitet werden können – z. B. können manche Menschen keine Farben wahrnehmen. Dennoch leben sie in einer in sich stimmigen und von ihnen als „echt“ erkannten visuellen Welt. Analoges gilt auch für andere, beispielsweise auditive, Wahrnehmungsstörungen.

Ich-Funktionen

Ein zweites mögliches Missverständnis besteht darin, letztlich eine übergeordnete Stelle in der Hirnrinde zu vermuten, die all die unterschiedlichen Informationen und Hirnaktivitäten zusammenfasst, bewertet oder steuert – sozusagen ein Homunkulus (Menschlein), das von uns dann als Ich erlebt wird, das alles sichtet und nun entscheidet, was zu tun ist. Einen solchen Homunkulus, eine solche übergeordnete Zentrale gibt es nachweislich nicht. Stattdessen entsteht das subjektive Empfinden unseres ichhaften Bewusstseins, wenn unzählige neuronale Zellverbände synchron zusammenarbeiten und miteinander in Verbindung treten. Dabei entscheidet unsere gezielte Aufmerksamkeit, was in der jeweiligen Situation bewusst wahrgenommen und was vernachlässigt wird. Außerdem kommt es bei dieser hochkomplexen integrativen Verschaltung in der Regel eindeutig zu der Fähigkeit, externe Reize und innere Befindlichkeiten zu unterscheiden (eine Fähigkeit, die bei schizophrenen Schüben zeitweilig verloren gehen kann). Der Zugriff zu Gedächtnisinhalten schließlich führt dazu, dass sich das Individuum auch lebensgeschichtlich als Ich definiert: „ich war, ich bin, ich werde sein“.

So kann man zusammenfassend sagen, dass das Gehirn, das komplexeste unserer Organe, aus sehr unterschiedlichen Hirnarealen, quasi Modulen, zusammengestellt ist. Sie sind netzartig miteinander verbunden, und ihre Wirkungen beeinflussen sich gegenseitig. Auf der Grundlage von bioelektrischer Aktivität und chemischer Signalübertragung an den Synapsen gelingt es dem Gehirn, zunächst sehr basal-archaisch, mitunter reflexartig auf äußere Gegebenheiten zu reagieren. Je weiter eine Spezies entwickelt ist und je differenzierter die den basalen Hirnregionen überlagerten Strukturen sind – in letzter Konsequenz das menschliche Großhirn –, desto genauer können Eindrücke der Außenwelt (Sinnesreize) dazu führen, dass eben jene Außenwelt im Gehirn rekonstruiert wird. Das Bild der Welt, das wir uns machen, entspricht zwar nicht der realen Wirklichkeit, ist ihr allerdings angemessen und erlaubt ein adäquates und zielgerichtetes Reagieren auf die Eindrücke von außen. Je differenzierter die Rekonstruktion und Repräsentation der Wirklichkeit im Gehirn, desto genauer und differenzierter ist auch eine motorische Antwort möglich.

Kognition

Letztendlich können menschliche Gehirne auch Probleme ohne Agieren lösen. Ein solches inneres Problemlösen, das, wie Konrad Lorenz formuliert, eine Hypothese sterben lassen kann, ohne dass das Individuum sterben muss, ist evolutionär von Vorteil und wird als „Denken“ oder Kognition bezeichnet. Ursprünglich also als Überlebensorgan gedacht, ermöglicht uns unser Gehirn in Ansätzen, uns selbst bewusst zu werden und die Welt auch in abstrakter Hinsicht zu begreifen.

Die sehr differenzierten und fein abgestimmten Verbindungen und Assoziationen ungezählter neuronaler Subsysteme ermöglichen ein individuelles, dem jeweiligen Zeitpunkt und Ereignis angepasstes Erleben und Verhalten. Die Welt wird mit Hilfe unserer sensorischen Areale in einem neuronalen Muster der Hirnrinde rekonstruiert, mit im Gedächtnis gespeicherten Mustern verglichen, von den Assoziationsbezirken weiterverarbeitet, moduliert und den jeweiligen Bedürfnissen angepasst. Sie wird z. T. bewusst erlebt, emotional gefärbt und in der Regel durch gezielte und bewusste, mitunter auch unbewusste Reaktionen (Mimik, Gestik, Haltung) beantwortet. Mit Einschränkung wissen wir heute schon sehr viel darüber, welche Läsionen oder biochemische Dysfunktionen zu Ausfällen bestimmter Teilaspekte dieses Geschehens führen. Ein großes Rätsel allerdings ist immer noch, wie diese z. T. schon durch bildgebende Verfahren nachweisbaren Funktionsabläufe in ein inneres Erleben unserer Psyche umschlagen.

Entwicklung

Schließlich ist anzumerken, dass sich die grundlegenden neuronalen Netzwerke nach einem genetisch vorgegebenen Programm entwickeln. Dies geschieht teils schon vor der Geburt, zu einem großen Teil (jedenfalls beim Menschen) nach der Geburt und in der Interaktion mit sensorischen Reizen, die verarbeitet werden müssen. Vor allem durch die Schaffung unzähliger Synapsen, der so genannten Synaptogenese, in den ersten, prägenden Entwicklungslagen eines Kindes reift jedes Gehirn zu einem individuellen, hochkomplexen und einzigartigen Organ, das das Substrat des persönlichen Erlebens ist. Mit diesen Entwicklungsvorgängen befasst sich das folgende Kapitel.

1.2Die Entwicklung des kindlichen Gehirns

Wie wir gesehen haben, beruhen die Leistungen unseres Großhirns, von der willkürlichen Steuerung unserer Grob- und Feinmotorik über die Verarbeitung unterschiedlicher Sinneseindrücke bis hin zu emotionalen und kognitiven Prozessen, auf einer sinnvollen, adäquaten und synchronisierten Zusammenarbeit sehr unterschiedlicher und hochdifferenzierter neuronaler Subsysteme. Wie entsteht aber diese Anbahnung adäquater Assoziationen?


Nehmen wir an, wir betrachten eine Vase. Angeborene Strukturerwartungen reagieren dabei auf Dunkel-Helligkeits-Merkmale und die damit verbundenen Konturen. Dies führt zu bestimmten visuellen Strukturerwartungen, und unsere Erinnerung lässt darüber hinaus uns bekannte Objekte erkennen. Mit anderen Worten: Dass wir überhaupt etwas erkennen, verdanken wir angeborenen Strukturerwartungen. Um aber eine Vase zu erkennen, muss man bereits zuvor eine Vase gesehen haben.

Nature vs. Nurture

Damit befassen wir uns mit der grundlegenden Frage des „nature versus nurture“, also der Frage, was und wie viel unserer kognitiven Fähigkeiten angeboren ist und was als Prozess eines (möglicherweise lebenslangen) Lernens anzusehen ist. Mitunter wird diese Frage simplifizierend, ggf. sogar in Prozentzahlen beantwortet. So einfach liegen die Dinge in der Wirklichkeit nicht.

Epigenetik

Gene legen fest, was aus uns werden könnte, die Interaktion mit der Umwelt hingegen bestimmt, was aus uns wird. So könnte man holzschnittartig die alte Diskussion des „nurture versus nature“ (Umwelt/Nahrung versus Natur/Veranlagung) umreißen. Wobei wir unter einem Gen (grob vereinfacht) den Abschnitt der DNA verstehen, der für die Bildung jeweils eines spezifischen Eiweißes in der Zelle verantwortlich ist (sog. Ein-Gen-ein-Eiweiß-Hypothese). Doch neben den Genen spielen epigenetische Prozesse (epi: darüber) eine wichtige Rolle. Entscheidend ist nicht nur, welche Gene vorhanden sind und damit potenziell Eiweiße bilden können, mindestens ebenso entscheidend ist, ob sie es tatsächlich tun. Gene können blockiert, an- oder abgeschaltet werden. Dies geschieht maßgeblich über das Andocken von Methyl- oder Acetylgruppen (wobei die Methylgruppen vor allem einen hemmenden und blockierenden Effekt haben). Es sind nun Umweltfaktoren, insbesondere das biochemische Milieu, das bereits in der frühen Keimphase je nach Position der Zelle sehr unterschiedlich ist, die dafür sorgen, ob Gene aktiv oder blockiert werden. Und in dieser frühen Entwicklungsphase des Menschen führen Methylierungs- und Blockierungsprozesse dazu, dass Gene gänzlich abgeschaltet, andere in besonderer Weise zur Funktion angeregt werden – dass sich also mithin Zellen spezialisieren. Eine Nervenzelle kann – abgesehen von der Fähigkeit, sich zu teilen, sich mit Nährstoffen zu versorgen und zu überleben – im Wesentlichen elektrische Informationen weiterleiten. Eine Muskelzelle hingegen hat sich darauf spezialisiert, sich zu kontrahieren. Diese Zellen sind – anders als die erste befruchtete Eizelle und einige Stammzellen – nicht mehr omnipotent, sie haben sich spezialisiert.

Hinsichtlich der Entstehung von Behinderungen bzw. Entwicklungsstörungen ist festzuhalten, dass genetisch bedingte Veränderungen nur dann vorliegen, wenn die Erbinformation auf der DNA verändert ist, also bereits im Stadium der befruchteten Eizelle (beispielsweise als Folge von Genmutationen). In den überwiegenden Konstellationen hingegen handelt es sich um das Vorliegen einer Vulnerabilität (Anfälligkeit für bestimmte Erkrankungen) durch das Zusammenwirken sehr vieler verschiedener Gene. Diese genetischen Prädispositionen interagieren jedoch ihrerseits mit Faktoren, die auf den werdenden Menschen im Mutterleib einwirken. So können Teratogene (Gifte) zu Fehlfunktionen führen oder die Entwicklung behindern. Aber auch andere Einwirkungen können Einfluss auf die weitere Entwicklung bzw. Fehlentwicklung nehmen. Neben akuten und chronischen Erkrankungen der werdenden Mutter können auch schwere psychische wie physische Belastungen der Mutter negative Folgen für die kindliche Entwicklung haben (beispielsweise Hunger, Situationen von Krieg, Flucht und Vertreibung, Traumen und posttraumatische Belastungsstörungen, Gewalterfahrungen usw.).

Genetische wie epigenetische Faktoren führen dazu, dass sich das menschliche Gehirn in der Embryonal- und Fetalphase in einer bestimmten Weise entwickelt, dass insbesondere überlebenswichtige Erkenntnis- und Reaktionsprogramme sowie die hierfür notwendigen Hirnareale ausgebildet werden und jedem Menschenkind bei der Geburt zur Verfügung stehen.

Schauen wir uns die Entwicklung des menschlichen Gehirns etwas genauer an.

Intrauterine Entwicklung

Neurogenese

Intrauterin beginnt sie mit dem Entstehen der so genannten Neuralplatte in der dritten Schwangerschaftswoche. Daran schließt sich die Neurogenese, die Entstehung der ersten Nervenzellen, an. In der Embryonalzeit (den ersten drei Schwangerschaftsmonaten) werden wesentliche Teile des Gehirns angelegt, wenngleich noch nicht voll entwickelt: das Stammhirn, diverse Zwischenhirnstrukturen sowie in Ansätzen die Großhirnrinde. In der sich daran anschließenden Fetalzeit werden diese Strukturen weiterentwickelt, vergrößert und differenziert. Während der Organanlage in der Embryonalzeit ist das kindliche Gehirn besonders empfindlich und muss insbesondere vor toxischen Schädigungen geschützt werden. Dies könnte möglicherweise eine starke Empfindlichkeit der Mutter vor potenziell verdorbenen Speisen sowie das häufig anzutreffende Schwangerschaftserbrechen erklären.

Die Nervenzellen entwickeln sich in unterscheidbaren Entwicklungsschüben. Die Entstehung der Nervenzellen (Neurogenese) setzt in der dritten Schwangerschaftswoche ein, erreicht ihren Höhepunkt in der siebten Schwangerschaftswoche und ist nach 18 Wochen weitgehend abgeschlossen. Man mache sich klar: Da danach so gut wie keine Nervenzelle neu entsteht, besitzt der Embryo bereits alle Nervenzellen, die der 70-jährige Erwachsene später aufweist. Die Geschwindigkeit der Neurogenese ist atemberaubend. Im Durchschnitt werden in der Embryonalphase eine halbe Million Nervenzellen pro Minute gebildet.

Migration

Eine zweite Phase wird als „ Migration“ bezeichnet: Darunter verstehen wir den Prozess, in dem Nervenzellen an den Ort ihrer Bestimmung wandern und somit erste, basale Hirnstrukturen bilden. Dieser, ebenfalls pränatale Prozess ist weitgehend genetisch gesteuert und biochemisch getriggert. Nervenwachstumsfaktoren und Oberflächensubstanzen des Gewebes weisen den Nervenzellen den Weg. Folglich können nicht nur genetische Fehlinformationen (mitunter reicht die mangelhafte Synthese eines einzigen Proteins), sondern auch toxische Einflüsse während der Schwangerschaft diesen Prozess erschweren. Wenn man also angesichts unterschiedlicher Behinderungen und psychischer Erkrankungen von einer „Vulnerabilität“ spricht, meint man in vorgeburtlicher Hinsicht ein mögliches Zusammenwirken genetischer sowie intrauterin-milieubedingter Störungen.

Synaptogenese

Um die Mitte der Schwangerschaft haben die meisten Nervenzellen ihre endgültige Position erreicht, und sämtliche wichtigen Hirnstrukturen sind entstanden. Sie können allerdings größtenteils noch nicht ihre Funktion aufnehmen, da sie nur sehr wenige Verbindungen zueinander haben. Das ändert sich mit der beginnenden Synaptogenese, der Bildung der Verschaltung der Nervenzellen untereinander, die sehr viel länger dauert als die bisher beschriebenen Phänomene der Neurogenese und Migration. Wie in Kap. 1.1 bereits gesagt, kann jede einzelne Nervenzelle bis zu 10.000 synaptische Verbindungen zu anderen Nervenzellen aufnehmen. Diese „Verdrahtung“ dauert die gesamte zweite Hälfte der Schwangerschaft und einen großen Teil des ersten extrauterinen Lebensjahres an. Viele Prozesse reichen bis in das zweite Lebensjahr, und letztendlich ist die gesamte Kindheit und Pubertät, ja das gesamte menschliche Leben von Lernerfahrungen und den damit verbundenen neu entstehenden Synapsen gekennzeichnet.

Myelinisierung

Bevor wir auf die Zusammenhänge zwischen Lernprozess und Synaptogenese noch etwas näher eingehen, soll noch auf den letzten Schritt der Hirnreifung, die Myelinisierung, eingegangen werden: Wie wir in Kap. 1.1 gesehen haben, werden die Axone von markhaltigen Stützzellen umwickelt, was als „Myelinisierung“ bezeichnet wird und nicht zuletzt die Erregungsweiterleitung wesentlich verbessert. Eine abgeschlossene Myelinisierung ist also mit einer endgültigen Reifung des Nervensystems gleichzusetzen. Es fällt auf, dass bei der Geburt hauptsächlich und wesentlich Stammhirn- und z. T. Zwischenhirnstrukturen diesen Myelinisierungsprozess aufweisen. Das Kleinhirn und insbesondere das Großhirn hingegen myelinisieren weitestgehend nicht, sind also unreif. Damit kommen wir neben den genetisch festgelegten Entwicklungsbahnen des Gehirns zum zweiten wesentlichen Phänomen der kindlichen Hirnentwicklung – der Plastizität und Prägbarkeit dieses Organs.

Entwicklung nach der Geburt

Hirnreifung1. Lebensjahr

Das Neugeborene kommt mit einem proportional großen Kopf auf die Welt, was die Geburt für Mutter wie Kind zu einem mühseligen Unterfangen macht. Es braucht aber hinsichtlich der Reifung basaler Fähigkeiten noch fast ein volles extrauterines Jahr, weswegen der Mensch von Portman als „pyhsiologische Frühgeburt“ apostrophiert wird. Die relative Unreife des menschlichen Gehirns (im Vergleich zu seinen nächsten tierischen Verwandten) ermöglicht andererseits eine hohe Plastizität und Prägbarkeit dieses Organs durch peristatische, also umweltbedingte, Einflüsse. Darin dürfte wohl auch der evolutionäre Sinn dieses Geschehens liegen.

Motorik

Bei der Geburt sind vor allem die lebenswichtigen Stammhirnfunktionen voll ausgereift: Sie ermöglichen das Atmen, die Regulierung der Kreislauffunktionen und des Darmhaushaltes (jedenfalls in gewissen Grenzen, weswegen Säuglinge einer besonderen Pflege bedürfen), der Reaktion auf Hungergefühle sowie zahlreiche motorische Automatismen: Bei Berühren der Wange wird beispielsweise der Mund dem taktilen Reiz zugewandt, woraufhin das Kind zu saugen beginnt – gleichgültig ob es sich um die mütterliche Brust oder den väterlichen Finger handelt. Zweifellos ist dieser Saugreflex überlebensnotwendig. Andere im Stamm- und Zwischenhirn verankerte motorische Programme, die ebenfalls ausgereift sind, werden in Kap. 6, das sich mit der Motorik befasst, näher beschrieben.

Andererseits ist, wie bekannt, das motorische Repertoire des Säuglings durch Massenbewegungen und basale, archaische Reflexe geprägt. In einem über ein Jahr dauernden Entwicklungsprozess reifen die motorischen Strukturen des Gehirns (vor allem des Kleinhirns und der motorischen Großhirnrinde) dergestalt heran, dass hinsichtlich der Grobmotorik das Kind über das Krabbeln, Robben und Aufrichten zum freien Laufen gelangt. Analog kann die Feinmotorik von den primitiven Haltereflexen über das Fäusteln und die Mund-Hand-Koordination zum Pinzettengriff fortschreiten. Dies alles ist genetisch festgelegt – einem gesunden Kind braucht nicht beigebracht zu werden, wie man läuft oder greift. Es erlernt dies von alleine, sofern es in diesem natürlichen Entwicklungsprozess nicht behindert wird.

Sehen

In weiten Teilen verläuft auch die Sehentwicklung ähnlich, doch gibt es hier bereits erste Unterschiede, auf die einzugehen an dieser Stelle wichtig ist: Wie in Kap. 5 noch näher zu zeigen ist, sind die Augen des Neugeborenen zwar voll entwickelt, seine Netzhaut und vor allem seine visuelle Hirnrinde hingegen sind noch relativ unreif und reifen in den ersten sechs Monaten nach. Was ein Kind erkennt, hängt maßgeblich von der Reife seiner Hirnrinde ab. Die allerdings reift in Auseinandersetzung mit der visuellen Umwelt, also den optischen Reizen, die dem Säugling angeboten werden. Ist beispielsweise ein Auge sehgeschädigt, so kann es geschehen, dass die Hirnrinde vorrangig die Sehinformationen des „stärkeren“ (bzw. gesunden) Auges verarbeitet. Die für das kontralaterale Auge zuständigen Areale verkümmern also oder treten in den Dienst des „gesunden“ Auges. Die Folge kann im harmlosen Fall ein Verlust des räumlichen, biokularen Sehens sein. Im Extremfall ist aber auch eine „Erblindung“ möglich, und zwar selbst dann, wenn das Auge später z. B. durch Operationen geheilt wird – die notwendigen Hirnareale sind nicht rechtzeitig angelegt worden.

Entwicklungs-fenster

Offensichtlich gibt es „Entwicklungsfenster“, in denen sich unwiderruflich entscheidet, was unser Gehirn wahrzunehmen und zu verarbeiten in der Lage ist. Dies zeigt sich auch bei der Sprachentwicklung. Einerseits hat jedes gesunde Kind die Fähigkeit, prinzipiell eine jede auf Erden gesprochene Sprache zu erlernen. Die bei zunehmender Reifung der dafür vorgesehenen Hirnzentren entstehenden „Sprachmodule“ und ihre Vernetzungen ermöglichen es dem Säugling in einer wohl definierten, zeitlichen Reihenfolge, zunächst Objekte sprachlich zu kodieren (und somit zum Einwort-Satz zu kommen). Mit der Reifung weiterer Hirnareale können auch Handlungen kodiert werden, was Verben, ihre Flexion und die Grammatik in die Welt bringt. Auch diese Entwicklung wird an anderer Stelle, nämlich in Kap. 7, näher beschrieben. Wichtig ist nun, dass eine genetisch festgelegte Reifung der dafür notwendigen Hirnareale dazu führt, dass im Normalfall jedes Kind seine Muttersprache ohne große Probleme erlernt, und zwar im Dialekt seiner Umgebung. Dies ist allerdings nur innerhalb der ersten drei bis vier Jahre problemlos möglich. Kinder, die in dieser Zeit sprachlich depriviert werden, haben extreme Schwierigkeiten, diese Defizite nachzuholen. Bei völliger Isolation kann der Spracherwerb sogar unmöglich sein.

Wir sehen: Dass ein Kind eine Sprache erlernt, ist genetisch angelegt. Welche Sprache es erlernt, ist kulturabhängig. Wir sehen weiterhin: Die relative Unreife des menschlichen Gehirns kann durchaus als evolutionärer Fortschritt gewertet werden – ermöglicht sie dem Gehirn doch, in wichtigen Prägephasen (vielleicht sollte man besser von Entwicklungsfenstern sprechen) in der Interaktion mit der Umwelt Lernerfahrungen zu machen, die sich auch auf die neuroanatomische Feinstruktur des Gehirns auswirken. Vereinfacht kann man sagen: Die Grobverschaltung des Gehirns ist genetisch festgelegt und wird vor allem intrauterin durch chemische Substanzen getriggert. Dabei entstehen in etwa doppelt so viele Nervenzellen, als der Mensch später benötigt. Auch die Synaptogenese führt zu einem erheblichen Überschuss an Synapsen. Das macht die Verschaltungen relativ „grob“ und führt zu zahlreichen Überlappungen und Ungenauigkeiten.

Feinabstimmung

Die „Feinabstimmung“ allerdings vollzieht sich in der Interaktion der bereits gereiften neuronalen Subsysteme mit den peristatischen Informationen aus der Umwelt in prägenden Entwicklungsphasen. Dabei werden zum einen die neuronalen Module und Bahnen, die häufig gebraucht werden, gefestigt. Auch entstehen mit jedem Lernvorgang zahlreiche neue Synapsen, die durch wiederholten Gebrauch ebenfalls gefestigt werden. Andererseits gehen nicht nur etwa die Hälfte aller (überflüssigen) Synapsen, sondern auch ein Großteil nicht gebrauchter Neurone im Laufe dieses Entwicklungsprozesses zugrunde. Die Hirnreifung besteht also darin, dass genetisch angelegte neuronale Systeme verfestigt und verfeinert werden, indem überschüssige Zellen und Synapsen eliminiert und die tragfähigen, brauchbaren Strukturen erhalten und gefestigt werden. Den Abschluss dieser Entwicklung bildet die Myelinisierung, die die nun entstandenen und oft dauerhaften neuronalen Netze in ihrer Effizienz verstärkt. Erst mit diesem letzten Schritt bildet sich beispielsweise die Fähigkeit des bleibenden episodischen Gedächtnisses, das wir etwa ab dem dritten bis vierten Lebensjahr erwarten dürfen.

Entwicklungs-störungen

Dieser Prozess der kindlichen Hirnentwicklung ist durchaus störungsanfällig – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Wie schon erwähnt, können genetische sowie intrauterine „Störungen“ zu einer Verletzlichkeit (Vulnerabilität) neuronaler Subsysteme führen. Aber auch physische (Infektionen, Flüssigkeitsmangel, Impfschäden) wie psychosoziale (Deprivation, Traumen, Stresssyndrome) Schädigungen vor allem im ersten Lebensjahr können sich in erheblichem Maße negativ auf die Entwicklung des kindlichen Gehirns und seine Funktionen auswirken. Dies gilt nicht nur für den motorischen und sensorischen, sondern in besonderem Maße auch für den emotionalen, sprachlichen und kognitiven Bereich. In den entsprechenden Kapiteln wird hierauf detaillierter einzugehen sein. Was heißt dies nun für die Pflege und Erziehung des Kindes?

Pflege und Erziehung

Das Gehirn entwickelt sich stürmisch in der pränatalen Phase und im ersten Lebensjahr. Die Entwicklungsgeschwindigkeit verlangsamt sich zwar, doch kommt sie, was den physiologischen Prozess angeht, erst gegen Ende der Pubertät zum Stillstand. Auch danach ist das Gehirn bis an unser Lebensende plastisch. Aber die eben beschriebenen Vorgänge weisen darauf hin, dass es für zahlreiche motorische, sensorische und kognitive Fähigkeiten des Menschen sensible Phasen, Entwicklungsfenster, gibt, in denen Fähigkeiten wie das Gehen, die Sprache o. a. optimal erlernt werden. Manche dieser Fenster sind relativ breit und unspezifisch, andere sehr eng und hoch spezifisch: Den Dialekt unserer Muttersprache erlernen wir nur in den ersten Lebensjahren. Das Wissen um solche Entwicklungsfenster kann gar nicht ernst genug genommen werden und wird deswegen für jede in diesem Buch beschriebene kognitive Fähigkeit an gegebener Stelle vertiefend erläutert.

1.3Biochemische Grundlagen

Wie wir gesehen haben, können spezifische Rezeptorstellen an den Dendriten durch für sie charakteristische chemische Substanzen so verändert werden, dass Ionenkanäle geöffnet werden und somit ein bioelektrischer Reiz entsteht.

neurotrop/psychotrop

Solche chemischen Substanzen beeinflussen also die Erregung und werden als „neurotrop“ oder „psychotrop“ – auf das Nervensystem bzw. die Psyche wirkend – bezeichnet. Zu diesen Substanzen gehören zunächst die Neurotransmitter, spezifische Botenstoffe unseres Nervensystems, die wesentlich im Dienst der Erregungsübertragung stehen. Sie versorgen oft zielgerichtet ganz bestimmte Erregungsbahnen. Neurotransmitter können einfache Aminosäuren sein, wie z. B. das Glutamat. Sie können aber auch aus Nahrungsbestandteilen zu Monaminen synthetisiert werden, wie etwa das Dopamin oder Noradrenalin. Schließlich gibt es großmolekulare Peptide, die als Neurotransmitter fungieren können.

Hormone

Hormone haben einen größeren Wirkradius, da sie in der Regel über das Blutsystem viele Organe erreichen. Auch sie können gezielt das Nervensystem beeinflussen, beispielsweise die körpereigenen Endorphine, die an zentralen Stellen der Schmerzbahnen eingreifen. Auch in der Natur vorkommende pflanzliche Stoffe (bzw. Pflanzengifte) können beim Menschen psychische oder neurophysiologische Wirkungen hervorrufen: z. B. das eine Atemlähmung verursachende indianische Pfeilgift Curare, aber auch das aus der Koka-Pflanze gewonnene Kokain oder die Opiate des Schlafmohns.

Vom Menschen extrahiert, chemisch verändert oder synthetisiert können solche Stoffe als Drogen genommen werden, um eine höchstmögliche (oft gefährliche) psychische Wirkung zu entfalten. Schließlich können, völlig neu synthetisiert oder sich von pflanzlichen Wirkstoffen herleitend, psycho- oder neurotrope chemische Substanzen entwickelt werden, die als Psychopharmaka eingesetzt werden. Als Beispiel wären hier Neuroleptika, Antidepressiva und Tranquilizer zu nennen.

Wirkmechanismen

Prinzipiell sind unterschiedliche Wirkmechanismen vorstellbar, um die Wirkung von psychotropen Substanzen – seien sie Drogen oder Arzneimittel – zu erklären: So kann bereits die Produktion eines Neurotransmitters in der „Senderzelle“ blockiert oder gehemmt werden, wie dies z. B. bei manchen Antidepressiva der Fall ist. Das Medikament kann aber auch – wie im Falle des Naloxons, eines Mittels, das bei Opiatvergiftungen gegeben wird – den Rezeptor der Empfängerzelle blockieren. Somit kann der Neurotransmitter (oder das zuvor gegebene Rauschmittel) nicht mehr „andocken“. Auch der Abbau des spezifischen Neurotransmitters kann verzögert oder manipuliert werden: Er ist dann länger wirksam. Beispiele für diesen Mechanismus finden wir bei manchen Neuroleptika und Antidepressiva. Schließlich können psychotrope Substanzen massiv in den Stoffwechsel der empfangenden postsynaptischen Strukturen eingreifen, was als Beeinflussung des „second messenger systems“ (indirekte Wirkung über „zweite Boten“) bezeichnet wird.

Oft sind es strukturelle Ähnlichkeiten auf molekularer Ebene, die, beispielsweise bei Morphin und seinem Gegenspieler Naloxon, am Rezeptor wirken: An bestimmten Stellen kann sich Naloxon im Rezeptor einklinken, so dass das Morphin an dieser Stelle seine Wirkung nicht mehr entfalten kann. Eine solche Strukturähnlichkeit liegt immer dann vor, wenn Medikamente oder Suchtstoffe einen Neurotransmitter „imitieren“, am Rezeptor andocken und somit den natürlichen Botenstoff blockieren (so dass das Medikament hemmend wirkt). Bei anderen Wirkstoffen kann dieses Andocken aber auch dazu führen, dass das Medikament selbst die Neurotransmitterfunktion erfüllt und somit die Zelle erregt.

Hemmung und Erregung

Neurotransmitter können, so wurde bereits gesagt, prinzipiell erregenden oder hemmenden Einfluss haben. Ob ein Neuro-transmitter hemmende oder erregende Wirkung entfaltet, hängt von der Beschaffenheit der Membran ab, an deren Rezeptoren er andockt. Manche Neurotransmitter, wie z. B. das Dopamin und das Noradrenalin, wirken fast ausschließlich an erregenden Synapsen, andere, wie etwa die Gamma-Aminobuttersäure (GABA), praktisch nur hemmend. Acetylcholin schließlich kann, je nach Wirkungsort, hemmend oder erregend wirken.

Es wäre also völlig falsch, einem bestimmten Neurotransmitter eine grundsätzliche und ausschließliche Funktion zuzuordnen. Dies gilt insbesondere für komplexere Verhaltensweisen oder psychisches Erleben: Serotonin beispielsweise ist maßgeblich an unseren Stimmungen, insbesondere auch der Trauer, beteiligt. Ein Mangel an dieser Substanz kann durchaus zur Emotion der Trauer beitragen. Dennoch ist Serotonin nicht „der Grund der Trauer“ (dies sind in der Regel erlebte Ereignisse, vor allem Verluste), sondern lediglich ein biochemisches Korrelat in einem sehr komplexen Verarbeitungssystem. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass erst sehr komplexe neuronale Verschaltungen, Module mit zehntausenden, manchmal Millionen beteiligter Nervenzellen, im Zusammenhang mit den ihnen zugrunde liegenden Neurotransmittern dazu beitragen, eine Reaktion, Stimmung oder ein psychisches Erleben hervorzurufen. Dies ist aber bereits die kombinierte physiologische und chemische Reaktion auf einen inneren (z. B. Hungergefühl) oder äußeren (z. B. Bedrohung) Stimulus, der nun zerebral verarbeitet wird. Mit anderen Worten: Trauer lässt sich nicht biochemisch „heilen“. Allerdings lassen sich neuronale Systeme und die ihnen zugrunde liegenden biochemischen Prozesse durch chemische Substanzen beeinflussen, meist noch relativ ungezielt, wie weiter unten zu zeigen ist.

Von den 50 mittlerweile gut untersuchten Neurotransmittern unseres Gehirns (es gibt wesentlich mehr potenzielle Neuro- transmitter) und einigen anderen chemischen Substanzen listet Tab. 1.1 die wichtigsten auf. Dabei werden die Neurotransmitter und die Hauptbahnen, an denen sie beteiligt sind, sowie die damit assoziierten Funktionen und Funktionsstörungen kurz benannt. Eine weitere Rubrik listet Drogen bzw. psychotrope Medikamente auf, die mit diesen Neurotransmittern und Bahnen in Verbindung gebracht werden können. Vor allem hinsichtlich der Funktionen sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Neuro-transmitter einen zwar nicht unwichtigen, aber dennoch nur partiellen Beitrag an komplexen Reaktionen und Erlebnisweisen leisten. Sie sollten demnach keinesfalls als „Verursacher“ verstanden werden.

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
651 s. 36 illüstrasyon
ISBN:
9783846358351
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip