Kitabı oku: «Arkadiertod», sayfa 5
Linthdorf war es ganz recht so. Er schälte sorgfältig seine Apfelsine und verspeiste sie dann mit großem Appetit. Vitamine konnte man in der dunklen Jahreszeit gut gebrauchen.
Fette Krebse, volle Gläser,
wenn du nicht trinkst, ist die beste Zeit dahin.
Qi Bai Xi 1924
VI
Potsdam, Havelufer der Berliner Vorstadt
Dienstag, 26. Dezember 2006
Auch am zweiten Weihnachtsfeiertag war das Wetter trübe. Ein fahlgrauer Himmel erzeugte die Illusion von Taghelligkeit. Die Temperaturen schlichen wie schon an den Vortagen zwischen Null und Sieben Grad herum. Am Havelufer fütterte ein großer Mann mit schwarzem Hut und Mantel eine große Schar von Blesshühnchen, Stockenten und Schwänen, die allesamt im Uferbereich aufgeregt hin und her schwammen.
Linthdorf, niemand anderes war dieser ominöse Entenfütterer, hatte den Tagesrhythmus wiederaufgenommen, den er seit drei Wochen kultivierte. Jeden Tag machte er seinen Morgenspaziergang entlang der Havel auf der Schwanenallee, beginnend an der Glienicker Brücke, vorbei an der im Winterschlaf vor sich hindämmernden Villa Schöningen, den Resten der kaiserlichen Matrosenstation Kongsnaes bis hin zum Nedlitz-Durchstich in den Neuen Garten. Dabei beobachtete er das Wasser.
Die Havel hatte sich hier an der Grenze zur Millionenstadt Berlin zu einem kleinen See verbreitert, dem der schöne Name Jungfernsee verliehen worden war. Direkt gegenüber konnte er die Bauten von Park Glienicke beobachten. Das Casino, die Große Neugierde und das Hofgärtnerhaus leuchteten aus dem dunklen Park hervor. Dort war er ebenfalls oft unterwegs.
Schaute er schräg nach vorn, sah er den Campanile der Sacrower Heilandskirche. Jetzt im Winter konnte man sogar das Gutshaus erkennen, das im Sommer immer hinter dem Blattwerk der Parkbäume verborgen blieb.
Direkt vor ihm hatte er einen Blick auf die Alte Meierei. Da gab es inzwischen wieder eine vorzügliche Gaststätte mit Seeterrasse und Bootsanleger. Weiter entfernt am Horizont ragte der Fernsehturm vom Schäferberg in den grauen Himmel.
Blickte er zurück zur Glienicker Brücke, konnte er Schloss Babelsberg auf einer kleinen Anhöhe erkennen. Kurz vor dem Nedlitz-Durchstich tauchte auch die Pfaueninsel am Horizont auf. Das kleine Schlösschen auf der Insel strahlte reinweiß über den See. Linthdorf musste jedes Mal lächeln, wenn er es sah. Es war ein potemkinsches Vehikel. Die imposante Fassade war eine Verblendung aus Holz. Das eigentliche Gebäude war nur ein kleiner, einfacher Bau.
Er liebte diese Gegend mit den vielen Prachtbauten, die wie an einer Perlenkette das Havelufer säumten. Zumal ihm hier kaum Leute begegneten. Nur die Flattertiere, so nannte er die Wasservögel, waren seine treuen Begleiter. Beim Laufen am Ufer konnte er seinen Gedanken nachhängen.
Die letzte Großaktion, die er mit der SoKo »Kranichtod« anleitete, hatte tiefe Spuren in seiner Seele hinterlassen. Da war vor allem die Jagd nach den drei Drahtziehern des ausgefeilten Betrugsnetzwerks in den verlassenen Bauten von Bogensee, die mit dem Auffinden seiner leblosen Kollegin Louise Elverdink in den Kellergewölben endete. Sie lag da unten schon wer weiß wie lange ohne Bewusstsein.
Keiner konnte ihm sagen, was genau passiert war. Die drei Hauptschuldigen schwiegen. Linthdorf spürte längst schon mehr als nur kollegiale Freundschaftsgefühle für die Kriminalistin. Sie waren sich näher gekommen bei der Suche nach den verschwundenen Steuergeldern und der Jagd auf die Mörder im Hause Lankenhorst.
Louise lag seit diesen Vorgängen im Nebel von Bogensee in einem hoffnungslosen Komazustand.
Endlich entdeckte Linthdorf eine größere Ansammlung von gefiederten Wasserbewohnern. Sein Baumwollbeutel war prall gefüllt mit Brotresten aus der Kantine, die er dort von der Köchin bekommen hatte. Sie war gestern seine einzige Gesprächspartnerin. Er hatte sich mit ihr fast anderthalb Stunden angeregt bei mehreren Gläsern Glühwein unterhalten. Sie war überrascht über die Vorliebe des stets freundlichen Kriminalisten für einsame Havelspaziergänge. Linthdorf war froh, mit jemanden über die inzwischen schon ein paar Wochen zurückliegenden Ereignisse sprechen zu können.
Die Köchin war eine lebenskluge Frau. Sie spürte, dass sich ihr Gesprächspartner in einem trostlosen Dilemma befand. Linthdorfs aufkeimende Liebe zu der Kollegin aus dem fernen Brandenburg/Havel hatte wenige Zukunftschancen. Sie ahnte es.
Er verdrängte den Gedanken.
Was wäre, wenn Louise nicht mehr aufwachen würde? Oder wenn sie aufwachen würde und ihn nicht mehr erkannte?
Oftmals war ein solcher Komazustand mit Gedächtnisverlust verbunden. Manchmal verfielen Komapatienten nach ihrem Aufwachen in einen traumatischen Seelenzustand, vergleichbar einer großen Depression.
Linthdorf wusste um diese ganzen Unwägbarkeiten. Wie an einem seidenen Faden hing seit Wochen nun schon sein kleines, privates Glück. Der Faden zum Zerreißen gespannt, und er, Linthdorf, konnte diese Spannung kaum noch ertragen. Das bisschen Glück, das er zum Greifen nahe spürte, entschwand, löste sich auf in einem diffusen Nebel.
Der Köchin, die er nur von seinen Kantinenbesuchen oberflächlich kannte, schüttete er jetzt an diesem tristen Weihnachtsfeiertag sein Herz aus. Es war eine Zentnerlast, die ihm wenigstens für kurze Zeit von der Seele fiel.
Zum Abschluss gab sie ihm noch den Tipp, seiner Louise doch mal etwas Musik vorzuspielen. Wenn schon keine direkte Verbindung zu ihr möglich sei, über Melodien würde das Unterbewusstsein vielleicht angeregt … Man habe ja schon von kleinen Wundern gehört.
Linthdorf musste lächeln, wenn er an diesen Ratschlag dachte. Ja, darauf hätte er auch selber schon kommen können.
Der Brotbeutel war fast leer. Seine Flattertiere waren erstaunlicherweise immer noch hungrig. So viel Hingabe hatte er nicht erwartet. Sie schauten ihn aus ihren kleinen runden Knöpfchenaugen fragend an. War das etwa schon alles?
»Jungs, das war’s. Morgen komm‘ ich wieder. Dann gibt’s mehr. So, nun flattert mal wieder los.«
Die Wasservögel paddelten aufgeregt vor ihm im dunklen Havelwasser. Linthdorf setzte seinen Spaziergang fort. Langsam kroch die nasse Dezemberkälte in ihm aufwärts.
Ja, die Idee mit der Musik, da wollte er unbedingt etwas ausprobieren. Er hatte mit Louise öfters Musik gehört, meist beim Autofahren.
Sie mochte Jazz, das hatte sie ihm einmal erzählt. Es gab einen Radiosender, der sich dem Jazz verschrieben hatte: Jazzradio. Linthdorf kannte den Sender. Er lag direkt neben seinem Lieblingskanal, Klassik-Radio. Manchmal, wenn zu viel Kommerz zwischen den Musikstücken hervorquoll, schnappte Linthdorf rüber ins Jazzradio. Die sparsame Moderation und die meist zeitlosen Klänge des Free Jazz waren für ihn ein angenehmes Kontrastprogramm zu Beethoven, Dvorak, Strawinsky und Ravel. Er wollte ein paar CDs zusammenstellen mit gutem Jazz und einen Player mit ins Krankenzimmer bringen. Vielleicht kamen die Klänge durch zu ihrem Innersten.
Linthdorf hatte die alte Matrosenstation Kongsnaes passiert, besser gesagt, die Stelle, an der sie früher mal war. Vor fünf Jahren hatte ein nach der Wende entstandener Förderverein den Torbogen wiedererrichtet. Neben den drei Wohnhäusern der ehemaligen Matrosenmannschaften war der Torbogen im Moment das einzige, was auf die kaiserliche Bootsstation hinwies. Die Gebäude waren allesamt im norwegischen Drachenstil erbaut worden, einer Mischung aus Alpenhütten und Wikingerbauten. Dunkles Holz in Blockbauweise gezimmert, hell abgesetzte Fenster, feine Verzierungen, die an nordische Sagen erinnerten.
In einem der Heftchen der Arkadischen Gesellschaft hatte Linthdorf gelesen, dass es in diesem Jahr eine erneute Ausschreibung zur Wiederherstellung der Matrosenstation gegeben hatte. Auch die beiden kaiserlichen Salondampfer, die Dampfyacht »Alexandria« und die Minifregatte »Royal Louise« kreuzten als Nachbau wieder auf dem Jungfernsee und dessen Nachbargewässern.
Irgendwann sollten die große Vente-Halle und der Bootsschuppen wieder erbaut werden. Das ganze Gebäudeensemble gehörte jetzt schon zum UNESCO-Weltkulturerbe der Berlin-Potsdamer Park-und Schlösserlandschaft, ebenso die Villa Schöningen, die am vorderen Ende der Schwanenallee noch im Dornröschenschlaf vor sich hindämmerte und auf ihre Wiedergeburt wartete.
Linthdorf bog über das kleine Brückchen am Nedlitz-Durchstich in den Neuen Garten ein.
Das Wetter hatte sich verschlechtert. Nieselregen und heftige Windböen konnten ihm jedoch nichts anhaben. Er stapfte mit dem stoischen Gleichmut einer Maschine durch den Park. Das Laufen half ihm, die weihnachtliche, depressive Phase zu überstehen.
Glücklicherweise erinnerte im Neuen Garten nicht viel an Weihnachten. Er folgte dem kleinen Pfad, der am Ufer des Heiligen Sees zum Marmorpalais führte. Auf dem Weg sinnierte er vor sich hin. Über Glück und Unglück, speziell die Wechselbäder des sich neigenden Jahres. Das Jahr war eine Achterbahnfahrt für ihn gewesen.
Im Winter war er mit den ominösen Todesfällen in den großen Flüssen beschäftigt. Die Nixentode, so wurden die toten Frauen in der Presse genannt, verwickelten ihn in seine bisher kompliziertesten Ermittlungen. Wochenlang stocherte er im Nebel um einen Ansatz zu finden. Ohne die Unterstützung von Louise Elferdink und Alfred Stahlmann hätte er den verzwickten Fall nicht gelöst.
Am Ende war Alfred tot, erschlagen von einem Psychopathen. Er hatte sich schützend vor Louise geworfen und sie damit gerettet.
Umsonst!
Louise lag jetzt im Koma. Zwischen Leben und Tod. Nach einem turbulenten Sommer, immerhin war ja auch noch die Fußballweltmeisterschaft in Deutschland. Vier Wochen lag sich das ganze Volk in den Armen und jubelte den Helden auf dem Rasen zu.
Linthdorf schaute diesem bunten Sommertreiben seltsam unbeteiligt zu. Er war kein Fußballfan und konnte auch dem Public Viewing nichts abgewinnen. Die Menschenmassen, die vor den Großbildschirmen ihre Feiern zelebrierten, waren für Linthdorf der blanke Stress. Er fuhr raus ins Grüne. Das machte ihm zehnmal mehr Freude als jedes geschossene Tor.
Seine Kollegen schüttelten den Kopf über den Spielverderber und Spaßverweigerer. Obwohl er überall als ein umgänglicher und freundlicher Mensch bekannt war, wurde es immer einsamer um ihn.
Die neue Aufgabe als Leiter der SoKo »Kranichtod« war für ihn eine echte Chance, neue soziale Kontakte aufzubauen und aus seiner Rückzugswelt wieder in die normale Großstadtwelt einzutauchen.
Und dann war da ja auch noch Louise. Endlich, ja endlich, hatte er mal wieder das Gefühl von Zweisamkeit. Es machte ihn glücklich, er begann wieder über seine Zukunft nachzudenken.
Abrupt wurden diese Träumereien beendet. Linthdorfs Glück dauerte gerade einmal einen Monat.
Seit Anfang Dezember war er in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Zukunft gab es nicht mehr und die Gegenwart entpuppte sich als eine zähe, klebrige Zeitverschwendung, nur unterbrochen von den Spaziergängen an der Havel und den Besuchen in der Charité. Was für ein Jahr!
Sein Traum von Glück war nur eine Illusion. Vorbei, vorbei … Doch weiter ging es, egal, wie es in seinem Herzen aussah. Er spürte die harten Brüche, die wie ein Fluch das Jahr durchzogen, tief in seinem Innersten. Es waren Erschütterungen, die den in sich ruhenden Mann in einer Art und Weise verstörten, wie er es nicht mehr für möglich gehalten hatte. Als ob er noch einmal in die stürmischen Jugendjahre zurückgefallen war. Himmel hoch jauchzend und zu Tode betrübt.
Schmerzhaft.
Es stach manchmal so, dass ihm der Atem stockte.
Doch die ganze Wehklagerei und das Gejammer nutzten nichts. Linthdorf wusste das. Egal, wie heftig das Pendel auch ausschlug, Linthdorf bewahrte die Fassung. Er ließ nichts nach außen dringen von seinen inneren Seelenzuständen.
Langsam lenkte er seine Schritte wieder zurück Richtung Glienicker Brücke. Dort wartete sein Wagen. Es war Zeit, nach Berlin zu fahren. Immerhin hatte er heute noch ein Treffen.
Visionen einer Königin
Wir sind eingeschlafen auf den Lorbeeren Friedrich des Großen… Es kann nur gut werden in der Welt durch die Guten…, deshalb bin ich der Hoffnung, dass auf die jetzige böse Zeit eine bessere folgen wird.
Luise Auguste Wilhelmine Amalie, Königin von Preußen, Herzogin von Mecklenburg-Strelitz
in einem Brief an ihren Vater
I
Osterode bei Königsberg in Ostpreußen
Sonntagabend, 2. November 1806
Das kleine Städtchen Osterode im Schnittpunkt der Handelswege zwischen den alten Ordensritterstädten Elbing, Allenstein und Graudenz gelegen, hatte schon viele schreckliche Ereignisse in seiner langen Geschichte über sich ergehen lassen müssen. Feuersbrünste, Überfälle der Litauer, Belagerungen durch die Ordensritter, Pest und Cholera hatten ihre Spuren hinterlassen.
Doch jetzt bekam das Städtchen plötzlich königlichen Besuch. Friedrich Wilhelm III., seine Gattin, Königin Luise und ihre wichtigsten Minister weilten in der Stadt. Sie waren auf der Flucht vor Napoleons Truppen in die abgelegenen Ostprovinzen des Königreichs geflohen. Hier war noch nichts von dem Weltenbrand zu spüren, den der umtriebige Korse in ganz Europa entfacht hatte. Ein Königreich nach dem anderen fiel dem Franzosenkaiser fast kampflos zu.
Das einst in ganz Europa gefürchtete Preußen hatte gerade einmal drei Wochen dem Druck der Franzosen standgehalten. Dann fiel es um wie ein Kartenhaus im Wind. Der König war paralysiert. Er wirkte in sich gekehrt, murmelte dauernd etwas vor sich hin, dass er diesen Krieg nicht gewollt habe und dass alles zu spät sei. Seine Gattin, Königin Luise, versuchte zwar, seine Stimmung etwas aufzuhellen, aber vergeblich.
Während Napoleon sich in Berlin feiern ließ und im Hohenzollernschloss residierte, waren hier im kleinen, stillen Osterrode die letzten Getreuen des Königs versammelt und beratschlagten, was man in dieser ausweglosen Situation noch machen könne.
Der König war von den Ereignissen vollkommen überfordert. Die beiden Schlachten bei Jena und Auerstedt und auch die Rückzugsgefechte bei Halle an der Saale hatten nicht nur die Preußische Armee aufgerieben, sie machten auch den sonst so rechtschaffenen und zurückhaltenden König zu einem seelischen Wrack. Willenlos ließ er sich treiben.
Nur dank des beherzten Eingreifens eines jungen Kavallerieoffiziers war der König der Gefangennahme durch die Franzosen entkommen. Er wähnte sich schon in Napoleons Händen, als ihn der preußische Major Karl Friedrich von dem Knesebeck mit seinen Reitern aus dem Gefecht holte und seinen Rückzug sicherte.
Knesebeck begleitete den König auch bei seiner Flucht. Der hochgewachsene Offizier, ein Spross der auf Carwe im Ruppinischen lebenden Gutsherrenfamilie derer von Knesebeck, war außerdem ein heller Kopf und fähiger Stratege. Solche Leute waren rar, die konnte man noch gut gebrauchen.
Bekümmert sah der König auf das Häuflein Soldaten, was ihm noch verblieben war. Die Hiobsbotschaften schienen nicht abzureißen. Nicht nur, dass die Reste der Armee verstreut in alle Winde waren, auch ein Großteil der jüngeren und fähigeren Offiziere war in Gefangenschaft geraten.
Die schmählichen Kapitulationen der preußischen Festungen hatten beim König ebenfalls für Verstimmung gesorgt. Kein Ehrgefühl war mehr bei seinen Leuten, kein bisschen Anstand und Vaterlandsliebe. Berlin verbrüderte sich mit den Franzosen und feierte, ja, auch das war dem König zugetragen worden.
Was ihn aber am meisten ärgerte, waren die bösartigen Schmutzkampagnen, die in den französischen Gazetten über seine Frau verbreitet und von den deutschen Zeitungen bereitwilligst nachgedruckt wurden. Seine liebliche Luise wurde in einem Artikel mit der antiken Helena verglichen, die aufgrund ihrer Schönheit nur den Untergang ihres Volkes herbeigeführt habe. Als ob Troja mit Preußen vergleichbar wäre!
Ein noch schlimmeres Schundblatt schrieb etwas darüber, dass Königin Luise mit dem russischen Zaren Alexander I. ein Verhältnis habe.
Impertinent!
Sie war fasziniert von ihm, aber mehr wie ein junges Mädchen von einer Vaterfigur. Friedrich-Wilhelm wusste das. Er kannte seine Luise gut und wusste über ihre Herzensangelegenheiten Bescheid. Alles andere wäre ja auch fatal!
In einem Flugblatt wurde er sogar als »Dämel« beschimpft. Im Kleingedruckten stand da noch etwas. Luise solle klagen darüber, dass er, also der König, da nachgebe, wo er nicht solle und dafür den Ratschlägen Wohlgesinnter eine unerschütterliche und unangebrachte Hartnäckigkeit entgegensetze. Was für ein despektierliches Pamphlet!
Fatal, wenn das in die falschen Hände geriete. Glücklicherweise hatte der Kurier die gesamte Charge dem Zeitungsjungen abgenommen.
Natürlich war der Kriegseintritt Preußens auf Drängen seiner Frau forciert worden. Luise war Napoleon ausgesprochen suspekt. Mit Abscheu sprach sie von ihm als einem »unmoralischen Monster«. So drastisch äußerte sich Luise sonst nie über ausländische Fürsten. Sie bedrängte ihn zusammen mit dem Außenminister von Stein und ein paar anderen Kabinettsmitgliedern, die Neutralität Preußens aufzugeben und dem Usurpator beherzt entgegenzutreten.
Der König sinnierte vor sich hin. Luise, die sonst immer mit ihrer Fröhlichkeit und ihrem Optimismus alle ansteckte, litt mit ihm. Seit ein paar Tagen kränkelte sie etwas. Die letzten Wochen waren einfach zu viel.
Der Leibarzt der Königin, Hufeland, hatte ein leichtes Nervenfieber festgestellt. Nichts Schlimmes, aber immerhin, man solle es nicht ignorieren und auf die leichte Schulter nehmen. Besorgt sah der König auf seine auch jetzt noch bildhübsche Frau. Ihre Haut war bleich, fast weiß, so dass ihre großen braunen Augen umso mehr zur Geltung kamen. Sie schaute ihren Gatten an und verkniff sich ein paar Tränen. Natürlich, sie wusste genauso Bescheid wie alle anderen.
Die Kinder der beiden waren ebenfalls mitgereist und spielten im Moment mit ihren Zofen im Nachbarzimmer. Luise war im Winter gerade wieder vom Kindbett genesen. Der kleine Prinz hatte es leider nicht geschafft, am ersten April starb das Kleine. Luise war todunglücklich und brauchte geraume Zeit bis sie wieder zu Kräften kam. Ein Trost waren ihr die Kinder, die es geschafft hatten, gesund und glücklich heran zu wachsen. Sie hatte bereits zwei ihrer Kinder verloren, zwei Mädchen, Luise, die bereits tot geboren wurde, und Friderike, die gerade mal fünf Monate alt geworden war. Mit den männlichen Nachkommen hatte sie mehr Glück. Die waren allesamt prächtig gediehen: Prinz Friedrich-Wilhelm, der später mal König werden sollte, war ein inzwischen elfjähriger, musisch begabter Knabe, der gern zeichnete und sehr an seiner Mutter hing.
Prinz Wilhelm, ihr zweiter Sohn, war ein aufgewecktes neunjähriges Bürschchen, der ein kleiner Wildfang zu werden schien und viel von dem Temperament seiner Mutter mitbekommen hatte.
Ach ja, da gab es natürlich auch noch Prinzessin Charlotte. Ein zuckersüßes Ding, ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, mit ihren acht Jahren war sie der erkorene Liebling ihres Vaters, der sie zu vergöttern schien.
Und da waren auch noch der kleine Carl und die noch kleinere Alexandrine, beide gerade so flügge geworden. Der fünfjährige Carl und die dreijährige Alexandrine krabbelten meist im Bett der Frau Mama herum und lebten in der vollkommen intakten Welt der Kleinkinder.
Luise seufzte, wenn sie an die Zukunft ihrer Kinder dachte.
Es stand schlimm um Preußen, womöglich würde es in Zukunft gar nicht mehr existieren. Anstelle des unabhängigen Königreichs gäbe es dann nur noch einen französischen Vasallenstaat, ähnlich dem neu geschaffenen Rheinbund, dessen Mitgliedsstaaten allesamt französische Interessen vertraten oder dem von Napoleons Bruder Jerôme geführten Königreich Westphalen. Nur als ein Traum wäre Preußen dann noch in den Köpfen der Leute vorhanden.
Luise spürte, dass von ihrem Mann im Moment leider nicht viel zu erwarten war. Instinktiv wandte sie sich an den wichtigsten Mann des Preußischen Kabinetts, den Staatsminister Karl August von Hardenberg. Sie kannte Hardenberg lange bevor er Staatsminister wurde. Schon in ihrer Zeit als Prinzessin war er ihr ein väterlich zugetaner Freund, der sie und ihren jungen Gatten mit Rat und Tat unterstützte.
Hardenberg, ein Mittfünfziger, dem man das Alter nicht ansah, war ein feinsinniger Mensch. Es hieß, er sei in seiner Jugend ein Duzfreund des Dichterfürsten Goethe gewesen und würde immer noch mit ihm in Korrespondenz stehen. In seiner Zeit als leitender Minister der preußischen Provinz Ansbach-Bayreuth habe er sich mit vielen klugen Leuten umgeben, die mit ihm über die Zukunft des Königreichs nachdachten. Darunter so geschätzte Männer wie der Geheime Staatsrat Wilhelm von Humboldt und der ebenfalls im Staatsdienst stehende Freiherr Karl vom Stein zu Altenstein. Beide Männer, die loyal und treu zum König standen. Also, Hardenberg war eine feste Bank.
Mit ihm musste man reden können, wenn es darum ging, ob und wie Preußen weiter existieren könne.
Luise nahm sich vor, mit ihm und wenn möglich noch ein paar weiteren Männern aus dem Kabinett zu reden. Vielleicht konnte sie dann ja auch ihren Mann aus seiner Lethargie wecken. Und natürlich, sie musste mit dem Zaren in Kontakt kommen. Wenn es einen festen Bündnispartner im Moment noch gab, dann war es Alexander I. Ansonsten schien ganz Europa ja schon dem frechen Korsen zu gehören.
Wenige Frauen sind mit so viel Lieblichkeit begabt als sie. Doch ich muss innehalten, oder ihr werdet denken, dass mir der Kopf verdreht ist, wie es schon so viele Köpfe sind, durch die Schönheit und Anmuth der Königin Luise von Preußen…
Paul Baillieu, Sekretär der Britischen Gesandtschaft zu Berlin
II
Osterode bei Königsberg in Ostpreußen
Montag, 3. November 1806
Der regnerische Tag schien zu der Stimmung der kleinen Gesellschaft zu passen, die hier im »Schwarzen Adler«, dem besten Gasthof mit Logis residierte.
Überall nachdenkliche Gesichter, gesenkte Häupter und nur wenig Zuversicht. Man könnte glauben, dass es sich um eine Trauergesellschaft handele, aber die Kleidung der Versammelten widersprach dieser Beobachtung. Uniformierte in den Farben Preußens, also dem berühmten Blau, Zivilisten mit preußischen Orden am Revers und Subalterne mit vielen Papierstapeln und Büchern ließen eher auf einen ganz anderen Charakter der Versammelten schließen. Es waren die Reste des Preußischen Kabinetts und dessen Oberhaupt, König Friedrich Wilhelm III., die hier tagten.
Einziger Tagesordnungspunkt war ein möglicher Waffenstillstand mit den Franzosen.
Hardenberg, der hochgewachsene, elegante Mann an der Spitze des Kabinetts, wies darauf hin, dass es im Moment sehr schwierig sei, überhaupt nur ein paar der grundlegendsten Forderungen durchsetzen zu können. Da waren vor allem die Schicksale der vielen gefangenen preußischen Offiziere und Soldaten und das Verhindern von Plünderungen seitens der Franzosen.
Der König lauschte seinem Staatsminister ohne eine Regung zu zeigen. Letztlich hinge alles von der Rolle Russlands ab. Vorausgesetzt, dass der Zar zu seiner Bündnistreue stehe, wären die Chancen für einen halbwegs respektablen Waffenstillstand nicht ganz so schlecht. Man solle also unbedingt einen Kurier nach Petersburg schicken, um sich der Hilfe des Zaren zu versichern.
Eine Diskussion entbrannte, welche Schritte die dringlichsten seien. Ob es überhaupt Sinn machen würde, Napoleon einen Waffenstillstand anzubieten, da dieser doch keinerlei Vorteile von einer solchen Vereinbarung habe. Schließlich sitze er in Berlin und kontrolliere den größten Teil des Königreichs.
In einem Zimmer über dem zum Versammlungsraum umfunktionierten Gastraum saßen die Königin Luise und ihre beiden Kammerjungfern. Sie spürten, dass es hier um Wichtiges ging. Luises Unwohlsein, das der Leibarzt Hufeland als Nervenfieber bezeichnete, hatte dazu geführt, das die Königin den ganzen Tag im Bett verbrachte.
Zwei Mal war schon ihr Mann zu ihr gekommen. Er berichtete ihr kurz über die Versammlung, schien aber wenig Zuversicht zu haben. In seinem kurzen, etwas lapidaren Sprachstil klang das Ganze noch viel deprimierender.
Luise hatte in einer schlaflosen Nacht in den fiebrigen Phasen immer wieder ein und dasselbe Bild vor ihrem inneren Auge gehabt. Ein toter Napoleon!
Wenn er tot wäre, dann wäre die gesamte Armee der Franzosen ohne Kopf und damit leicht zu schlagen. Nur die geniale Feldherrnstrategie des Korsen hätte doch letztendlich die vielen Siege zu verantworten. Die meisten Schlachten gingen allein durch seine Anwesenheit verloren. Die Gegner schienen wie von einem Fluch belegt zu sein. Napoleon galt als unbezwingbar.
Der König sah auf seine kranke Frau im Bett, nickte nur und bemerkte kurz, dass es unmöglich sei, überhaupt nur in die Nähe des Franzosenkaisers zu gelangen. So schön die Idee auch sei, aber leider undurchführbar.
Am Abend erreichte eine Depesche mit einem persönlichen Brief des Zaren Alexander I. den König. In dem Brief versicherte der Zar seinem Bündnispartner und Freund König Friedrich Wilhelm III. seine immerwährende Treue und Beistand.
Eine gewisse Welle der Erleichterung ging daraufhin durch die versammelten Männer. Noch war Preußen nicht verloren!
Luise … ist eine Frau mit hübschen Zügen, aber wenig Geist… Schrecklich muss sie von den Gewissensbissen geplagt werden wegen der Leiden, die sie über ihr Land gebracht hat.
Napoleon Bonaparte in einem Brief an seine Frau Josephine, 1806
III
Osterode bei Königsberg in Ostpreußen
Mittwoch, 5. November 1806
Die Königin hatte sich von ihrem Nervenfieber etwas erholt. Hufeland gestattete ihr bereits ein paar Erholungsspaziergänge an frischer Luft. Sie war nicht mehr bettlägerig und dinierte wieder mit ihrem Mann.
Der neblige Novembertag bot allerdings nicht viel an Abwechslung. Ein Spaziergang durch die kleine Innenstadt von Osterrode war kurz und unergiebig. Die Fassaden der Häuser waren nur als dunkle Schatten zu erahnen und das holprige Pflaster erwies sich als überaus störend für die feinen Schuhe der Königin.
Ihre Begleiterin zur Rechten, die Gräfin Julie von Voß, eine ältere Hofdame, die der Königin schon seit Jahren zugetan war und sie hilfreich in ihrer Prinzessinnenzeit beraten hatte, war ebenfalls nicht sehr begeistert von diesem tristen Spaziergang. Schon nach einer halben Stunde hatten sie es aufgegeben, die Stadt zu erkunden.
Erleichtert nahmen es ihre anderen Begleiterinnen zur Kenntnis, schließlich erging es ihnen ebenso.
Wieder im »Schwarzen Adler« angekommen, sah Luise den Staatskanzler von Hardenberg im Gespräch mit dem ebenfalls hochgewachsenen Major von dem Knesebeck. Beide schienen vertieft in ihr Gespräch zu sein und bemerkten die Ankunft der Königin erst, als sie direkt vor ihnen stand.
»Majestät, Sie belieben zu scherzen und uns überraschen zu wollen.«
Elegant hatte Hardenberg den Fauxpas überspielt und die offensichtliche Nichtbeachtung der Königin als einen gelungenen Scherz deklariert.
Luise war sichtlich beeindruckt von dieser Option. Ihr momentanes Gekränktsein war verschwunden und sie wandte sich wohlwollend Hardenberg und dessen Gesprächspartner zu.
»Nun, die Herren sind offensichtlich sehr vertieft in ihr Gespräch. Da will ich denn auch nicht weiter stören.«
»Aber Majestät«, Knesebeck meldete sich zu Wort, »Majestät stören niemals!«
»Danke, Herr Major. Freut mich, dass ich nicht störe. Vielleicht kann ich die beiden Herren ja zu einer Tasse Chocolate einladen?« Mit einer Handbewegung hatte sie ihre Kammerzofe bereits Order erteilt, sich um das köstliche Getränk zu kümmern.
»Setzen wir uns doch«, damit lud sie die beiden Herren an einen großen Tisch direkt am Fenster mit Blick zum Markt. Auch die Gräfin von Voß, immerhin Oberhofmeisterin und Trägerin des Schwarzen-Adler-Ordens war bei dieser kleinen Runde mit dabei.
Einen winzigen Moment herrschte ein höfliches Schweigen. Die Chocolate wurde serviert und alle nippten kurz an dem Getränk.
Dann fuhr die Königin fort. »Mein lieber Hardenberg, Sie wissen ja, was es im Moment für eine Malaise mit unserem Königreich ist. Sonst würden wir wohl nicht hier sitzen. Nun ja, ich habe da so eine Idee, mit der bin ich nun schon seit einigen Tagen in meinem Kopf unterwegs.«
Hardenberg und auch Knesebeck schauten gespannt auf Luise. Nur die Gräfin von Voß blickte etwas gelangweilt aus dem Fenster. Sie kannte die skurrilen Ideen ihrer Königin zur Genüge. Oft genug hatten sie und ihre ebenfalls quirlige Schwester Friederike die Geduld der Gräfin strapaziert mit ihrem Gekichere und dem dauernden Schabernack. Für die Gräfin von Voß war Luise ein liebenswürdiges, aber dennoch etwas oberflächliches, eitles Wesen.
Die große Politik sei einfach eine Nummer zu groß für die Königin. Soll sie sich doch mehr um die Erziehung ihrer Kinder kümmern und das Intrigieren und Manövrieren den Leuten überlassen, die davon etwas verstehen.
Hardenberg schien jedenfalls von seiner Königin recht angetan zu sein. Zumal sein Neffe Friedrich, der unter dem eigenartigen Pseudonym Novalis in Berlin bekannt geworden war, eine große Lobeshymne über Luise verfasst hatte, die auch bei Hofe bekannt war.
Was der Major dachte, wusste die Gräfin nicht. War er ein Vertrauter von Hardenberg? Wieso waren Hardenberg und Knesebeck so oft zusammen? Gab es da vielleicht schon so etwas wie einen Plan?
War es unvorsichtig von der Königin, sich mit den beiden Herren zu unterhalten? Was ging in diesem schönen Köpfchen gerade vor sich?