Kitabı oku: «50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)», sayfa 2

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Das arme Mädchen zitterte bei dem schroffen Ton des Geistlichen, aber doch als eine Frau, die die Brutalität seit langem nicht mehr überraschte.

»Lucien ist Lucien,« fuhr sie fort, »der schönste junge Mann und das beste aller lebenden Wesen; aber wenn Sie ihn kennen, so muß Ihnen meine Liebe sehr natürlich erscheinen. Ich habe ihn vor drei Monaten zufällig in der Porte Saint-Martin getroffen, wohin ich an einem Ausgehtag gegangen war; denn im Hause der Frau Meynardie, in dem ich lebte, hatten wir einen Tag in der Woche frei. Sie begreifen wohl, daß ich mich am folgenden Tage ohne Urlaub frei machte. Die Liebe war in mein Herz gedrungen und hatte mich so sehr verändert, daß ich mich selbst nicht mehr erkannte, als ich aus dem Theater kam: mir graute vor mir selber. Nie hat Lucien irgend etwas erfahren dürfen. Statt ihm zu sagen, wo ich lebte, gab ich ihm die Adresse dieser Wohnung, die damals eine meiner Freundinnen inne hatte, und die sie mir aus Gefälligkeit abtrat. Ich schwöre Ihnen auf mein heiliges Wort … « »Sie dürfen nicht schwören.« »Ist es denn ein Schwur, wenn ich Ihnen mein heiliges Wort gebe? Nun, seit jenem Tage habe ich in diesem Zimmer wie eine Verlorene gearbeitet und für achtundzwanzig Sous das Stück Hemden genäht, um von ehrlicher Arbeit leben zu können. Einen Monat lang habe ich nur Kartoffeln gegessen, um anständig und Luciens würdig zu bleiben; denn er liebt mich wie die Tugendhafteste der Tugendhaften. Ich habe der Polizei meine förmliche Erklärung abgegeben, um meine Rechte wieder aufnehmen zu können, und man hat mir zwei Jahre der Überwachung auferlegt. Dieselben, die einen so leicht in die Register der Schmach eintragen, machen außerordentliche Schwierigkeiten, wenn sie einen streichen sollen. Ich bat den Himmel nur um eins, darum, meinen Entschluß zu festigen. Ich werde im April neunzehn Jahre alt: in diesem Alter hat man noch Möglichkeiten. Mir wenigstens scheint es, als wäre ich erst vor drei Monaten geboren worden … Ich habe jeden Morgen zum lieben Gott gebetet und ihn angefleht, daß Lucien nie etwas von meinem früheren Leben erfahren möchte. Ich habe mir die Jungfrau gekauft, die Sie hier sehen; ich habe auf meine Art zu ihr gebetet, denn Gebete kenne ich nicht; ich kann weder lesen noch schreiben, ich bin nie in einer Kirche gewesen und habe mir den lieben Gott nur aus Neugier bei den Prozessionen angesehen.«

»Was sagen Sie denn zu der Jungfrau?« »Ich spreche zu ihr, wie ich zu Lucien spreche, in jenen Seelenergüssen, die ihm Tränen entlocken.« »Ach, er weint?« »Vor Freude,« sagte sie lebhaft. »Der arme Junge! Wir verstehen uns so gut, daß wir nur eine Seele haben! Er ist so zart, so einschmeichelnd, so sanft im Herzen, in seiner Gesinnung und seinen Manieren! … Er sagt, er sei ein Dichter; ich sage, er ist ein Gott … Verzeihen Sie, aber Sie als Priester wissen nicht, was die Liebe ist. Übrigens kennen nur wir die Männer genau genug, um einen Lucien zu würdigen. Ein Lucien, sehen Sie, ist ebenso selten wie eine Frau ohne Sünde; wenn man ihm begegnet, kann man nur ihn noch lieben: das ist es. Aber ein solches Wesen braucht seinesgleichen. Ich wollte also der Liebe meines Lucien würdig werden. Daher kam mein Unglück. Gestern wurde ich in der Oper von ein paar jungen Leuten wiedererkannt, die so wenig ein Herz haben wie Tiger Mitleid kennen; aber mit einem Tiger wollte ich mich noch verständigen! Der Schleier der Unschuld, den ich trug, ist gefallen; ihr Lachen hat mir Kopf und Herz zerrissen. Glauben Sie nicht, Sie hätten mich gerettet; ich werde vor Kummer sterben.« »Ihr Schleier der Unschuld? … « fragte der Priester. »So haben Sie Lucien mit äußerster Strenge behandelt?« »O ehrwürdiger Vater, wie können Sie, der Sie ihn kennen, eine solche Frage stellen?« erwiderte sie, indem sie ihm ein wunderbares Lächeln zuwarf. »Einem Gott leistet man keinen Widerstand!« »Lästern Sie nicht,« sagte der Geistliche mit sanfter Stimme. »Niemand kann Gott gleichen: die Übertreibung steht der wahren Liebe schlecht, Sie haben für Ihr Idol noch keine reine und echte Liebe gefühlt. Wenn Sie den Wandel empfunden hätten, den durchgemacht zu haben Sie sich rühmen, so hätten Sie Tugenden erworben, wie sie das Erbteil der Jugend sind; Sie hätten die Wonnen der Keuschheit und die Feinheiten der Scham kennen gelernt, jene beiden Ruhmestitel des jungen Mädchens. Sie lieben nicht.«

Esther machte eine Bewegung des Schreckens, die der Priester sah, die jedoch die Gleichgültigkeit dieses Beichtvaters nicht erschütterte. »Ja, Sie lieben ihn um Ihretwillen und nicht um seinetwillen, wegen der weltlichen Genüsse, die Sie bezaubern, und nicht um der Liebe selber willen. Wenn Sie sich seiner so bemächtigt haben, so empfanden Sie nicht jenes heilige Zittern, wie es ein Wesen einflößt, auf das Gott den Stempel der anbetungswürdigsten Vollkommenheit gedrückt hat: haben Sie daran gedacht, daß Sie ihn durch Ihre vergangene Unreinheit erniedrigen, daß Sie ein Kind verderben wollen durch jene grauenhaften Verzückungen, die Ihnen Ihren glorreichen gemeinen Beinamen eingetragen haben? Sie sind in sich selbst und in Ihrer Leidenschaft eines Tages inkonsequent gewesen … « »Eines Tages!« wiederholte sie, indem sie die Augen hob. »Mit welchem Namen soll man eine Liebe nennen, die nicht ewig ist, die uns mit dem, was wir lieben, nicht bis in die Zukunft des Christen hinein vereinigt?« »Ach, ich will katholisch werden!« rief sie mit einem dumpfen und gewaltsamen Ton, der ihr die Gnade unseres Heilands erworben hätte. »Kann ein Mädchen, das weder die Taufe der Kirche noch die des Wissens empfangen hat, das weder zu lesen noch zu schreiben noch zu beten versteht, das keinen Schritt zu tun vermag, ohne daß das Pflaster aufsteht, um sie anzuklagen, das einzig bemerkenswert ist durch das vergängliche Vorrecht einer Schönheit, die vielleicht morgen schon eine Krankheit vernichtet: kann dieses verderbte, erniedrigte Geschöpf, das seine Erniedrigung kannte – ohne dieses Wissen und mit weniger Liebe wären Sie eher entschuldbar gewesen –, kann die künftige Beute des Selbstmords und der Hölle Lucien von Rubemprés Frau werden?«

Jeder Satz war ein Dolchstoß, der im innersten Herzen traf. Bei jedem Satz zeugten das immer sich steigernde Schluchzen und die reichlichen Tränen des verzweifelten Mädchens für die Gewalt, mit der das Licht hereinbrach in ihren Verstand, der unbelehrt war wie der eines Wilden, in ihre endlich erweckte Seele, in ihr eigentliches Wesen, über das die Verderbtheit eine Schicht kotigen Eises gebreitet hatte, die jetzt an der Sonne des Glaubens schmolz.

»Weshalb bin ich nicht gestorben!« das war der einzige Gedanke, dem sie mitten unter den Gedankenströmen, die ihr durch das Gehirn jagten und es verheerten, Ausdruck gab. »Liebes Kind,« sagte der furchtbare Richter, »es gibt eine Liebe, die sich vor Menschen nicht bekennen läßt und deren Geständnis mit glücklichem Lächeln Engel entgegennehmen.« »Welche?« »Die Liebe, die ohne Hoffnung ist, wenn sie Leben einhaucht, wenn sie den Keim der Hingebung hineinsenkt, wenn sie alle Handlungen veredelt durch den Gedanken, eine ideale Vollkommenheit zu erreichen. Ja, dieser Liebe spenden die Engel Beifall, sie führt zur Kenntnis Gottes. Sich unablässig vervollkommnen, um dessen, den man liebt, würdig zu werden, ihm tausend heimliche Opfer bringen, ihn aus der Ferne anbeten, Tropfen um Tropfen sein Blut hingeben, ihm seine Eigenliebe darbringen, keinen Stolz noch Zorn ihm gegenüber mehr kennen, ihm selbst die grauenhafte Eifersucht verhehlen, die er im Herzen entzündet, ihm alles geben, was er wünscht, und wäre es zum eigenen Schaden, lieben, was er liebt, stets das Gesicht zu ihm gewendet halten, um ihm zu folgen, ohne daß er es weiß: eine solche Liebe hätte die Religion Ihnen vergeben; sie hätte weder die menschlichen noch die göttlichen Gesetze verletzt und Sie in einen andern Weg geleitet als den Ihrer schmutzigen Wollust.«

Als Esther diesen furchtbaren Spruch vernahm, der in einem einzigen Wort – und was für einem Wort, begleitet von was für einem Tonfall! – Ausdruck fand, fühlte sie sich von einem nicht unberechtigten Mißtrauen ergriffen. Dieses Wort wirkte wie ein Donnerschlag, der ein ausbrechendes Gewitter verrät. Sie sah den Priester an, und es ergriff sie jener innere Krampf, der den Mutigsten packt, wenn er sich einer plötzlichen und drohenden Gefahr gegenübersieht. Kein Blick hätte zu lesen vermocht, was jetzt in diesem Manne vorging: aber selbst der Verwegenste hätte eher gebebt als gehofft beim Anblick seiner Augen, die einmal wie des Tigers klar und gelb gewesen waren und über die Kasteiung und Entbehrungen einen Schleier gelegt hatten, wie er mitten in den Hundstagen über den Horizonten liegt: die Erde ist heiß und leuchtet, aber der Nebel macht sie undeutlich, dunstig; sie wird fast unsichtbar. Ein geradezu spanischer Ernst und tiefe Falten, denen die tausend Narben einer scheußlichen Pockenkrankheit ihre Häßlichkeit und ihre Ähnlichkeit andern Wunders bedarf, um im Herzen einer Kurtisane aufzublühen. Der Ton und die Manieren dieses Priesters, der wie aus einer Leinwand Zurbarans hervorgetreten war, schienen diesem armen Mädchen, dem die Form wenig ausmachte, so feindselig, daß sie sich weniger wie der Gegenstand der Besorgnis vorkam, als vielmehr wie das für einen Plan notwendige Werkzeug. Ohne zwischen dem Schmeicheln des persönlichen Interesses und der Salbung der Wohltätigkeit unterscheiden zu können – denn man muß wohl auf der Hut sein, um das falsche Geld zu erkennen, das ein Freund gibt –, fühlte sie sich doch gleichsam zwischen den Fängen eines ungeheuren wilden Vogels, der sie lange umschwebt hatte und schließlich auf sie gestürzt war; und in ihrem Schrecken sagte sie mit beängstigter Stimme die Worte: »Ich glaubte, die Priester hätten die Aufgabe, uns zu trösten; und Sie ermorden mich!«

Bei diesem Schrei entschlüpfte dem Geistlichen eine Bewegung, und er machte eine Pause; er sammelte sich, ehe er fortfuhr. Während dieser Sekunde sahen die beiden so sonderbar zusammengeführten Personen sich verstohlen prüfend an. Der Priester begriff das Mädchen, ohne daß das Mädchen den Priester begreifen konnte. Er verzichtete ohne Zweifel auf einen Plan, der die arme Esther bedrohte, und wandte sich zu seinen ersten Gedanken zurück.

»Wir sind die Ärzte der Seelen,« sagte er mit sanfter Stimme, »und wir wissen, welche Arzneien für ihre Krankheiten passen.« »Sie müssen dem Elend vieles vergeben,« sagte Esther. Sie glaubte sich getäuscht zu haben, glitt von ihrem Bett hinunter, warf sich diesem Menschen zu Füßen, küßte in tiefer Demut seine Soutane und hob von Tränen schwimmende Augen zu ihm auf. »Ich glaubte schon viel getan zu haben,« sagte sie. »Hören Sie, liebes gefunden, bewaffnet mit Frechheit und Scharfsinn, faul bis ins Mark und der Stimme der Reue taub, so hätte ich Sie ihrem Zorn preisgegeben. Jene bürgerliche und politische Freiheit, die so schwer zu erlangen ist, die die Polizei im Interesse der Gesellschaft mit Recht so lange verzögert und die ich Sie mit der Glut der echten Reue habe erflehen hören – hier ist sie,« sagte der Priester, indem er ein Papier in amtlichem Format aus dem Gürtel zog. »Gestern hat man Sie gesehen, diese Ankündigung ist von heute datiert: Sie sehen, wie mächtig die Leute sind, die sich für Lucien interessieren.«

Beim Anblick dieses Papiers schüttelte das krampfhafte Zittern, das einen bei einem unverhofften Glück überfällt, Esther so unverkennbar, daß ihr ein starres Lächeln, wie es die Irren zeigen, auf die Lippen trat. Der Priester hielt inne und blickte dieses Kind an, um zu sehen, ob es, der furchtbaren Kraft, die verdorbene Leute ihrer Verderbtheit selber entnehmen, beraubt und beschränkt auf seine gebrechliche und zarte ursprüngliche Natur, so vielen Eindrücken Widerstand leisten würde. Als betrügerische Kurtisane hätte Esther Komödie gespielt; war sie aber wieder unschuldig und wahr geworden, so konnte sie sterben, wie ein operierter Blinder das Gesicht wieder verlieren kann, weil ein zu scharfer Strahl in sein Auge fällt. Dieser Mensch tat also in diesem Augenblick einen tiefen Blick in das menschliche Wesen; aber er verharrte in einer durch ihre Starrheit furchtbaren Ruhe: wie eine kalte, weiße, dem Himmel benachbarte Alp, die unveränderlich und steil aufragt mit ihren granitenen Flanken und doch wohltätig ist. Dirnen sind wesentlich bewegliche Wesen, die aus stumpfestem Mißtrauen zum unbedingten Vertrauen übergehen. Sie stehen in dieser Hinsicht noch unter dem Tier. Sie sind in allem übertrieben: in ihren Freuden, in ihrer Verzweiflung, in ihrer Religiosität und sind vollkommen durch jenen Durst nach der idealen Schönheit zu erklären, der alle Schaffenden auszeichnet. Heißt es nicht ein wenig den Engeln gleichen, die beauftragt sind, die Sünder zu besseren Gesinnungen zurückzuführen; heißt es nicht schaffen, wenn man ein derartiges Wesen reinigt? Wie verlockend, die moralische Schönheit mit der physischen Schönheit in Einklang zu bringen! Welcher Genuß des Stolzes, wenn es gelingt! Welche schöne Aufgabe, wenn man kein anderes Werkzeug besitzt als die Liebe! Solche Bündnisse, berühmt geworden durch die Beispiele des Aristoteles, des Sokrates, Platos, des Alkibiades, Cethegus und Pompejus, gründen sich auf die Empfindung, die Ludwig XIV. dazu trieb, Versailles zu erbauen, die die Menschen in alle verderblichen Unternehmungen stürzt: die Miasmen eines Sumpfes in eine duftende Insel zu verwandeln, umringt von frischem Wasser; auf einem Hügel einen See anzulegen, wie es der Fürst von Conti zu Nointel tat, oder Schweizer Ansichten zu Cassan, wie es der Generalpächter Bergerat unternahm. Kurz, da bricht die Kunst in die Moral ein.

Der Priester schämte sich, weil er dieser Zärtlichkeit erlegen war, und stieß Esther heftig zurück; sie setzte sich, gleichfalls beschämt, denn er sagte zu ihr: »Sie sind immer noch Kurtisane!« Und er schob den Brief kühl in seinen Gürtel zurück. Wie ein Kind, das nur einen einzigen Wunsch im Kopf hat, ließ Esther nicht ab, die Stelle des Gürtels anzustarren, hinter der der Brief stak. »Liebes Kind,« fuhr der Priester nach einer Pause fort, »Ihre Mutter war Jüdin, und Sie sind nicht getauft; aber Sie sind auch nie in die Synagoge geführt worden: Sie sind in der Vorhölle, in die die kleinen Kinder kommen … « »Die kleinen Kinder! … « wiederholte sie mit gerührter Stimme. »… Wie Sie in den Listen der Polizei stehen, als eine Ziffer außerhalb der menschlichen Wesen,« sagte der unerschütterliche Priester, indem er fortfuhr. »Wenn die Liebe, die Sie verstohlen sahen, Ihnen vor drei Monaten den Eindruck gab, als würden Sie geboren, so müssen Sie von heute an das Gefühl haben, als ständen Sie wirklich in Ihrer Kindheit; Sie müssen sich völlig verwandeln, und ich übernehme es, Sie unkenntlich zu machen. Zunächst werden Sie Lucien vergessen.«

Dieses Wort brach dem armen Mädchen das Herz; sie hob die Augen auf den Priester und schüttelte den Kopf; sie war nicht imstande zu reden, als sie von neuem im Heiland den Henker fand.

»Sie werden wenigstens darauf verzichten, ihn zu sehen,« sagte er. »Ich werde Sie in ein Kloster führen, in dem die Töchter der besten Familien ihre Erziehung erhalten; Sie werden dort katholisch werden, man wird Sie in der Übung der christlichen Gebräuche unterweisen, in der Religion unterrichten; Sie können es als gebildetes, keusches, reines, wohlerzogenes junges Mädchen verlassen, wenn … « (dieser Mensch hob den Finger und machte eine Pause), »wenn Sie die Kraft in sich fühlen, die Torpille hier zurückzulassen.« »Ach!« rief das arme Kind, für das jedes Wort gleichsam der Ton einer Musik gewesen war, bei deren Klang sich langsam die Pforten des Paradieses öffneten; »ach, wenn es möglich wäre, hier mein ganzes Blut zu vergießen, um ein neues dafür zu erhalten! … « »Hören Sie mich an.« Sie verstummte. »Ihre Zukunft hängt von Ihrer Kraft, zu vergessen, ab. Denken Sie an die Ausdehnung Ihrer Verpflichtungen! Ein Wort, eine Geste, die die Torpille verriete, tötet Luciens Frau. Ein im Traum gesprochenes Wort, ein unwillkürlicher Gedanke, ein zuchtloser Blick, eine Bewegung der Ungeduld, eine Erinnerung an die Ausschweifungen, eine Unterlassung, ein Kopfnicken, das enthüllte, was Sie wissen oder was Ihnen zu Ihrem Unglück bekannt geworden ist … « »Lassen Sie, lassen Sie, mein Vater,« sagte das Mädchen mit der Glut einer Heiligen; »müßte ich in Schuhen aus glühendem Eisen gehen und lächeln, müßte ich in einem mit Stacheln besetzten Mieder leben und die Anmut einer Tänzerin bewahren, müßte ich mit Asche bestreutes Brot essen und Absinth trinken – alles wäre süß und leicht!«

Sie sank wieder auf ihre Knie; sie küßte dem Priester die Schuhe, brach über ihnen in Tränen aus und benetzte sie, umschlang seine Beine und schmiegte sich an sie, indem sie unter Freudentränen sinnlose Worte murmelte. Ihre schönen, wundervollen blonden Haare rieselten herab und breiteten sich wie ein Teppich zu den Füßen dieses Himmelsboten aus, den sie düster und hart fand, als sie sich erhob und ihn ansah.

»Wodurch habe ich Sie beleidigt?« sagte sie ganz entsetzt. »Ich habe von einer Frau gleich mir gehört, die Jesu Christi Füße mit Wohlgerüchen wusch. Ach, die Tugend hat mich so arm gemacht, daß ich Ihnen nur noch meine Tränen bieten kann.« »Haben Sie mich nicht verstanden?« erwiderte er mit grausamer Stimme. »Ich sage Ihnen, Sie müssen das Haus, wohin ich Sie führen werde, physisch und moralisch so verwandelt verlassen, daß keiner und keine von denen, die Sie gekannt haben, Ihnen je wieder ›Esther!‹ zurufen kann und Sie den Kopf zu wenden zwingt. Gestern hatte Ihnen die Liebe noch nicht die Kraft gegeben, das Freudenmädchen so tief zu vergraben, daß es nicht wieder aufgetaucht wäre; es taucht noch in der Anbetung auf, die nur Gott gebührt.« »Hat er Sie nicht zu mir geschickt?« fragte sie. »Wenn Sie während Ihrer Erziehung von Lucien bemerkt würden, so wäre alles verloren,« fuhr er fort, »bedenken Sie das.« »Wer wird ihn trösten?« fragte sie. »Worüber haben Sie ihn hinweggetröstet?« fragte der Priester mit einer Stimme, in der zum erstenmal während dieser Szene ein nervöses Falten unseres Herzens verborgen sind und die an uns zehren! … Ich weiß nur zu gut, was mir fehlt.« »Nun also wissen Sie, wie Sie nächsten Sonntag aussehen müssen,« sagte der Priester, indem er aufstand. »O lehren Sie mich«, sagte sie, »ein echtes Gebet, ehe Sie gehen, damit ich Gott anflehen kann.«

Es war rührend anzusehen, als dieser Priester dieses Mädchen das Ave-Maria und das Paternoster auf Französisch hersagen ließ.

»Das ist herrlich!« sagte Esther, als sie diese beiden wunderbaren und beliebten Ausdrücke des katholischen Glaubens fehlerlos gesprochen hatte. »Wie heißen Sie?« fragte sie den Priester, als sie ihm Leb wohl sagte. »Carlos Herrera; ich bin Spanier und aus meinem Lande verbannt.« Esther ergriff seine Hand und küßte sie. Es war keine Kurtisane mehr, sondern ein Engel, der von einem Sturz aufstand.

In einem Hause, das wegen der aristokratischen und religiösen Erziehung, die dort erteilt wird, berühmt ist, bemerkten die Pensionärinnen im März des Jahres eines Montags morgens, daß ihre hübsche Schar um eine Ankömmlingin vermehrt war, deren Schönheit nicht nur unbestreitbar über ihre Gefährtinnen triumphierte, sondern auch über die einzelnen Schönheiten, die eine jede von ihnen in vollkommenem Grade besaß. In Frankreich ist es äußerst selten, um nicht zu sagen unmöglich, daß man die berühmten dreißig Schönheiten beisammen findet, die, wie man sagt, eine in persischen Versen im Serail eingemeißelte Inschrift aufzählt und die notwendig sind, damit eine Frau vollkommen schön sei. In Frankreich gibt es wenig Gesamtschönheiten; es gibt nur entzückende Einzelheiten. Was die imponierende Gesamtschönheit angeht, wie die Skulptur sie wiederzugeben sucht und wie sie sie auch in einigen seltenen Schöpfungen, zum Beispiel erstaunt war; er, den nichts in der Welt überraschen zu sollen schien; und die Oberin wünschte ihm Glück zu seinem Mündel. Diese Frauen waren in ihrer ganzen Unterrichtslaufbahn nie einem liebenswürdigeren Naturell, einer christlicheren Sanftmut, einer echteren Bescheidenheit und einer so großen Lernbegier begegnet. Wenn ein Mädchen die Leiden durchgemacht hat, die die arme Zöglingin überwältigt hatten, und wenn sie dabei einen Lohn erwartet, wie der Spanier ihn Esther bot, so kann sie kaum anders als jene Wunder der ersten Tage der Kirche verwirklichen, die die Jesuiten in Paraguay erneuerten.

»Sie ist erbaulich,« sagte die Oberin, indem sie ihr die Stirn küßte. Dieses wesentlich katholische Wort sagt alles.

Während der Erholungsstunden fragte Esther ihre Gefährtinnen maßvoll nach den einfachsten Dingen der großen Welt aus, und sie weckten in ihr etwas wie das erste Staunen eines Kindes über das Leben. Als sie erfuhr, daß sie am Tage ihrer Taufe und ihrer ersten Kommunion weißgekleidet gehen würde, daß sie ein Stirnband aus weißem Satin, weiße Bänder, weiße Schuhe und weiße Handschuhe erhalten und weiße Schleifen im Haar tragen sollte, da brach sie mitten unter ihren erstaunten Gefährtinnen in Tränen aus. Es war das Gegenteil der Szene Jephthas auf dem Berge. Die Kurtisane fürchtete, durchschaut zu werden; sie schob ihre furchtbare Melancholie auf die Freude, die dieses Schauspiel ihr schon im voraus bereitete. Da es sicherlich ebensoweit ist von den Sitten, die sie aufgab, bis zu den Sitten, die sie annahm, wie vom Zustand eines Wilden bis zur Zivilisation, so hatte sie die Anmut, die Naivität und Tiefe, die die wunderbare Heldin der Puritaner von Amerika auszeichnen. Sie trug auch, ohne es zu wissen, eine Liebe im Herzen, die an ihr nagte, eine seltsame Liebe, ein Verlangen, heftiger bei ihr, die alles wußte, als es je bei einer Jungfrau ist, die nichts weiß, um diesen Kampf des Dämons mit dem Engel. Wenn die Oberin sie schalt, weil sie künstlicher frisiert war, als die Regel es wollte, so veränderte sie ihre Frisur mit anbetungswürdigem und schnellem Gehorsam; sie wäre bereit gewesen, sich das Haar abzuschneiden, wenn die Mutter es ihr befohlen hätte. Dieses Heimweh hatte bei einem Mädchen, das lieber umgekommen wäre als zurückgekehrt in die unreinen Lande, eine rührende Anmut. Sie wurde blaß, verwandelte sich, wurde mager. Die Oberin verkürzte ihren Unterricht und zog das interessante Geschöpf in ihre Nähe, um sie auszufragen. Esther war glücklich; es gefiel ihr unendlich unter ihren Gefährtinnen; sie fühlte sich in keinem vitalen Teil angegriffen, aber ihre Vitalität selber war angegriffen. Sie sehnte sich nach nichts zurück; sie wünschte nichts. Die Oberin war erstaunt über die Antworten ihrer Zöglingin, und sie wußte nicht, was sie von ihr denken sollte, als sie sie einer verzehrenden Sehnsucht zur Beute fallen sah. Man rief den Arzt, als der Zustand des jungen Mädchens ernst zu werden schien, aber dieser Arzt kannte Esthers Vorleben nicht und konnte sie nicht beargwöhnen: er fand überall Leben, das Leiden war nirgends. Die Krankheit warf alle Hypothesen um. Es blieb noch eine Art und Weise, die Zweifel des Gelehrten, der sich an einen furchtbaren Gedanken klammerte, aufzuklären: Esther weigerte sich hartnäckig, sich der Untersuchung des Arztes zu unterwerfen. In dieser Gefahr appellierte die Oberin an den Abbé Herrera. Der Spanier kam, sah Esthers verzweifelten Zustand und plauderte einen Augenblick abseits mit dem Arzt. Nach diesem Gespräch erklärte der Mann der Wissenschaft dem Mann des Glaubens, das einzige Mittel sei eine Reise nach Italien. Der Abbé wollte nicht, daß diese Reise vor Esthers Taufe und erster Kommunion stattfände.

»Wieviel Zeit brauchen Sie noch?« fragte der Arzt. »Einen Monat,« erwiderte die Oberin. »Dann ist sie tot,« versetzte der Doktor. »Ja, aber im Stand der Gnade und als Gerettete,« sagte der Abbé.

Die Frage der Religion beherrscht in Spanien die Fragen der Politik, des bürgerlichen und physischen Lebens; der Arzt gab also dem Spanier keine Antwort, er wandte sich zu der Oberin; aber der furchtbare Abbé ergriff ihn am Arm, um ihn zu hindern. »Kein Wort, Herr Doktor!« sagte er.

Der Arzt warf, obwohl er religiös und monarchisch gesinnt war, einen Blick voll zärtlichen Mitleids auf Esther. Dieses Mädchen war schön wie eine Lilie, die sich auf ihren Stengel neigt. »Wie Gott will, also,« sagte er und ging.

Noch am Tage dieser Konsultation wurde Esther von ihrem Gönner in den Rocher de Cancale geführt, denn der Wunsch, sie zu retten, hatte diesem Priester die seltsamsten Auskunftsmittel eingegeben; er versuchte es mit zwei Ausschweifungen: einem ausgezeichneten Diner, das das arme Mädchen an seine Orgien erinnern konnte, und der Oper, die ihr einige weltliche Bilder bot. Es bedurfte seiner überwältigenden Autorität, um die junge Heilige zu solchen Entweihungen zu überreden. Herrera verkleidete sich so vollkommen als Offizier, daß Esther ihn nur mit Mühe erkannte; er ließ seine Gefährtin einen Schleier nehmen und setzte sie in eine Loge, wo sie allen Blicken verborgen bleiben konnte. Dieses Linderungsmittel, das für eine so ernstlich zurückgewonnene Unschuld ungefährlich war, verlor bald seine Kraft. Die Zöglingin wurde von Ekel vor den Diners ihres Gönners, von religiösem Widerwillen gegen das Theater gepackt und sank in ihre Melancholie zurück.

›Sie stirbt vor Liebe zu Lucien,‹ sagte Herrera sich; er wollte die Tiefe dieser Seele sondieren und wissen, was man von ihr verlangen konnte.

Es kam also ein Augenblick, in dem dieses Mädchen nur noch durch seine moralische Kraft aufrechterhalten wurde und in dem der Körper versagen mußte. Der Priester berechnete diesen Augenblick mit dem grauenhaften Scharfsinn, den ehedem die Folterknechte entfalteten, wenn es galt, das Verhör zu beginnen. Er fand sein Mündel im Garten, wo sie am Gitter, das die Aprilsonne liebkoste, auf einer Bank saß; sie schien zu frieren und sich dort zu wärmen; ihre Gefährtinnen sahen voll Interesse auf diese Bleichheit welken Grases, auf diese Augen einer sterbenden Gazelle und auf ihre melancholische Haltung. Esther erhob sich und ging dem Spanier entgegen, und zwar mit einer Bewegung, die bewies, wie wenig Leben sie nur noch in sich hatte, und auch, sagen wir es, wie wenig Freude am Leben. Dieses arme Bohèmegeschöpf, diese verwundete wilde Schwalbe erregte zum zweitenmal Carlos Herreras Mitleid. Der düstere Priester, den Gott nur zur Erfüllung seiner Rache hätte verwenden dürfen, empfing die Kranke mit einem Lächeln, das ebensoviel Bitterkeit wie Süße enthielt, ebensoviel Rachsucht wie Erbarmen. Esther war seit ihrem nahezu klösterlichen Leben an das Nachdenken gewöhnt, an die Einkehr in sich selber, und jetzt empfand sie zum zweitenmal ein Gefühl des Mißtrauens beim Anblick ihres Gönners; aber wie beim erstenmal wurde sie von seinen Worten auf der Stelle beruhigt.

»Nun, mein liebes Kind,« sagte er, »weshalb haben Sie mir nie von Lucien gesprochen?« »Ich hatte Ihnen versprochen,« erwiderte sie, während sie in krampfhafter Bewegung vom Kopf bis zu den Füßen erbebte, »ich hatte Ihnen geschworen, diesen Namen nicht mehr auszusprechen.« »Trotzdem aber haben Sie nicht aufgehört, an ihn zu denken.« »Das ist mein einziger Fehler. In jeder Stunde denke ich an ihn; als Sie sich zeigten, sagte ich diesen Namen vor mich hin.« »Die Trennung tötet Sie?«

Statt aller Antwort neigte Esther den Kopf, wie es die Kranken tun, die schon die Grabesluft riechen. »Ihn wiedersehen?« fragte er. »Das wäre das Leben,« erwiderte sie. »Denken Sie nur mit der Seele an ihn?« »Ach, die Liebe läßt sich nicht teilen.« »Tochter des verfluchten Geschlechts! Ich habe alles getan, um dich zu retten; ich überlasse dich deinem Schicksal: du sollst ihn wiedersehen!« »Weshalb sollten Sie mein Glück schmähen? Kann ich nicht Lucien lieben und doch die Tugend üben, die ich ebensosehr liebe wie ihn? Bin ich nicht bereit, hier für sie zu sterben, wie ich bereit wäre, für ihn zu sterben? Will ich nicht umkommen in diesem doppelten Fanatismus: für die Tugend, die mich seiner würdig machte, für ihn, der mich der Tugend in die Arme warf? Ja, bereit zu sterben, ohne ihn wiederzusehen; bereit zu leben, wenn ich ihn wiedersehe. Gott wird mich richten.« Ihre Farbe war zurückgekehrt; ihre Blässe hatte einen goldigen Ton angenommen. Esther wurde noch einmal begnadigt.

»Am Tage, nach dem Sie im Wasser der Taufe gebadet werden, sollen Sie Lucien wiedersehen, und wenn Sie glauben, tugendhaft leben zu können, indem Sie für ihn leben, so sollen Sie sich nicht mehr trennen.«

Der Priester mußte Esther aufheben, da ihr die Knie versagten. Das arme Mädchen war gestürzt, als hätte der Boden unter ihren Füßen nachgegeben; der Abbé setzte sie auf die Bank, und als sie die Sprache wiederfand, sagte sie: »Weshalb nicht heute?« »Wollen Sie Seiner Hochwürden den Triumph Ihrer Taufe und Bekehrung rauben? Sie sind Lucien zu nah, um Gott nicht fern zu sein.« »Ja, ich dachte an nichts mehr!« »Sie werden nie irgendeiner Religion angehören,« sagte der Priester mit einer Regung tiefer Ironie. »Gott ist gut,« erwiderte sie; »er liest in meinem Herzen.«

Besiegt von der entzückenden Naivität, die in Esthers Stimme, Blick, Gesten und Haltung durchbrach, küßte Herrera sie zum erstenmal auf die Stirn. »Die Wüstlinge hatten dir mit Recht deinen Namen gegeben: du würdest Gott, den Vater, verführen. Noch ein paar Tage, es ist nötig, und nachher sollt ihr alle beide frei sein.« »Alle beide!« wiederholte sie in ekstatischer Freude.

Diese aus der Ferne gesehene Szene setzte die Zöglinginnen und die Oberinnen in Erstaunen; sie glaubten einer Zauberverwandlung beizuwohnen, als sie Esther mit ihrem früheren Selbst verglichen. Das völlig verwandelte Kind lebte jetzt. Sie zeigte sich in ihrer wahren Liebesnatur, zierlich, kokett, lockend und lustig: kurz, sie war auferweckt.

Herrera wohnte in der Rue Cassette, dicht bei Saint-Sulpice, der Kirche, der er sich angeschlossen hatte. Dieser Bau sagte dem Spanier mit seinem harten und trockenen Stil zu, denn seine Religion hatte viel von der der Dominikaner. Als ein verlorener Posten der verschlagenen Politik Ferdinands VII. leistete er der konstitutionellen Sache schlimme Dienste, obwohl er wußte, daß diese Ergebenheit niemals ihren Lohn finden konnte, es sei denn bei einer Wiedereinsetzung des Rey netto. Und Carlos Herrera hatte sich in dem Augenblick, als es schien, daß die Cortes nicht mehr zu stürzen waren, mit Leib und Seele der Camarilla ergeben. Für die Welt verriet dieses Verhalten eine überlegene Seele. Der Feldzug des Herzogs von Angoulême war erfolgt, König Ferdinand herrschte, und Carlos Herrera ging nicht nach Madrid, um sich den Preis für seine Dienste zu holen. Gegen die Neugier verteidigte ihn ein diplomatisches Schweigen, und als Grund seines Aufenthalts in Paris führte er seine lebhafte Neigung zu Lucien von Rubempré an, der der junge Mann bereits die Ordonnanz des Königs über seinen Namenswechsel verdankte. Herrera lebte übrigens, wie der Tradition nach alle Priester leben, die in geheimen Missionen Verwendung sein würde. Diese Fragen derer, die einen Blick auf den lange verheimlichten Bund werfen konnten, strebten danach, ein furchtbares Geheimnis zu durchschauen, das auch Lucien erst seit wenigen Tagen kannte. Carlos war für zwei ehrgeizig; das zeigte sein Verhalten denen, die ihn kannten und die alle glaubten, Lucien sei ein natürliches Kind dieses Priesters.

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24 eylül 2025
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5250 s. 1 illüstrasyon
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9782378980993
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