Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 31

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Er wandte den Kopf scharf weg und erblaßte. Es war ihm übel vor Entsetzen. Ihm war, als hätte er sich blutschänderisch besudelt.

»Jetzt ist's aber genug!« sagte Miss Brown streng. »Geh auf Dein Zimmer und schlaf Dich aus!«

Aber – anders als jene erste in der Tabakstadt – nannte sie ihn nie »Sohn«.

»Arme Butterfly, es brach ihr das Herz, oh

Arme Butterfly, denn sie liebte ihn so-o-o …«

Miss Irene Mallard wechselte die Nadel an dem kleinen Grammophon und legte die andre Seite der abgespielten Schallplatte auf. Als die gravitätische, nachdrücklich-rhythmische Melodie von »Katinka« erklang, stand sie da: aufrecht, lächelnd, schlank und schön. Die langen, lieblichen Hände wie Flügel erhoben, wartete sie auf seine Umarmung. Sie lehrte ihn tanzen. Laura James hatte wundervoll getanzt; es hatte ihn wahnsinnig gemacht, sie beim Tanze in den Armen eines jungen Mannes zu sehn. Und nun bewegte er sich steif und täppisch, zählte ein-zwei-drei-vier, schwankte schwerfällig auf dem linken Fuß. Irene Mallard schwebte, fast körperlos wie eine Rauchsäule, unterm Druck seines unbeholfen steuernden Arms. Gewichtlos wie ein Vogel war ihre Linke auf seine knochige rechte Schulter gesetzt; die kühlen Finger ihrer Rechten lagen auf dem heißen Handteller seiner Linken, die auf- und abging, als sägte er die Luft.

Sie hatte dichtes, eichenholzfarbnes Haar, in der Mitte gescheitelt. Ihre Haut war perlenblaß und von durchsichtiger Feinheit. Ihr Kinn war lang, voll und sinnlich – sie war ein reiner präraffaelitischer Typ. Sie hielt sich wunderbar aufrecht, war sehr graziös; aber in ihrem ganzen Wesen war etwas Zerbrechliches und Müdes. Ihre schönen Augen hatten die Farbe von Veilchen; sie waren ein wenig traurig und voll von langsamer Verwunderung und Zärtlichkeit. Sie war wie eine Luinimadonna, himmlisch und irdisch, heilig und verführerisch zugleich. Er hielt sie in ehrfurchtsvoller Vorsicht umfangen, wie einer, der nicht zu nahe zu kommen wagt aus Angst, ein geweihtes Bild zu zerbrechen. Ihr köstliches, feines Parfüm flüsterte ihm etwas Verstohlnes, etwas von heidnischer Heiligkeit zu. Er hatte Angst, sie zu berühren, und seine heiße, nervöse Hand schwitzte ihre kühlen Finger feucht.

Manchmal hustete sie leis, lächelte, hielt ein zerknülltes, kleines blaugerändertes Taschentuch an den Mund.

Sie war nicht wegen ihrer eignen Gesundheit ins Gebirg gekommen, sondern wegen ihrer Mutter, die an Asthma litt und herzkrank war. Die Mutter war fünfundsechzig; sie trug verschossene, altmodische Kleider und machte die ewig trübselige Miene alter Leute, die ständig krank sind. Sie waren aus Florida. Irene Mallard war eine tüchtige Geschäftskraft; sie bekleidete den Oberbuchhalterposten in einer Altamonter Bank. Jeden Abend rief der Bankpräsident Randolph Gudger bei ihr an. Irene Mallard legte die Hand auf die Schallmuschel des Telephonhörers, lächelte Eugen ironisch an und verdrehte die Augen. Manchmal fuhr Randolph Gudger in seinem Auto vor, um sie zu einer Spazierfahrt einzuladen. Eugen zog sich mürrisch zurück, bis der reiche Mann wieder abgezogen war. Der Bankier sah ihm mit bittern Blicken nach.

»Er macht mir dauernd Heiratsanträge«, sagte Irene Mallard. »Was soll ich nur tun?«

»Er ist alt genug, um Dein Großpapa zu sein«, sagte Eugen. »Hat 'ne Glatze, falsche Zähne und wer weiß, was sonst alles nicht stimmt.«

»Aber er ist reich, Eugen«, sagte Irene Mallard. »Das muß auch in Betracht gezogen werden.«

»Los, dann los! Vorwärts geheiratet! Heirate ihn und verkauf Dich!« rief er wütend. Und mit dramatischem Pathos sagte er: »Dieser Greis!« Randolph Gudger war fünfundvierzig Jahre alt.

Und so tanzten sie im Wintergarten, im grauen Zwielicht, das schmerzlich schön war wie das Licht unter der See, in dem sein Ich schwamm, ein Meerwesen, verloren und der Verbannung eingedenk. Und im Tanz gab sie, die er nicht zu berühren wagte, sich ihm körperlich hin, flüsterte ihm leis ins Ohr, preßte die schlanken Finger seiner heißen Hand. Ja, sie, die er nicht anrühren wollte, lag wie eine Garbe in seinem gewinkelten Arm, in tausendfach wandelbaren Formen des Trosts und Entzückens schön: Heilmittel und Gnadenzeichen der Welt, Zuflucht vor dem einen verlornen Gesicht unter allen Gesichtern, Linderung für jene Wunde, die Laura hieß. Der große Maskenzug von Stolz und Schmerz und Tod zog an seiner Schau vorbei durch die Dämmerung und berührte seinen Kummer mit einer einsamen Freude. Er hatte verloren und hatte seinen Verlust tragen gelernt; die ganze Pilgerfahrt über die Erde war Verlust; ein Augenblick des Zusammenhängens, ein Augenblick der Trennung, das Winken von tausend phantomischen Schatten und der hohe, leidenschaftslose Kummer der Sterne.

Es war dunkel. Irene Mallard nahm ihn bei der Hand und führte ihn nebenan auf die Terrasse.

»Setz Dich einen Augenblick hierher zu mir, Eugen, ich möchte mit Dir sprechen.« Gehorsam nahm er neben ihr auf der Sitzschaukel Platz; er ahnte, wovon sie reden würde.

»Ich hab Dich in diesen letzten Tagen ein bißchen überwacht, Eugen«, sagte Irene Mallard. »Ich weiß, was Du treibst.«

»Was meinst Du?« fragte er heiser. Sein Puls schlug heftig.

»Das weißt Du ganz genau«, sagte Irene Mallard streng. »Nun hör mal, Eugen. Du bist ein viel zu feiner Kerl, um Dich an so ein Frauenzimmer zu hängen. Jeder Mensch sieht doch, zu was für einer Sorte sie zählt. Meine Mutter hat mir auch davon gesprochen. So eine Person kann einen Jungen wie Dich ruinieren. Du mußt aufhören damit.«

»Wie hast Du es erfahren?« murmelte er. Er war verschüchtert und beschämt. Sie nahm seine zitternde Hand und hielt sie mit ihren kühlen Fingern, bis er ruhiger wurde. Aber er rückte nicht näher zu ihr; er hielt Abstand aus Angst vor ihrer Schönheit. Ganz wie Laura James schien sie ihm zu hoch für körperliche Leidenschaft, er fürchtete sich vor ihrem Fleisch; aber vorm Fleisch der sogenannten Miss Brown war ihm nicht im geringsten bange. Nun war er dieser Person müde und wußte nicht, wie er sie bezahlen sollte; sie hatte alle seine Medaillen.

Durch den ganzen Spätsommer ging er mit Irene Mallard. Nachts bummelten sie auf kühlen Straßen im Rauschen des angewelkten Laubs. Sie gingen zusammen auf das Hoteldach tanzen. Später kam Pap Reinhart zu ihnen an den kleinen Tisch; er war scheu und gütig und linkisch und roch nach seinem Reitpferd. Sie saßen und tranken. Pap war in den letzten Jahren, nachdem er Leonards Schule verlassen hatte, auf eine Militärakademie gegangen und hatte sich bemüht, seinem komisch verrenkten Hals eine gerade Haltung beizubringen. Aber er blieb immer derselbe: ein drollig-trockner, gutmütiger Spötter. Eugen sah ihm gern in das gute, scheue Gesicht und dachte an die verlornen Jahre, an die verlornen Gesichter. Und ein Kummer befiel sein Herz um all das, was nicht wiederkommen würde.

Der August endete. Der September kam. Die Luft war voll von schwirrenden Zugvögelschwingen, die Welt voll von Abschied. Die Trommel schlug zum Streite, und junge Männer zogen ins Feld. Ben war abermals in der Musterung zurückgewiesen worden. Er dachte daran, sich in anderen Städten sein Brot zu verdienen. Lukas hatte eine Anstellung in einer Munitionsfabrik in Dayton in Ohio aufgegeben und war in die Marine eingetreten. Er erschien zu einem kurzen Heimaturlaub, ehe er zu einem Ausbildungskurs nach Newport in Rhode-Island ging. Die Straßen brüllten vor Lachen, wenn er mit seinem vulgären Schritt angesegelt kam, in flappenden Hosen, mit grinsendem Gesicht, die dicken, widerspenstigen Locken unter der Matrosenmütze hervorquellend: ganz der »Blaue Junge«, wie er im Witzblatt steht.

»Lukas!« schrie Mister Fawcett, der Landauktionär, und zog ihn am Ärmel von der Straße in Woods große Drogerie. »Bei Gott, Sohn, Du hast Dein Bestes getan! Ich lade Dich auf 'nen Trunk ein. Was möchtest Du?«

»Ein Glas Coca-Cola«, sagte Lukas. »Ihr Wohl, Colonel!« Er hob das frostbeschlagne Glas mit einer heftig zitternden Hand, stand nervös vor der grinsenden Bargesellschaft. »V-v-vor v-v-vierzig Jahren«, sagte er heiser, »würde ich dieses Ansinnen abgelehnt haben, aber nun, bei Go-go-gott!, ka-ka-kann ich's nicht.«

Die Krankheit hatte Gant mit verstärkter Heftigkeit angefallen. Sein Gesicht war hager und gelb. Er tatterte vor Schwäche. Es war beschlossen, daß er wieder nach Baltimore müsse. Helene sollte ihn begleiten.

»Hör mal«, versuchte Eliza ihn zu überreden, »warum gibst Du nicht Deinen Betrieb auf, um Dich auf den Rest Deiner Tage zur Ruhe zu setzen? Du bist nicht mehr gesund genug, um Dein Geschäft richtig zu verstehn. Ich an Deiner Stelle würde mich zurückziehn. Das Geschäftshaus könnten wir jederzeit für zwanzigtausend Dollar verkaufen. Wenn ich so viel Kapital in der Hand hätte, um es arbeiten zu lassen, dann würde ich den Leuten was zeigen.« Sie nickte forsch, zwinkerte schlau. »Ja, ja, das Kapital könnte man zwei- oder dreimal in den nächsten zwei Jahren umsetzen. Heutzutag muß man im Handel schnell sein, so daß der Ball im Rollen bleibt. Verstehst Du? Das ist die Art, Geld zu machen!«

»Barmherziger Heiland!« stöhnte er. »Die Werkstatt ist meine letzte Zuflucht auf Erden! Weib! Hast Du denn gar keine Spur von Mitgefühl? Ich flehe Dich an: laß mich in Ruhe sterben, es dauert ja nicht mehr lang. Nachher kannst Du mit dem Zeug machen, was Du willst. Aber laß mir ein bißchen Frieden. In Jesu Namen, ich bitte Dich drum.« Er schnüffelte, als wolle er weinen.

»I wo«, sagte Eliza, vermutlich in der Hoffnung, ihn aufzumuntern. »Dir fehlt ja kaum was. Gut die Hälfte ist nichts wie Einbildung.«

Er stöhnte, wandte sich ab.

Der Sommer starb auf den Bergen. Ein Hauch von Rostrot, kaum merklich, lag auf dem Laub. Die nächtlichen Straßen waren voll von traurigem Gelispel. Die ganze Nacht hindurch, schlafsüchtig auf seiner Altane, lauschte Eugen auf die seltsamen Herbstlaute. Und alle die vielen Geräusche, die das helle, heiter drängende Sommerleben in die Stadt gebracht hatte, waren merkwürdigerweise wie über Nacht verschollen. Die Fremden waren in den weiten Süden heimgekehrt. Die ganze Nation war vom feierlichen Ernst und der Spannung des Kriegs bestrickt. Eugen hatte das Gefühl, in einem grimmig-grauen Zwielicht zu leben. Ihm war, als sei die Freude gestorben, und er spürte, wie tastend der Glaube an Wunder und Ruhm in ihm erwachte. Das Land erholte sich aus dem ziellosen, unordentlichen Taumel der ersten Kriegsmonate und fing an, die großen Maschinen aufzubauen: – Maschinen, um Haß und Falschheit zu mahlen und durch Druck zu verbreiten – Maschinen, um die Ruhmsucht aufzupumpen – Maschinen, um die Opposition zu knebeln und zu zerstampfen – Maschinen, um junge Männer regimentsweise zu drillen.

Aber etwas von echtem Wunder war über die Nation gekommen. Die Flammengarben und Leuchtraketen der Schlachtfelder warfen ihren Widerschein über die weiten Ebnen. Junge Männer aus Kansas sollten in der Pikardie fallen. Irgendwo, noch Erz in fremder Erde, lag das Eisen, das sie erschlagen sollte. Das Bewußtsein der unbekannten Mächte Schicksal und Tod war plötzlich auf Gesichtern zu lesen, auf denen sonst nichts Besondres zu lesen stand … und die Vereinigung des Fremdartigen mit dem Alltäglichen ist es ja, die das Wunder bewirkt.

Lukas war zu seinem Ausbildungskursus nach Newport gefahren. Ben begleitete Helene und Gant nach Baltimore. Gant hatte sich, ehe er sich im Hospital zur Radiumbehandlung einstellte, noch einmal tüchtig der Sauferei ergeben. Sie wurden aus dem Hotel rausgeschmissen und mußten in ein andres ziehn. Schließlich lag der Alte erschöpft auf seinem Bett, stöhnte und verpuffte in gotteslästerlichen Flüchen die Kraft, die er viel lieber aufgespart hätte, um Dutzende frischer Austern mit Bier und Whisky durcheinander herunterzuwaschen. Sie tranken alle ziemlich viel, Gants Unmaß jedoch war derart, daß Ben sich davor ekelte und Helene darüber in rasenden Zorn versetzt wurde.

»Verdammter Alter!« schrie Helene, packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Ich könnte Dich prügeln! Nicht Du bist krank, sondern ich bin's, und Du hast mich krank gemacht. Du wirst noch leben, wenn ich längst unterm Rasen liege, Du selbstsüchtiger, alter Kerl! Es macht mich rasend, so was!«

Er lag stinkbesoffen und gleichgültig auf dem unordentlichen Bett.

»Aber Baby!« grölte er und fuchtelte mit den Armen in der Luft herum. »Gott soll Dich schützen. Ohne Dich könnte ich nicht leben!«

»Sag nicht Baby zu mir!« schrie sie.

Aber am nächsten Tag, als sie ins Hospital fuhren, hielt sie seine Hand. In der Tür blieb er stehn, sah sich um, schaute lange auf die Stadt hinunter.

»Hier war ich als Junge!« murmelte er traurig.

»Mach Dir keine Gedanken«, tröstete sie. »Es wird alles wieder heil. Du wirst wieder ganz wie ein Junge sein.«

Hand in Hand traten sie in die Wandelhalle, wo – flankiert von Tod und Schrecken, umhuscht von der geschäftigen Sachlichkeit der Pflegerinnen und den hurtigen Schatten der stillen Männer mit den grauen Gesichtern und den kleinen bohrenden Augen, die so sicher zwischen gebrochnen Leben einhergehn – die Arme in einer Gebärde ungeheuren Mitleids gebreitet, vielmals größer als Gants größter Engel, ein Standbild des lieben Herrn Jesus steht.

Eugen besuchte die Leonards mehrere Male. Margaret sah dünn und krank aus, aber das große Licht schien deshalb umso heller zu brennen. Nie zuvor hatte ihn ihre ruhige Geduld, die große Gesundheit ihres Geistes so beeindruckt. All seine Sünden, all seine Schmerzen, alle Trübsal und Seelenqual waren ausgetilgt vor der Strahlenkraft dieses Leuchtens. Der Tumult und das Böse fielen von ihm ab wie ein schmutziger, zerschlissener Mantel; ihm war, als stünde er in neuen, nahtlosen Gewändern aus Licht.

Aber von dem, was ihm das Herz bedrückte, konnte er wenig gestehn. Er hätte gern gebeichtet, sich entlastet, sich befreit – aber er wußte im voraus, daß er nicht davon reden könne, daß sie ihn nicht verstehn würde. Sie war zu weise für alles außer dem Glauben. Einmal, ganz verzweifelt, wollte er zu ihr von Laura sprechen. Er platzte linkisch heraus. Noch ehe er ein paar Worte gesagt hatte, fing sie an zu lachen und rief ihrem Gatten zu:

»Stell Dir diesen Burschen mit einem Mädchen vor! Ei was, Junge? Du hast ja keine Ahnung, was Liebe ist! Schlag Dir das aus dem Sinn und denk in zehn Jahren mal wieder dran!«

Sie lachte zärtlich vor sich hin mit einem geistesabwesenden, von Tränen vernebelten Blick.

»Der alte Eugen mit einem Mädchen! Das arme Ding, man muß ja Mitleid mit ihm haben! Lieber Gott, Junge, damit hat es noch lange Zeit. Dank Deinen Sternen dafür!«

Er neigte schnell den Kopf und schloß die Augen. O Du, meine liebste Heilige, dachte er, wie nah bist Du mir gewesen, wenn je überhaupt ein Mensch mir nah war! Wie habe ich mein Denken bloßgelegt, damit Du mich sehen solltest! Und wie gern hätte ich mein Herz bloßgelegt, wenn ich's gewagt hätte! … Und wie sehr bin ich allein, wie sehr bin ich immer allein gewesen.

Nachts ging er mit Irene Mallard spazieren. Die Stadt war trübselig und abschiedsöde; ein paar Leute gingen vorüber, von kurzen Windstößen vorwärts gepufft. Ihre feine Müdigkeit hielt ihn im Bann. Sie gab ihm Trost, und er rührte sie nie an. Aber er entlud sein Herz vor ihr, zitternd und leidenschaftlich. Sie saß neben ihm und streichelte seine Hand. Es schien ihm, als ob er sie nie gekannt hätte, bis er sich Jahre später an sie erinnerte.

Dixieland stand fast leer. Abends packte Eliza umständlich seinen Koffer. Befriedigt zählte sie die gebügelten Hemden und die gestopften Socken.

»Nun hast Du genug gute, warme Sachen, Sohn. Gib acht drauf!«

Sie steckte Gants Scheck in seine innere Brusttasche und machte die Tasche mit einer Sicherheitsnadel fest.

»Paß mir scharf auf das Geld acht, Junge! Man weiß nie, wer mit einem im Zug fährt.«

Er trödelte nervös zur Tür, er wollte sich das Abschiednehmen sparen und sich drücken.

»Mir scheint doch, Du könntest wenigstens einen Abend zu Haus bei Deiner Mutter verbringen«, sagte sie streitsüchtig. Ihre Augen waren naß, ihr Mund verzog sich zum bebenden Lächeln des Selbstmitleids. »Ich will Dir was sagen, es sieht sehr komisch aus, nicht wahr? Du kannst keine fünf Minuten bei mir bleiben, ohne daß Du mit der erstbesten Frau ausreißen möchtest. Es ist schon recht, schon recht! Ich beklage mich nicht. Mir scheint nur, daß Kochen und Nähen und Kofferzurechtmachen das einzige ist, wozu ich gut bin.« Sie brach geflissentlich in Tränen aus. »Sonst bin ich Dir zu nichts gut! Ich hab Dich den ganzen Sommer nicht einmal richtig ansehn können.«

»Nein«, sagte er bitter. »Du hattest zuviel zu tun, um nach Deinen Kostgängern zu sehn. Glaub doch nicht, Mama, daß Du mir nun in letzter Minute zusetzen kannst«, rief er, dessen Gefühle bereits ganz von ihr verwirrt waren. »Tränen sind billig! Ich war die ganze Zeit da, und Du hattest nie Zeit für mich. Um Gottes willen, mach Schluß damit! Es steht ohnehin schlimm genug um uns. Mußt Du Dich denn jedesmal so aufspielen, wenn ich wegfahre? Willst Du mich so elend machen, wie es nur möglich ist?«

Elizas Augen waren sofort trocken.

»Also, ich will Dir was sagen«, begann sie hoffnungsvoll. »Wenn ich ein paar Geschäfte abschließe und die Sache gut geht, dann kann es sehr wohl sein, daß Du mich in einem großen, feinen Haus findest, wenn Du nächstes Frühjahr wieder kommst. Das Grundstück ist schon ausgesucht; ich habe mir kürzlich erst die Sache wieder überlegt …«, gestand sie mit verständnisinnigem Kopfnicken.

»Ach!« Er fauchte und riß an seinem Halskragen. »In Gottes Namen, ich bitte Dich!«

Sie schwieg.

»Also, ich wünsche, daß Du brav bist und fleißig studierst. Und gib auf Dein Geld acht! Gut und genug zu essen und warme Kleider, das brauchst Du. Aber verschwenden darfst Du nicht! Die Krankheit Deines Vaters hat einen Haufen Geld gekostet. Und das Geld geht überhaupt an allen Ecken und Enden hinaus, und nichts kommt ein. Niemand weiß, wo der nächste Dollar herkommt. Also Du mußt sparsam sein.«

Sie schwieg, sie hatte ihr Sprüchlein aufgesagt. Sie war ihm so nah gekommen, wie sie konnte, und nun plötzlich stand sie sprachlos da, ausgeschlossen, ausgesperrt aus dem bittren Geheimnis seines Lebens.

»Es ist mir schrecklich, daß Du weggehst, Sohn«, sagte sie ganz still aus einer tiefen, unergründlichen Traurigkeit.

Gequält reckte er die Arme.

»Und was macht es schon aus! O Gott! Was macht es aus!«

Elizas Augen standen voll Tränen. Es tat ihr wirklich weh. Sie griff nach seiner Hand und hielt sie.

»Versuch es, glücklich zu sein, Sohn!« weinte sie. »Versuch es, ein bißchen glücklicher zu sein. Armes Kind! Armes Kind! Kein Mensch hat Dich je gekannt. Eh Du geboren wurdest …« Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme war schmerzbeklommen, tränenerstickt. Dann räusperte sie sich und wiederholte leise: »Eh Du geboren wurdest …«

XXXII

Es war sein zweites Studienjahr. Als er nach Pulpit Hill zurückkehrte, hatte sich dort alles nüchtern und säuberlich auf Krieg eingestellt. Die Universität war still und traurig; es waren weniger Studenten da, und sie waren jünger, denn die älteren waren fast alle eingezogen. Die Studenten lebten in einem Zustand wilder, jedoch unterdrückter Ruhlosigkeit. Sie scherten sich nichts um Kurse, Karriere, Erfolg. Das triumphante Nun des Kriegs hatte sie erschüttert. Was für einen Sinn hatte das Morgen? Was für einen Sinn hatte es, auf das Morgen zu arbeiten? Vom erschütternden Radau der großen Kanonen waren alle feingesponnenen Lebenspläne zerrissen; das Ende aller Arbeit, die einem weitgesteckten Ziele galt, wurde mit wilder, mit heimlicher Freude begrüßt. Das Erziehungs- und Bildungsgeschäft wurde nur halbherzig betrieben, mit einem zerstreuten, geistesabwesenden Blick. Sie saßen in den Klassen, die Augen ungenau auf ein Buch gerichtet, die Ohren aber scharf gespannt auf irgendeinen Alarm, der von draußen kommen könnte.

Eugen fing das Jahr sehr ernst an, als Zimmergenosse eines jungen Mannes, der Primus in der höheren Schule in Altamont gewesen war. Er hieß Bob Sterling. Er war neunzehn Jahre alt, der Sohn einer Witwe. Er war mittelgroß, immer nett und sauber angezogen; es war nichts Auffälliges an ihm. Aus diesem Grunde konnte er sichs leisten, gutmütig und ein wenig spießerhaft über alles Auffällige zu lachen. Er hatte einen tadellosen Verstand: hell, wach, beflissen und ohne eine Spur von Originellem oder Erfinderischem. Für alles gab es bei ihm eine festgesetzte Zeit. Ein Teil seiner Stunden war der Vorbereitung des Lehrstoffs gewidmet: er ging jede Aufgabe dreimal durch und murmelte sie schnell vor sich hin. Pünktlich jeden Montag schickte er seine Wäsche zur Waschanstalt. Wenn er in lustige Gesellschaft geriet, lachte er herzhaft mit den anderen und war vergnügt; stets aber war er zeitbedacht. Er sah auf die Uhr, erklärte: »Na, das ist zwar alles recht schön, aber die Arbeit bleibt dabei ungetan«, und ging.

Jedermann sagte, daß Bob Sterling eine glänzende Zukunft habe. Gutmütig-ernst ermahnte er Eugen wegen seiner Gewohnheiten. Er solle nicht seine Kleider überall herumliegen lassen. Er solle seine schmutzigen Hemden und Untersachen rechtzeitig zur Wäscherei schicken. Er solle sich zu festgesetzten Stunden auf seine Kurse vorbereiten. Er solle mit einer regelmäßigen Zeiteinteilung leben.

Sie wohnten in einem Privatquartier am Rande des Kampus, einem großen, hellen Zimmer, dessen Wände Bob Sterling mit Universitätswimpeln drapiert hatte.

Bob Sterling war herzleidend. Wenn er die Treppe gestiegen war, dann kam er nach Luft schnappend oben an. Eugen machte ihm die Tür auf. Bob Sterlings angenehmes, mit fahlen Sommersprossen gesprenkeltes Gesicht war dann totenbleich. Seine Lippen bebten und waren blau.

»Was ist los, Bob? Ist Dir schwach?« fragte Eugen.

»Komm mal her!« sagte Bob Sterling grinsend. »Leg mal Dein Ohr auf meine Brust!« Er nahm Eugens Kopf und drückte ihn an sein Herz. Die große Pumpe ging langsam und unregelmäßig, mit einem zischenden Geräusch, als ob Luft entwiche.

»Guter Gott!« rief Eugen aus.

»Gelt, da hörst Du's!« sagte Bob Sterling und fing an zu lachen. Er ging ins Zimmer und rieb sich die trocknen Hände schnell aneinander.

Er wurde krank und konnte nicht ins Kolleg gehn. Er wurde ins Universitätskrankenhaus überführt, wo er ein paar Wochen lang lag, allem Anschein nach nicht sehr krank, aber ständig mit blauen Lippen, langsamem Puls und Untertemperatur. Dagegen ließ sich nichts tun.

Seine Mutter kam und nahm ihn mit nach Hause. Eugen schrieb ihm regelmäßig, zweimal in der Woche und erhielt als Antwort kurze, fröhliche Botschaften. Dann eines Tages starb Bob Sterling.

Zwei Wochen später erschien die Witwe, um die Sachen ihres Jungen zu holen. Stillschweigend packte sie die Kleider ein, die nun niemand mehr tragen würde. Sie war eine stämmige Frau von vierzig Jahren. Eugen nahm die Universitätswimpel von den Wänden und faltete sie zusammen. Sie legte sie oben in den Handkoffer und schickte sich an wegzugehn.

»Da ist noch einer«, sagte Eugen.

Sie brach plötzlich in Tränen aus und ergriff seine Hand.

»Er war so tapfer«, sagte sie. »Diese verlornen Tage – ach, ich meinte ja nicht – Ihre Briefe haben ihn so glücklich gemacht.«

Nun ist sie allein, dachte Eugen.

Ich kann da nicht wohnen bleiben, dachte er. Wir haben zusammen gehaust. Hier. Überall hier ist er gewesen. Dagewesen. Ich würde ihn immer sehn, wie er oben auf dem Treppenabsatz stand und nach Luft schnappte mit blauen Lippen. Oder ihn seine Aufgaben murmeln hören. Und nachts wäre das andre Bett leer. Ich werde fortan allein hausen.

Aber er zog für den Rest der Studienzeit in eines der offiziellen Dormitorien. Er hatte zwei Zimmergenossen. Der eine war ein junger Altamonter, L. K. Duncan, nicht bei seinem Vornamen Lawrence, sondern stets nach seinen Initialen »Elk« genannt. Der andre, Harold Gay, war der Sohn eines episkopalianischen Pastors. Beide waren älter als Eugen: Elk Duncan war vierundzwanzig, Harold Gay zweiundzwanzig. Sie hatten zwei kleine Zimmer zusammen, deren eines sie als »Study« benutzten. Es ist fraglich, ob je drei so ausgefallne Burschen zusammen in zwei so kleinen Buden gehaust haben.

Elk Duncan war der Sohn eines Altamonter Staatsanwalts, eines kleinen Politikers aus der demokratischen Partei, der in den Affären der County eine Rolle spielte. Elk Duncan war zwei Meter lang und unglaublich dünn und schmal. Er hatte bereits eine leichte Glatze über der hohen, vorgebauten Stirn. Er hatte große, blasse Stielaugen. Von der Augenhöhe abwärts bis zum Kinn war sein Gesicht zurückfliehend. Seine Schultern waren ein wenig rund und sehr schmal. Sein Körper hatte die Symmetrie eines Bleistifts. Er zog sich stets sehr stutzerhaft an, in knappsitzenden Anzügen aus blauem Flanell, mit hohen Stehkragen, dicken Seidenkrawatten und bunten seidnen Taschentüchern. Er war Jurist und ging auf die Law School, verbrachte jedoch einen guten Teil seiner Zeit damit, dem Studium aus dem Wege zu gehen.

Jüngere Studenten, besonders die Freshmen, versammelten sich nach den Mahlzeiten um ihn und bewunderten ihn mit halboffnen Mündern. Sie lebten von seinen Worten wie von Manna und verlangten hungrig nach mehr, je wilder seine Fabeln wurden. Elk Duncans Lebenseinstellung glich sehr der eines Ausrufers vor einer Schaubude auf dem Jahrmarkt; sie war schwatzhaft, gönnerisch und zynisch.

Harold Gay war eine gute Seele von einem Kind. Er trug eine Brille; sonst war nichts helles in seinem trübgrauen, doofen Gesicht. Er war gutmütig und häßlich, ohne die geringste Spur von irgendeiner Distinktion. Vier Fünftel aller Daseinsphänomene erschienen ihm von jeher so rätselhaft, daß er den Versuch, sie zu begreifen, längst aufgegeben hatte. Er verbarg sein scheues und bestürztes Wesen unter einem wiehernden Lachen, das immer zur Unzeit und stets am falschen Ort erschallte, und einem absurden Grinsen, das eine geradezu teuflische Eingeweihtheit vortäuschen sollte. Seine Freundschaft mit Elk Duncan war einer der erhabnen Gipfel seines Daseins. Er suhlte sich in dem purpurblauen Glanz, in dem jener Tüchtige badete, rauchte Zigaretten mit den genäschigen Seitenblicken eines alten Lüstlings und fluchte laut und unbehaglich wie ein davongejagter Pastor.

»Haroldchen, Haroldchen!« mahnte Elk Duncan vorwurfsvoll, »wenn Du es so weiter treibst, mein Junge, dann wirst Du noch Gummi kauen und das Geld für die Kollekte im Kindergottesdienst fürs Kino vergeuden. Nimm doch Rücksicht auf uns! Der junge Eugen hier ist noch rein wie ein Stallbursch, und ich habe stets in den besten Kreisen der Schankhalter und mit den höchst damenhaften Straßengängerinnen verkehrt. Weißt Du, was Hochwürden Dein Vater tun würde, wenn er Dich so fluchen hörte? Er würde Dir das Zigarettengeld kürzen, mein Sohn!«

»Verdammt nochmal! Elk!« sagte Harold rauhpautzig und grinste. »Zur Hölle!!« brüllte er, so laut er konnte. Und aus den Fenstern des ganzen Dormitoriums erschallten lautes Geheul, beifälliges Lachen, ironische Aufmunterungen, wütende Rufe »Zur Hölle!« und »Hört auf damit!«, was Harold Gay sehr wohlgefiel.

Die verstreute Familie versammelte sich zu Weihnachten. Eine Ahnung von bevorstehenden Trennungen, von Verlust und Tod brachte sie zusammen. Der Chirurg in Baltimore hatte keine Hoffnungen gemacht. Was er gesagt hatte, klang wie eine Todesbürgschaft.

»Wie lang hat er denn wohl noch zu leben?« hatte Helene gefragt.

Der Arzt zuckte die Achseln.

»Ich habe nicht die geringste Idee. Ihr Vater ist ein Wunder. Wissen Sie, daß das ganze Hospital ihn bestaunt? Sämtliche Chirurgen im Bau haben sich den Fall angesehn. Wie lange er noch mitmacht, kann niemand sagen. Es geht über meine Erfahrung. Als Ihr Vater hier nach der Operation wegging, dachte ich, ihn nie wiederzusehen. Ich zweifelte daran, ob er den Winter überstehen könne. Und jetzt ist er wieder da. Und es kann sein, daß er noch öfters zurückkommen wird.«

»Glauben Sie, daß die Radiumbehandlung was nützt? Können Sie ihm überhaupt helfen?«

»Ich kann ihm Erleichterung verschaffen. Ich kann sogar das Fortwuchern der Krankheit eine Zeitlang aufhalten. Darüber hinaus vermag ich nichts. Aber seine Lebenskraft ist ungeheuer und völlig unberechenbar. Er ist wie ein hinfälliges Torgitter, das gerade noch an einer Angel hängt … aber immerhin: noch hängt.«

So hatte sie ihn heimgebracht. Der Schatten seines Todes hing über ihnen wie ein Damoklesschwert. Auf Panthertatzen schlich die Angst umher. Helene lebte in einem Dauerzustand unterdrückter Hysterie: täglich einmal kam es zu Ausbrüchen, entweder in Elizas Küche in Dixieland oder in ihrem eignen Heim. Hugo Barton hatte ein Haus gekauft; sie hatten sich eingerichtet.

»Du wirst keinen Frieden haben, solang Du mit Deiner Familie zusammen steckst. Sonst fehlt Dir nichts«, erklärte er.

Sie war andauernd krank, belagerte die Ärzte, holte sich Rat, ließ sich behandeln. Manchmal ging sie auf ein paar Tage ins Krankenhaus. Ihr Leiden manifestierte sich auf vielerlei Weise: manchmal als rasende Ohrenschmerzen, manchmal als völlige nervöse Erschöpfung, manchmal in Zusammenbrüchen, in denen sie abwechselnd in Lach- und Weinkrämpfe verfiel. Ihr Zustand war zu einem Teil von Gants Siechtum beherrscht, zum andern entsprang er aus ihrer morbiden Verzweiflung darüber, daß sie keine Kinder bekam. Zeitweise ergab sie sich dem heimlichen Trunk: sie nippte, um sich aufzuplustern, betrank sich aber nie. Sie trank übles Zeug. Es kam ihr lediglich auf die alkoholische Wirkung an, und so genügten ihr Flüssigkeiten, wie sie unter Titeln wie »Medikament«, »Tonikum«, »Extrakt«, »Essenz« und so weiter beim Apotheker zu haben sind. Fast bewußt hatte sie ihren Geschmack für anständige, trinkbare Stoffe ruiniert. Die gefälligen Schildchen auf den Arzneiflaschen halfen ihr, unbezichtigt dem wüsten, häßlichen Hunger ihres Bluts zu frönen. Natürlich gestand sie das nicht ein. Leben fand seinen Ausdruck in einer Reihe von Täuschungen, die sie um die Symbole ihrer Gehässigkeit, ihrer Zuneigung und ihrer Sorge aufrichtete. Sie brandmarkte stets alle möglichen Ursachen, bekannte niemals den wahren Grund.

Wenn sie nicht tatsächlich bettlägerig war, hielt sie sich nie länger als ein paar Stunden von ihrem Vater fern. Sein Tod warf seinen Schatten voraus, sie alle schauderten vor Entsetzen. Das Drohende, Rätselhafte, Unverständliche, das über ihnen hing, nahm ihnen den Mut und die Haltung. Sie überantworteten sich jenem gemeinen und entwürdigenden Egoismus, der trübselig und stumpfsinnig über den Tod andrer hinwegsieht, aber im Tod am eignen Fleisch und Blut einen Widerspruch gegen alle Naturgesetze zu erkennen glaubt. Es war schwer für sie, sich Gants Tod vorzustellen; viel eher hätten sie sich Gottes Tod vorstellen können, denn Gant war eine faßbarere Wirklichkeit als Gott, er erschien unsterblicher als Gott, er war Gott.

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13 kasım 2024
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