Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 35
XXXIV
Eugen kehrte auf die letzten vierzehn Tage vor Universitätsbeginn nach Altamont zurück. Die Stadt und die Nation gärten von der Hefe des Kriegs. Das Land wurde in ein riesiges Heerlager verwandelt. Aus Universitäten wurden Trainingcamps für Offiziere. Jedermann »tat sein Bißchen«.
Es war eine armselige Kursaison gewesen. Eugen fand Dixieland fast leer, bis auf die Handvoll halbregelmäßiger Besucher und die Dauergäste. Mistress Pert war da, süß, liebenswürdig und ein bißchen faseriger als sonst. Und Miss Newman war da, eine neurotische alte Jungfer mit einem Spatzengesicht, die mit der Zeit Elizas inoffizielle Assistentin im Hausbetrieb geworden war.
Und Gant war da. Er hatte endgültig sein Heim in der Woodson Street aufgegeben; es war vermietet, und er hauste in einem großen Hinterzimmer in Dixieland – ein bißchen wächserner, ein bißchen wehleidiger, ein bißchen schwächer als zuvor.
Und Ben war da.
Ben war vierzehn Tage vor Eugen heimgekehrt. Er war abermals von der Musterungskommission zurückgewiesen worden, war endgültig untauglich für den Dienst im Heer oder bei der Flotte erklärt. Er hatte über Nacht seine Stelle in der Tabakstadt aufgegeben und war stumm und mürrisch nach Haus gefahren. Er war dünner als je, sah mehr denn je wie aus altem Elfenbein geschnitzt aus. Ganz leis schlich er im Haus herum, rauchte unzählige Zigaretten, fluchte kurz und knurrig, verzweifelt über die Vergeblichkeit des Daseins. Von seiner heruntergerunzelten Stirn war die alte Sicherheit geschwunden; sein altes, ärgerliches Gebrumm hatte er vergessen; sein leises, verächtliches Lachen, in dem sich so viel Zärtlichkeit versteckt hatte, lachte er nicht mehr. Er war von einem maßvollen, aber innerlich wütenden Wahnsinn besessen.
Während der zwei kurzen Wochen vor seiner Rückkehr auf die Universität hauste Eugen mit ihm zusammen im Obergeschoß in einem kleinen Stübchen mit einer Schlafaltane. Und der stille Ben redete; er redete sich aus einem leisen, heftigen Knurren in eine helle, heulende Wut, in bittre Verwünschungen, in unerbittlichen Haß. Seine Stimme schrillte vor Leidenschaft über die nachtschlafene, herbstbesäuselte Welt.
»Was hast Du denn mit Dir angefangen, Du närrischer Tropf?« fing er an, als er die abgehagerten Rippen des Jungen sah. »Du siehst wie 'ne Vogelscheuche aus.«
»Es geht schon wieder«, sagte Eugen. »Ich hatte eine Zeitlang nichts zu essen. Aber ich hab nicht heimgeschrieben«, fügte er stolz hinzu. »Sie bilden sich ein, ich könne nicht ohne sie bestehn, aber ich kann es, den Beweis habe ich erbracht«, fügte er stolz hinzu. »Ich hab sie nicht um Hilfe gebeten und bin sogar mit eignem Geld heimgekommen. Guck mal!« Er zog eine Rolle Banknoten aus der Tasche und faltete sie stolz auf.
»Ach, wer will denn was von Deinem lausigen Kleingeld wissen?« gellte Ben zornig. »Du Hanswurst! Da kommst Du heim und siehst wie ein Toter aus und spielst Dich auf, als hättest Du wer weiß was für eine Großtat vollbracht! Was hast Du schon geschafft? Du hast Dich zum Affen gemacht, weiter nichts!«
»Ich hab mich selbst durchgebracht!« schrie Eugen grollend. »Ja! Das hab ich fertig gebracht!« Bens Vorwurf hatte ihn verwundet; es war, als hätte ihn ein Skorpion gestochen.
»Bäh!« Ben rümpfte gehässig die Nase. »Du kleiner Tor! Genau das haben ja die Alten gewollt! Rede Dir doch nicht ein, daß Du ihnen ein Schnippchen geschlagen hättest! Wirklich, nur das nicht! Ihnen ist es verdammt schnuppe, ob Du verreckst oder nicht, solang es sie kein Geld kostet. Warum spielst Du Dich also auf? Dazu hast Du erst Grund, wenn Du ihnen Geld aus dem Beutel gelockt hast.«
Die Ellenbogen aufgestützt, lange Lungenzüge rauchend, bitter schweigend lag er da. Dann, als er sich ein wenig beruhigt hatte, fuhr er fort:
»Nein, Eugen. Locke ihnen das Geld aus der Tasche, lotse es ihnen ab. Entreiße es ihnen auf jede Art. Zwinge sie, damit rauszurücken. Bettle sie an. Nimm es einfach. Stiehl es. Bloß: sieh unbedingt zu, daß Du es kriegst. Wenn Du es ihnen läßt, dann verrottet es. Nimm es ihnen ab und mach Dich aus dem Staub damit. Geh weg und komm nie wieder zurück. Zum Teufel mit ihnen, zum Teufel!« gellte er.
Eliza war lautlos die Treppe heraufgekommen, um die Lichter auszuknipsen; sie hatte eine Zeitlang vor der Tür gestanden, nun klopfte sie leis an und trat ein. Einen zerrissenen Sweater über einem unbestimmbaren Gelump von Unterzeug, die Hände gefaltet, das Gesicht weiß und bekümmert stand sie da und starrte. Sie schürzte vorwurfsvoll die Lippe und schüttelte den Kopf.
»Kinder«, sagte sie, »es ist Schlafenszeit. Meine Gäste werden sich beschweren über Euer lautes Gerede.«
»Pah!« sagte Ben gehässig lachend, »zum Teufel mit ihnen!«
»Kind, Kind, wirklich«, quengelte sie, »Du wirst uns ruinieren! Müßt Ihr da draußen auf der Altane Licht brennen?« Argwöhnisch sah sie hinaus. »Was in aller Welt stellt Ihr Euch eigentlich vor. Wie könnt Ihr nur so viel Strom verbrauchen?«
»Ach, nun hör Dir das an, bitte!« sagte Ben und schnickte den Kopf hoch mit einem höhnischen Lachen.
»Ich kann es mir nicht leisten, alle diese Rechnungen zu bezahlen«, erklärte Eliza zänkisch. »Bestimmt nicht!« Sie schüttelte nachdrucksvoll den Kopf. »Ihr braucht Euch nicht einzubilden, daß ich es kann. Ich dulde es nicht! Wir alle müssen sparen!«
»Um Gottes willen!« höhnte Ben. »Sparen! Wofür denn! Damit Du das Geld dem alten Doktor Doak für ein Baugrundstück geben kannst?!«
»Nun, Du hast es gar nicht nötig, Dich aufs hohe Roß zu setzen«, sagte Eliza. »Du brauchst die Rechnungen nicht zu bezahlen, sonst würdest Du ganz anders reden. Ich höre so was nicht gern. Du hast jeden Pfennig, den Du je verdient hast, vergeudet, weil Du Dir nie über den Wert eines Dollars klar geworden bist.«
»Aha!« sagte er. »Der Wert eines Dollars! Bei Gott, ich kenne ihn besser als Du! Jedenfalls aber habe ich für meinen Dollar was gehabt. Und was hast Du gehabt? Sag mir's, ich möchte es wissen. Zur Hölle! Wozu ist Dein Geld denn gut gewesen?« gellte er.
»Schimpfe, so lang Dirs Spaß macht«, sagte Eliza streng. »Aber wenn Dein Vater und ich nicht gesorgt hätten, dann hättest Du kein eignes Dach überm Kopf. Dafür plage ich mich auf meine alten Tage! Das ist der Dank!« Sie brach in Tränen aus. »Undank! Undank!« flennte sie.
»Undank!« Er rümpfte die Nase. »Wofür sollte ich dankbar sein? Was haben Du und der Alte mir je gegeben? Seit ich zwölf bin, habt Ihr Euch den Teufe! um mich geschert. Nicht 'nen Nickel habt Ihr mir gegönnt. Schau Dir da Deinen Jüngsten an! Ihr habt ihn im Land herumreisen lassen wie einen Irren! Ist es Dir in diesem ganzen Sommer auch nur eingefallen, ihm einmal eine Karte zu schreiben? Hast Du gewußt, wo er sich herumgetrieben hat? Hast Du überhaupt nur eine einzige verfluchte Sekunde danach gefragt, so lang sich die Möglichkeit bot, an Deinen lausigen Kostgängern fünfzig Cent zu verdienen?«
»Undank!« zischte sie heiser und schüttelte streng und gebieterisch den Kopf. »Ein Tag der Abrechnung kommt!«
»Um Gottes willen, nun hör Dir das an, bitte!« sagte er geringschätzig lachend. Er rauchte einen letzten Zug und drückte seine Zigarette aus. Dann sagte er ganz gefaßt: »Nein, Mama! Du hast wirklich herzlich wenig getan, wofür wir Dir Dank schulden müßten. Uns Ältere hast Du wild herumlaufen lassen, und der Kleine hier ist unter Drogenschluckern und Straßenweibern aufgewachsen. Du hast mit jedem Pfennig geknausert und hast Dein ganzes Geld in Grund und Boden gesteckt, wo es keinem Menschen was genützt hat. So brauchst Du Dich nicht zu wundern, wenn Deine Kinder nicht dankbar sind.«
»Ein Sohn, der so zu seiner Mutter spricht«, sagte Eliza bissig, »mit dem muß es ein schlimmes Ende nehmen. Warte nur ab!«
»Zur Hölle!« höhnte er. Hart starrten sie einander an. Dann wandte er sich plötzlich ab, angewidert, runzelte die Stirn, die Reue stach ihn.
»Also schon gut, geh jetzt und laß uns allein!«
Er zündete eine Zigarette an, um seinen Gleichmut darzutun; seine mageren, weißen Finger zitterten so sehr, daß das Streichholz ausging.
»Hören wir auf! Hören wir bitte auf damit!« bat Eugen müde und verzagt. »Niemand von uns kann sich ändern. Nichts wird besser dadurch. Es wird immer dasselbe sein hier im Haus. Wir haben uns schon tausendmal die gleichen Vorwürfe gemacht, und es hat nichts genutzt. Also hören wir auf damit! Mama, bitte, geh jetzt zu Bett! Laß uns schlafen und vergessen!« Er ging zu ihr und küßte sie. Er schämte sich sehr, als er sie küßte.
»Also, Gutnacht, Sohn«, sagte Eliza langsam und ernst. »Knips das Licht aus und leg Dich aufs Ohr. Gute Nachtruhe ist wichtig; Du sollst auf Deine Gesundheit achtgeben.«
Sie küßte ihn und ging, ohne Ben eines Blicks zu würdigen. Er sah sie nicht an. Sie waren schwer und bitterlich verzankt.
Einen Augenblick später, nachdem sie gegangen war, sagte Ben ganz ohne Ärger:
»Ich hab nichts vom Leben gehabt. Ich hab versagt. Ich bin hier geblieben, bis ich erledigt war. Meine Lunge geht drauf. Sie nehmen mich nicht mal zu den Soldaten. Ich tauge nicht genug, um von den Deutschen totgeschossen zu werden. Ich hab nie zu was getaugt. O Du mein Gott!!« stöhnte er leidenschaftlich. »Worum dreht sich alles? Kannst Du es mir sagen? Kannst Du es herausfinden, Eugen? Ist das Leben denn wirklich so, oder treibt jemand einen wüsten Scherz mit uns? Vielleicht träumen wir das alles, glaubst Du das?«
»Ja«, sagte Eugen. »Ich glaube, daß wir es träumen. Aber ich wünschte, wir würden erweckt.« Er schwieg. Er saß am Bettrand über seinen dürren, nackten Leib gebeugt. Er brütete vor sich hin. »Vielleicht«, sagte er langsam, »gibt es nichts, gibt es niemanden, zum Erwecken.«
»Zur Hölle mit dem ganzen Kram«, sagte Ben. »Ich wollt', es wär rum!«
Eugen kehrte nach Pulpit Hill zurück, fiebernd vor Kriegsbegeisterung. Die Universität war in einen Truppenübungsplatz verwandelt. Taugliche junge Männer über achtzehn wurden zu Offiziersausbildungskursen zugelassen. Aber er war noch nicht achtzehn. Sein achtzehnter Geburtstag war erst in vierzehn Tagen. Vergebens flehte er die Musterungskommission um Toleranz an. Was machten die zwei Wochen aus? Könnte er eintreten, sobald sein Geburtstag war? Nein, das könnte er nicht. Was könnte er denn tun? Sie sagten ihm, er solle auf die nächste Einziehung warten. Wie lange würde das dauern? Zwei Monate, höchstens drei, dann ganz sicher. Die Hoffnung lebte wieder auf. Er brannte vor Ungeduld. Alles war noch nicht verloren.
Zu Weihnachten, wenn alles glückte, würde er in Khaki stecken. Und im Frühling, wenn Gott gnädig war, konnte er all der stolzen Vorrechte teilhaft werden, als da sind: Kleiderläuse, Grabendreck. Senfgas, verspritztes Hirn, zerfetzte Lunge, zerrißnes Eingeweide und Wundbrand. Über den Rand der Erde hin hörte er den glorreichen Tritt, der Marschbataillone, den wilden, süßen Klang der Hörner. Mildlächelnd vor zartsinniger Selbstliebe sah er sich schneidig die Adlerabzeichen eines Obersten auf den Achselstücken tragen. Er sah sich als den Kampfflieger Gant, den Falken des Himmels, der mit seinen neunzehn Jahren schon 63 Hunnen abgeschossen hatte. Er sah sich die Champs Elysées hinaufspazieren, die Schläfen hübsch angegraut, der linke Arm eine Prothese aus feinstem Kork, und die verführerische Witwe eines Maréchal de France ging ihm zur Seite. Zum erstenmal lernte er den romantischen Reiz des Verstümmeltseins so richtig schätzen. Die unverwundbaren Helden seiner Kindheit kamen ihm nun albern vor – gerade gut genug zur Bildreklame für Zahnpasten und Modellkragen. Er sehnte sich nach jener köstlichen Auszeichnung, nach jenem Glanz des Gelebt- und Gelittenhabens, der nur durch ein Holzbein oder eine rekonstruierte Nase oder eine Kugelnarbe an der Schläfe erreicht werden kann.
Derweilen aß er wie ein Drescher und trank gallonenweis Wasser, um an Körpergewicht zuzunehmen. Er wog sich täglich zehn- bis zwölfmal. Er bemühte sich sogar, regelmäßig Leibesübungen zu machen, Armschwingen, Rumpfbeugen und so weiter.
Und er sprach über seine Probleme mit den Professoren. Allen Ernstes rang er mit seiner Seele, allen Ernstes drückte er sich in den befeuernden Schlagworten des Kreuzzugs aus. Die Professoren fragten, ob denn nicht im Augenblick sein Platz hier wäre. Ob ihn sein Gewissen so unbedingt triebe, daß er einfach kämpfen müsse. Ja, dann würden sie es allerdings verstehn. Ob er aber auch die weiteren Belange im Auge habe.
»Ist nicht hier«, sagte der Dekan der Fakultät überrednerisch, »Ihr Grabenabschnitt? Ist nicht hier auf dem Kampus Ihre vorderste Kampfstellung? Ist es nicht hier, daß Sie in Angriffsbereitschaft stehn? Ach, ich weiß es von mir selbst«, bemerkte er mit dem Lächeln des stillen Schmerzes, »es wäre leichter ins Feld zu ziehn. Ich habe diesen Widerstreit der Pflichten durchgekämpft. Wir sind jetzt alle unter Waffen. Wir sind mobilgemacht für die Wahrheit. Und jeder muß sein Bißchen tun, und zwar dort, wo er die gerechte Sache am besten fördern kann.«
»Ja«, sägte Eugen mit bleicher, gequälter Miene, »ich weiß, ich weiß. Aber oh, Herr Professor, wenn ich an diese mörderischen Bestien denke, wenn ich mir vergegenwärtige, wie sie alles bedroht haben, was uns heilig und teuer ist, wenn ich an das arme, geschändete Belgien denke, und dann an meine eigne Mutter, an meine eigne Schwester …« Er wandte sich ab, die Fäuste geballt, wahnsinnig in sich selbst verliebt.
»Ja, ja«, sagte der Dekan liebenswürdig, »für Jungen mit einem solchen Geist ist es nicht leicht.«
»Oh, es ist schwer!« rief Eugen leidenschaftlich aus, »ich kann nur sagen, es ist furchtbar schwer.«
»Wir müssen durchhalten«, sagte der Dekan ruhig. »Wir müssen uns in Geduld erhärten, uns im Feuer bewähren. Die Zukunft der Menschheit steht auf dem Spiel.«
Tiefbewegt standen sie ein Weilchen nebeneinander, aufgeplustert in der strahlenden Schönheit ihrer Heldenherzen.
Eugen war Redakteur der Universitätszeitung. Da aber der verantwortliche Herausgeber eingezogen war, fiel ihm die ganze Publikationsarbeit zu. Alles war bei den Soldaten. Mit Ausnahme von ein paar Dutzend Freshmen, frech wie Ratten, ein paar Vaterlandskrüppeln und ihm selber – schien es – war jedermann Soldat. All seine Kommilitonen aus der Bruderschaft, all seine Kurskameraden, soweit sie noch nicht schon vorher eingezogen worden waren, und viele junge Männer, die früher nie daran dachten, auf die Universität zu gehn, waren Soldat. Pap Reinhart, George Graves, Julius Arthur, die kurze, irgendwie erfolglose Karrieren auf andern Hochschulen hinter sich hatten, und eine Schar junger Altamonter, die in ihrem Leben keinen Kampus gesehn hatten, waren nun in die Studentenarmee eingetreten.
Während der ersten Tage, als infolge der Betriebsumstellung alles drunter und drüber ging, war Eugen viel mit diesen Studenten-Soldaten zusammen. Dann, als das Räderwerk der Drillmaschine wie geschmiert ging und die ganze Universität in eine Kaserne verwandelt war, stand er auf einmal einsam und vereinzelt da.
Er hielt durch. Er trug die Fackel. Er tat sein Bißchen. Er war Herausgeber, Berichterstatter, Kritiker und Faktotum an der Zeitung. Er schrieb die Nachrichten. Er schrieb die Leitartikel. Er schleuderte Flammenblitze. Seine Worte zündeten. Er predigte den Kreuzzug. Er war besessen vom Mordgeist.
Er ging und kam, wann es ihm paßte. Wenn die Baracken nachts im Dunkel lagen, schlenderte er auf dem Kampus herum, geringschätzig lachend, wenn die Wachen ihn mit ihren Taschenlaternen stellten und »Entschuldigung« murmelten. Er wohnte im Dorf, zusammen mit dem hühnerbrüstigen, hohlwangigen Heston, einem langen Kadaver von einem Mediziner. Drei- oder viermal die Woche fuhr er nach Exeter, wo er in der kleinen Druckerei den guten, warmen Geruch von Stahl und Druckerschwärze eintrank. Später bummelte er herum, aß zu Nacht im griechischen Restaurant, flirtete ein bißchen und nahm um zehn Uhr, wenn die Kleinstadt bereits im tiefen, totenähnlichen Schlaf lag, das letzte Verbindungsauto durch die verdunkelte Gegend nach Pulpit Hill. Er saß neben dem Chauffeur Soak Young, einem versoffnen, alten Walroß, der wie der Teufel fuhr.
Der Oktober kam kalt und regnerisch. Es roch nach aufgeweichter Erde und vermoderndem Laub. Trübselig, traurig, unaufhörlich tropfte es von den Bäumen. Sein achtzehnter Geburtstag kam: bebend vor Spannung dachte er an die nächste Musterung.
Er bekam zwei Briefe zum Wiegenfest: einen matten, kranken von seinem Vater und einen seitenlangen von Eliza, sachlich, praktisch, stumpf, in ihrer typischen Ausdrucksart, die immer den Nagel auf den Kopf traf. So:
»… Daisy war hier mit ihrem ganzen Stamm. Reiste vorgestern ab, ließ Richard und Karoline hier. Sie haben alle die Grippe gekriegt. Wir waren hier wie belagert von der Grippe. Jedes hat sie gehabt, man weiß gar nicht, wer als nächster drankommen kann. Die großen Starken scheint sie am liebsten anzufallen. Mister Hanby, der methodistische Pfarrer, starb vorige Woche. Lungenentzündung war zugetreten. Er war ein feiner, gesunder Mann in den besten Jahren. Die Ärzte hatten ihn von Anfang an aufgegeben. Helene lag ein paar Tage lang zu Bett. Sagt, es war ihre alte Nierensache. McGuire wurde Dienstag abends gerufen. Aber sie sollen nur schwätzen, mir können sie nichts weismachen. Sohn, ich hoffe, daß Du nie dieser furchtbaren Sucht nachgeben wirst. Dieser Fluch hat mein Leben schwer gemacht. Dein Vater macht weiter, wie immer. Er ißt gut, schläft ausgezeichnet; scheint mir ganz derselbe wie vor einem Jahr; er kann noch lange leben, wenn wir andern alle schon unter der Erde liegen. Ben ist noch hier. Er latscht den ganzen Tag im Haus herum und schneidet Gesichter. Er klagt über Appetitlosigkeit. Meiner Meinung nach sollte er sich wieder Arbeit suchen und was schaffen, so daß er auf andre Gedanken kommt. Es sind nur noch ein paar Leute im Haus. Mistress Pert und Miss Newton wie gewöhnlich. Die Crosbys sind nach Miami heimgereist. Wenn es hier kälter wird, pack ich meinen Koffer und fahr auch nach Florida. Ich glaube, ich werde alt. Ich kann nämlich die Kälte nicht mehr so vertragen wie früher. Du sollst Dir einen warmen Mantel kaufen, ehe der Winter einsetzt. Du sollst viel und gut essen. Verschwende Dein Geld nicht, sondern …«
Daraufhin hörte er wochenlang nichts. Dann, an einem. regnerischen Abend, als er gegen sechs auf die Bude, die er mit Heston zusammen bewohnte, kam, fand er ein Telegramm. Es lautete: »Heimkomme sofort. Ben hat Lungenentzündung. Mutter.«
XXXV
Es ging an diesem Tag kein Zug mehr. Heston beruhigte Eugen während des Abends; er gab ihm einen starken, mit Laboratoriumsalkohol selbsthergestellten Gin zu trinken. Eugen wurde still; babbelte dann wieder unzusammenhängendes Zeug; er richtete hundert Fragen über die Krankheit an den Mediziner.
»Wenn's doppelseitige Lungenentzündung wär', dann hätt' sie's doch gesagt. Glaubst Du nicht auch, Heston, wie?« fragte er fiebrig.
»Ich persönlich würde es annehmen«, sagte Heston, der stille, gütige Mensch.
Eugen fuhr am nächsten Morgen nach Exeter zum Zug. Den ganzen gedunsenen Tag rollte er durch den trüben, grauen Staat. Dann mußte er auf einem Umsteigebahnhof ein; paar Stunden warten. Schließlich, als es dunkel wurde, trug ihn der Zug auf das Gebirg zu.
Er lag in seiner Pullmankoje und starrte mit heißen, schlaflosen Augen auf die schwarze Erde, auf den dunklen Umriß der. Berge hinaus. Kurz nach Mitternacht verfiel er in einen nervösen Schlaf. Er wachte auf vom Schienengeratter, als der Zug in Altamont einfuhr. Er war verdöst, halbangezogen. Das Zischen und der Ruck der Bremse brachten ihn ganz zur Besinnung. Einen Augenblick später sah er durch die Bettvorhänge in die ernsten Gesichter von Lukas und Hugo Barton.
»Ben ist sehr krank«, sagte Hugo Barton.
Eugen zog seine Schuhe an und sprang aus der Koje herunter; er steckte Kragen und Schlips in die Manteltasche.
»Gehn wir!« sagte er, »ich bin fertig.«
Sie gingen leis den vom Schnarchen der Fahrgäste durchdröhnten Gang hinauf. Als sie aus dem öden Bahnhof auf Hugo Bartons Auto zusteuerten, fragte Eugen den Seemann:
»Wann bist Du gekommen, Lukas?«
»Gestern abends spät«, sagte Lukas. »Ich bin erst ein paar Stunden da.«
Es war vier Uhr dreißig früh. Das häßliche Bahnhofsviertel starrte ihn an wie etwas Entsetzliches in einem Traum. Die plötzliche Heimkehr erhöhte den Eindruck der Unwirklichkeit. In einem der Autos, die längs des Bürgersteigs geparkt waren, schlief der Chauffeur zusammengerollt unter seiner Wolldecke. Im griechischen Restaurant hockte ein Mann, das Gesicht auf den Bartisch gelegt. Die Laternen brannten matt und trüb. Ein paar Zimmerfenster in den Fassaden der billigen Bahnhofshotels waren halbhell vom wolllüstig-gedämpften Glosen der Bettlampen.
Hugo Barton, der sonst sehr vorsichtig chauffierte, ließ den Wagen anspringen, fuhr scharf an, wechselte kreischend die Gänge. Sie sausten mit Achtzigkilometergeschwindigkeit durch die rachitischen Elendsviertel.
»Be-be-ben ist sicher schwer daneben, be-be-befürcht' ich«, fing Lukas an.
»Wie ist es gekommen, sagt mir das doch!« fragte Eugen.
Ben hatte sich an einem von Daisys Kindern mit Grippe angesteckt. Krank und fiebrig hatte er sich einen oder zwei Tage, ohne sich ins Bett zu legen, im Haus herumgetrieben.
»In dieser go-go-gottverdammten kalten Scheuer!« platzte Lukas heraus. »Wenn er stirbt, ist es, w-w-weil er nicht warm genug kriegen ko-ko-konnte!«
»Laß das jetzt!« rief Eugen gereizt. »Weiter?!«
Schließlich hatte Ben sich zu Bett gelegt, und Mistress Pert hatte ihn zwei Tage lang gepflegt.
»Sie war die Einzige, die was für ihn t-t-tat«, sagte der Seemann.
Schließlich hatte Eliza Cardiac zugezogen.
»Dieser verda-da-dammte Quacksalber!« stotterte Lukas.
»Laß das doch!« schrie Eugen. »Warum jetzt schimpfen? Weiter?!«
Nach ein bis zwei Tagen war Ben allem Anschein nach Rekonvaleszent. Cardiac sagte, er könne aufstehn, wenn er wolle. Ben war aufgestanden und hatte sich einen Tag lang, fluchend vor Wut, im Haus rumgetrieben, aber am nächsten Tag mußte er wieder das Bett hüten. Er hatte hohes Fieber. Schließlich wurde Coker zugezogen.
»Hätten sie gleich tun sollen«, grollte Hugo Barton, übers Steuerrad gebückt.
»Laß das doch jetzt!« gellte Eugen. »Weiter?!«
Und Ben war verzweifelt krank, doppelseitige Lungenentzündung, seit zwei Tagen. Der traurig-prophetische Bericht gab einen kurzen, furchtbaren Einblick in die Öde, die Saumsal und den Verfall ihrer Leben. Sie verstummten vor der unerbittlichen Tragik ihres Daseins. Sie hatten nichts zu sagen.
Der große Wagen sauste surrend auf den öden, kalten Stadtplatz hinauf. Der Eindruck der Unwirklichkeit verstärkte sich in Eugen. Er dachte an sein Leben, an die glänzenden, verlornen Jahre vor diesem gemeinen, schäbigen Gehudel aus Stein, Backstein und Mörtel. Ben und ich, dachte er, … was haben wir damit zu schaffen? Vor diesem Rathaus, dieser Bank, diesem Kramladen? Warum hier? In Gath oder Ispahan, in Korinth oder Byzanz. Nicht hier, nicht hier. Es ist nicht wirklich.
Das Auto hielt vor Dixieland. Ein trübes Licht brannte in der Diele, Erinnerungen weckend an Feuchtigkeit und Finsternis. Ein wärmeres Licht brannte im Empfangszimmer, die herabgezognen Blenden des hohen Fensters schimmerten in einem warmen Gelbrot.
»Ben liegt im ersten Stock«, wisperte Lukas, »dort, wo Licht brennt.«
Eugens Lippen waren kalt und spröd. Er blickte auf zu dem Vorderzimmer, das ein Erkerfenster im gräßlichen Stil der Gründerjahre hatte. Es lag neben der Schlafaltane, wo vor noch nicht fünf Wochen Ben seine wilden Flüche auf das Dasein ins Dunkel gegellt hatte. Das Licht im Erker glomm grau, es beschwor eine Vision von Tod und Terror herauf.
Die Drei gingen leis durch den Vorgarten und traten ins Haus. Stimmen und Geschirrgeklapper drangen gedämpft aus der Küche.
»Papa ist hier drin«, sagte Lukas.
Eugen trat ins Empfangszimmer. Gant saß vor einem hellen Kohlenfeuer. Er sah mit dumpfem, ungewissem Blick auf.
»Hallo, Papa!« sagte Eugen und ging zu ihm.
»Hallo, Sohn«, sagte Gant. Er küßte den Sohn mit seinem stachligen, kurzgestutzten Schnurrbart. Seine dünnen Lippen fingen an, wehleidig zu beben. Er schnüffelte.
»Hast Du gehört, wie es um Deinen Bruder steht? Daß mir das auferlegt wird, alt und krank wie ich bin! O Jesus, es ist furchtbar …«
Helene kam aus der Küche.
»Hallo, Langer!« sagte sie, Eugen herzlich umarmend. »Wie geht's Dir, Lieberchen? Du bist in der Zwischenzeit ja schon wieder zehn Zentimeter gewachsen!« Sie lachte hämisch. »Also halt den Kopf hoch, Eugen! Schau nicht so trübselig drein. Wo Leben ist, ist auch Hoffnung. Er ist noch nicht hinüber, damit Du's weißt.« Sie brach in Tränen aus, düster, haltlos, hysterisch.
»Daß das über mich kommen muß!« schnüffelte Gant, der mechanisch auf ihren Kummer reagierte. Er schaukelte auf und ab, auf den Krückstock gestützt, mit dem er sich abstieß. Er starrte ins Feuer und flennte: »Hu-hu-hu-hu! Was hab ich denn getan, daß Gott …«
»Schweig sofort still!« befahl hitzig wütend Helene. »Augenblicklich hältst Du's Maul! Ich will nichts mehr von Dir hören! Ich hab Dir mein Leben dargebracht. Alles ist für Dich getan worden. Und Du wirst noch herumlaufen, wenn wir andern alle unterm Boden sind. Nicht Du bist der Kranke hier im Haus!« Ihr Gefühl für ihn war in diesen Tagen zänkisch und bitter geworden.
»Wo ist Mama?« fragte Eugen.
»In der Küche«, antwortete sie. »Sag ihr erst guten Tag, eh Du zu Ben rauf gehst.« Beim Hinausgehn flüsterte sie heiser: »Also vergiß drauf! Es ist jetzt nichts mehr dran zu ändern.«
Er fand Eliza vor dem Gasherd. Sie hantierte mit mehreren Kesseln kochenden Wassers herum. Sie schwankte, war unbeholfen, schien überrascht und verwirrt, als sie ihn sah.
»Wie? Um alles in der Welt! Aber Eugen! Wann bist Du angekommen?«
Er umarmte sie. Durch die Maske der Sachlichkeit hindurch gewahrte er das Entsetzen in ihrem Herzen. In ihren stumpfen, schwarzen Augen blitzten die Messer der Angst.
»Wie geht's dem Ben, Mama?« fragte Eugen ruhig.
»Ei – – – ei – –!« Sie schürzte nachdenklich die Lippe. »Ich hab gerade, eh Du reinkamst, mit Doktor Coker gesprochen. ›Schaun Sie‹, hab ich gesagt, ›ich will Ihnen was sagen: ich glaube, es steht nicht halb so schlimm um ihn, als es aussieht. Wenn wir ihn jetzt bis zum Morgen durchbringen können, dann, glaub ich, wird eine Wendung zum Bessern eintreten.‹«
»Mama! Um Himmels willen!« platzte Helene zornig heraus. »Wie bringst Du's nur fertig, so zu reden? Bist Du Dir denn wirklich noch nicht klar darüber, daß Bens Zustand höchst kritisch ist? Wirst Du denn nie aufwachen?«
Ihre Stimme klang geborsten vor Hysterie.
»Nun, ich will Dir was sagen, Sohn«, begann Eliza wieder. Sie lächelte mit bebenden Lippen. »Wenn Du zu ihm reingehst, dann stell Dich so, als wüßtest Du gar nicht, daß er krank ist. Ich an Deiner Stelle würde einfach einen herzlichen Spaß machen. Ich würde fröhlich herauslachen und frisch von der Leber weg zu ihm sagen: ›Da schau einmal an! Da dachte ich, ich käme einen Kranken besuchen, und was seh ich? Pah! Ei, ei!‹ würde ich sagen. ›Dir fehlt ja überhaupt nichts. Gut die Hälfte ist nichts wie Einbildung!‹«
»Ach, Mama, um Christi willen!« sagte Eugen außer sich vor Wut. »Um Christi willen!«
Er wandte sich ab. Das Herz zog sich ihm zusammen. Er griff sich an die Gurgel.
Dann ging er mit Helene und Lukas leise in den ersten Stock. Vor dem Krankenzimmer blieben sie stehn. Eugens Glieder waren kalt und blutlos; ihm war, als hätte sein Herz ausgesetzt. Sie flüsterten, ehe er eintrat. Die elende Verschwörerei angesichts des Todes entsetzte ihn.
»Bleib nur 'ne M-m-minute«, wisperte Lukas. »M-m-mach ihn nicht nervös.«
Eugen riß sich zusammen und folgte Helene blindlings ins Zimmer.
Ihre Stimme klang herzhaft: »Guck mal, wer da zu Besuch kommt!« sagte sie. »Die lange Latte ist's!«
Einen Augenblick lang konnte Eugen vor lauter Angst nichts sehn. Ihm schwindelte. Das Licht war mit einem grauen Lampenschirm so stark abgeblendet, daß das ganze Zimmer außer dem Bett im Halbdunkel lag. Alsbald erkannte Eugen die Krankenpflegerin Bessie Gant und Cokers langen gelben Totenschädel, der ihn, eine lange, angekaute Zigarre zwischen den Zähnen, trübselig angrinste. Und dann, unter dem grellen, furchtbaren Licht, das unmittelbar auf das Bett fiel, sah er Ben. Und in diesem Augenblick verzehrender Erkenntnis sah er, was sie alle gesehn hatten: Ben lag im Sterben.
Bens langer, dürrer Leib stak dreiviertels unterm Bettzeug; der hagere Umriß, vor Qual und Anstrengung verrenkt, zeichnete sich unter der Decke ab. Dieser Körper schien nicht mehr zu Ben zu gehören; abgetrennt und verkrümmt war er wie der Rumpf eines Enthaupteten. Und das fahle Gelbweiß des Gesichts war grau geworden. Und um dieses granitne Todesgrau, beflackert von zwei kleinen roten Fieberfahnen, wuchs der schwarze Ginster eines dreitägigen Stoppelbarts. Dieser Bart war gräßlich; er drängte einem den Gedanken auf an die verruchte Lebenskraft des Haares, das noch an verwesenden Leichen weiter wächst. Ben bleckte die weißen, unheimlich und wie tot wirkenden Zähne; seine Lippen waren in der qualstarren Grimasse des Erstickens verzerrt. Stoßweise und keuchend zog er ein bißchen Luft in die Lunge. Und dieses Nachluftschnappen, dieses Röcheln, – laut, rauh, heiser, schnell, unglaublich –, das von Augenblick zu Augenblick das ganze Zimmer wie ein Orchester erfüllte, gab der Szene die abschließende Note des Grauenhaften.
Ben lag auf dem Bett, im gesammelten grellen Licht, und sie sahen, auf ihn herunter: er lag wie ein riesenhaftes Insekt auf dem Tisch eines Naturforschers und kämpfte, während sie zusahen, um seinem armen, verzerrten Leib das Leben zu erhalten, das keine Macht der Welt halten konnte. Es war ungeheuerlich und roh.
Als Eugen hinzutrat, fiel Bens angstheller Blick zum erstenmal auf den jungen Bruder. Und körperlos, ununterstützt hob er seine gepeinigte Lunge aus den Kissen, packte Eugen wild an den Handgelenken mit heißen, weißen verkrampften Fingern und keuchte wie ein furchtsames Kind: »Warum bist Du da, Eugen? Warum bist Du zu Haus?«
Eugen stand bleich und stumm, von Mitleid und Entsetzen gelähmt.
»Wir haben Ferien, Ben«, sagte er. »Sie mußten die Universität schließen wegen der Grippeepidemie.«