Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 6
Die Tram fuhr am Tusgegee-Hotel vorbei zum Stadtplatz hinauf. Gant sah durch die Fenster. Schwere Männer saßen in der Bar … Wie Fische im Aquarium … In der Hotelhalle wischte ein Negerboy die Klubsessel mit einem grauen Staubtuch … Verschlafen … Der feiste Nachtportier schlief, aufs Sofa im Büro ausgestreckt.
Die Tram kam auf den Stadtplatz, holperte über das Netzwerk der Schienenlinien, hielt auf der Nordseite. Gant schürfte den Frostbeschlag vom Fenster. Starrte hinaus. Im fahlen Frühlicht erschien ihm der Platz ungewöhnlich klein, eng, gemein. Er wurde grün im Gesicht vor Angst, es fror ihn ums Herz, daß dieser Platz, die einzig feste Mitte seines Daseins, so zusammengeschrumpft war. Alles war entsetzlich konkret, wie im Traum. An der Südostecke sah er seine Werkstatt, die großen Lettern über der Backsteinfront:
W. O. Gant Marmorlager.
Grabsteinkunst
Friedhofseinrichtungen
Ein Neger stieg ein. In den hinteren Teil des Wagens, der für seine Rasse reserviert ist. Er ließ sich auf den Sitz fallen und fing sofort an, langsam durch seine bibbernden Puddinglippen zu schnarchen.
Big Bill Messler, die Weste halb aufgeknöpft über dem schweren runden Bauch, kam langsam die Freitreppe vorm Rathaus herunter. Der Springbrunnen auf der Ostseite des Platzes spielte nur zur halben Strahlhöhe. Eisblaues Wasser plätscherte in das von einem Eisgürtel umgebne Becken.
Es hielten viele Trambahnen am Platz. Die Wagenführer standen zusammen, stampften, rauchten, sprachen. In der Feuerwehrhalle brannte Licht. Ein Marktwagen fuhr über den Platz. Der alte Gaul bog vorsichtig in die gepflasterte Gasse, die bergabführend den Marktplatz mit dem Stadtplatz verband. Die Stadt regte sich, rüstete sich für den Tag.
Die Tram fuhr wieder. Sie glitt die Academy Street hinunter, bog am Rand des Negerviertels ab, fuhr durch die Ivy Street, bog in eine schmutzige lange Straße ein. Armselige Hütten standen auf der einen Seite. Auf der anderen Seite war ein Hain von herrlichen alten Eichen. Dort hinter den Stämmen stand verlassen und verfiel der mit Stuckornamenten verzierte Bau, der einst Professor Bormans Höhere Töchterschule hieß. Der frühere Besitzer baute jetzt Straßen in Pasadena, stank bald nach Geld.
Die Tram hielt an der Ecke, fuhr wieder bergan, die gewundne Woodson Street hinauf, hielt vor dem öden Bau eines fallierten Hotels. Dann kam Gants Haltestelle.
Gant schob seine schwere Reisetasche mit dem Knie vor sich her, stellte sie einen Augenblick hin, ehe er das Stück bergab zu seinem Haus ging. Die Straße war ungepflastert, die lehmige Erde war in Klumpen gefroren. Der Weg war abschüssiger, kürzer, näher als Gant gedacht hatte. Nur die Bäume sahen groß aus. Gant sah, wie Duncan in Hemdsärmeln die Morgenzeitung von seiner Veranda hereinholte … Werde ihn später sprechen. Jetzt dauert's zu lang … Ganz wie er erwartet hatte, stieg eine dicke Rauchsäule aus dem Schornstein des Schotten, aber sein Schornstein rauchte nicht.
Er ging die paar Schritte bergab, öffnete leis das eigne Gittertor, schlich ums Haus. Die kahlen Rebstöcke wanden sich an den Spalieren, zäh, sehnig, wie gedrehte Taue. Er ließ sich durch, die Seitentür ein, ging ins Wohnzimmer. Es roch scharf nach kaltem Leder. Ein bißchen spärliche, längst erkaltete Asche lag im offnen Kamin. Er stellte seine Reisetasche ab und ging in die Küche. Eliza, in einem seiner abgelegten Röcke und wollnen Handschuhen ohne Finger, stocherte in den Schlacken eines armseligen, schwindsüchtigen Herdfeuers herum.
»Hallo, da bin ich wieder!« sprach Gant.
»Um Himmels willen!« rief sie, ganz wie er erwartet hatte. Sie war verlegen, wußte nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Er legte seine Rechte einen Augenblick täppisch auf ihre Schulter. Dann nahm er die Petroleumkanne, goß Öl auf das Holz. Die Flamme bleckte hoch aus dem Herd.
»Um Gottes willen, Du steckst uns das Haus an!« zeterte Eliza.
Er aber griff eine Handvoll Reisig, nahm die Petroleumkanne, stürmte wütend ins Wohnzimmer.
Als die Flammen knisternd und knackend aus dem ölgetränkten Reisig aufschossen, als er spürte, wie die Luft im feuererfüllten Kamin zitterte, kam seine Freude wieder. Er brachte die Weite der Mojave-Wüste mit … die lange gelbe alluviale Schlange des Colorado River, der Geröll von einem ganzen Kontinent mitführt … den Reichtum und Geruch beladner Schiffe im Hafen von Frisko … die großen Namen Louisiana, Texas, Arizona, Colorado, Kalifornien … die machtvollen Baumstrünke der Riesensequoia, unter deren Wurzeltunnel ein Wagen hindurchfahren kann … Wasserstürze, Geiser, kochende Schlammtümpel aus dem Yellowstone Park … mächtige Gebirgslandschaften, großes Meer, irisierende Himmel.
Eliza, noch ganz aufgeregt, fand allmählich die Sprache wieder. Sie war ihm ins Wohnzimmer gefolgt. Sie hielt die halb-behandschuhten, verbrauchten Hände der Hausfrau vor den Magen, während sie sprach:
»Gestern abend noch hab ich zu Steve gesagt, es sollte mich nicht wundern, wenn Vater jetzt jede Minute reinkäme.« Sie verzog das Gesicht, denn die Fabrikation der Legende strengte an. »Ich hatte so ein Gefühl, ich weiß nicht, wie man das nennt, komisch ist ja so was schon, wenn man drüber nachdenkt. Vor ein paar Tagen war ich bei Garretts im Laden, Du weißt ja, das Lebensmittelgeschäft, um ein paar Sachen für den Haushalt zu bestellen, etwas Vanilleextrakt, Soda und ein Pfund Kaffee, da kam Aleck Garter zu mir und sagte: »Eliza«, sagte er, »wenn Mister Gant zurückkommt, werde ich, glaube ich, einen Auftrag für ihn haben.« »Aber wieso, Aleck«, sagte ich zu ihm, »ich erwarte ihn kaum vor dem ersten April«. Na und also, wer kann das wissen wieso, ich war kaum wieder draußen aus dem Laden, ich nehme, an, ich muß an etwas ganz andres gedacht haben, denn ich entsinne mich genau, daß mir Emma Aldrich auf der Straße begegnete und mich ansprach … na, ich dachte gar nicht daran, mich mit ihr auf einen Schwatz einzulassen, ich wartete eigentlich nur drauf, daß sie weiterginge, und antwortete ihr gar nicht auf ihr Zeug, so sagte ich denn plötzlich, ja, ganz laut sagte ich, ja, ihr zu Gefallen rief ich aus: »Emma«, – es ist mir ja ganz überraschend gekommen, so wahr, wie ich hier stehe, ich war meiner Sache ganz sicher, also »Emma«, rief ich aus, »weißt Du, Mister Gant ist auf der Heimreise begriffen«, ja, ganz genau so –«
Jesus und Gott! dachte Gant. Es geht wieder los.
Elizas Gedächtnis bewegte sich im Seebecken des Geschehens wie ein riesenhafter Polyp, der zwar blind, aber vollkommen zum Tasten ausgerüstet, seinen Weg über Meereshöhlen, Rillen und Bodengebirge fühlt. Ihr gierig saugendes Gedächtnis hatte Anhaltspunkte an allen Dingen, die sie je gedacht, gefühlt, getan hatte. Sie war eine echte Pentland: Die Ereignisse rutschten aus der Leere für einen Nu in ihren Erlebnisrahmen und wurden dort für immer festgehalten.
Gant legte mittlerweile Kohlen und Holz aufs Feuer und murmelte vor sich hin. Er ordnete im Kopf seine Rhetorik: deutlich gegliedert, proportioniert und interpunktiert: ansteigende Sequenzen, ausgewogene Sätze, Höhepunkte.
…Ja, staubige Baumwollballen in langen Schuppen neben den Schienensträngen der Frachtbahnhöfe, verladebereit. Duftende Föhrenwälder der südlichen Ebnen, vom goldbraunen Feenlicht gesättigt, das zwischen hohen, geraden, glatten Stämmen steht. Ein Frauenbein beim Einsteigen in eine Kutsche, unter einem elegant gehobenen Rock in der Canal Street, vermutlich das einer Französin oder Kreolin. Die Beugung eines vollen weißen Frauenarms, der nach einer Fensterblende griff. Die olivenfarbnen Gesichter, die durch die Scheiben blickten. Die Gattin eines Arztes aus Georgia, die im Zimmer über ihm schlief, beim Ausgang. Das unauslöschbare, von Fischen überfüllte Übermaß des Stillen Ozeans; ungezäunt, blau, langsam, katzenhaft träg, an die Ufer schwappend. Und der Strom, der alles austrinkt, der Colorado River, die gelbe, langsam schürfende, den Kontinent entwässernde Schlange. Sein Leben war wie dieser Strom, reich mit Geröll, mit Fortgeführtem, mit Sedimentablagerung, unerschöpflich vom Leben gefüllt, daß es noch reicher würde. Und dieses Leben würde er nun im Hafen dieses Hauses ausströmen lassen. Diese Mündungsbucht würde genügen. Der Rebstock wand sich dreimal ums Haus, die Erde wucherte mächtig mit Blüte und Frucht, das Feuer brannte wild.
»Was gibt's zum Frühstück?« fragte er.
»Na«, sagte sie und schürzte die Lippe. »Möchtest Du ein paar Eier haben?«
»Ja«, sagte er, »mit ein paar Scheiben knusprig gebräunten Specks und mehreren Bratwürstchen.«
Er schritt durchs Speisezimmer und über die Diele.
»Steve! Ben! Lukas! Ihr verdammten Gauner!« gellte er. »Aufstehn!«
Beinah gleichzeitig stampften ihre Füße auf den Boden. »Papa ist zurück!« schrien sie.
Mister Duncan sah zu, wie die Butter in das frischbackne, warme Frühstücksbrötchen einsickerte. Er blickte auf, schräg durch die Gardine. Da sah er aus Gants Schornstein dicken, schweren wolkigen Rauch aufsteigen.
»Er ist wieder da«, sagte er befriedigt.
Als er den Rauch sah, im gleichen Augenblick, sagte Tarkinton, der Farbenhändler:
»W. O. ist zurück.«
So kehrte er heim, der ins Land gen Westen geschweift war, Gant, der Weitgewanderte.
VIII
Eugen tummelte sich nun auf den endlosen Wiesen des sexuellen Erlebens. Seine sinnliche Wahrnahme war vollkommen. Im Augenblick, wenn ihn etwas beeindruckte, dann verhaftete sich auch die ganze Umwelt samt dem Hintergrund in ihm mit Farbe, Wärme, Geruch, Laut und Geschmack. So brachte ihm später der Duft besonnten Löwenzahns warme Grashänge im Frühling, einen ganz bestimmten Tag, einen Platz auf der Wiese, das Rascheln jungen Erlenlaubs ins Gedächtnis zurück. Oder: so oft er an Gullivers Reisen dachte, erwachte er wieder zum Erlebnis des hellen, windigen Märztags, an dem er das Buch zum erstenmal las: das Kaminfeuer knisterte, Mandarinen dufteten nach dünner Exotik, der Schnee draußen tropfte und gluckerte unter lauen Windstößen, die Erde roch stark im Tauwetter, es war gut, in große, frostige Winteräpfel hineinzubeißen.
Über die Grenzen des Heims hatte er sich hinausgewagt. Er war noch nicht ganz sechs, als er aus eignem Antrieb zur Schule ging. Eliza hatte es ihm abgeschlagen; aber sein um ein Jahr älterer Spielgefährte Max Isaacs war schulpflichtig, und Eugens Herz zog sich zusammen bei dem Gedanken, daß er nun wieder allein sein solle. Eliza war nicht umzustimmen; sie spürte, daß das Schulleben langsam und endgültig die Bande, die ihren Jüngsten an sie fesselten. lösen würde. Aber als sie dann eines frischen Septembermorgens beobachtete, wie er schlau aus dem Tor schlüpfte und zur nächsten Straßenecke rannte, wo der andre kleine Junge auf ihn wartete, unternahm sie nichts, um ihn zurückzubringen. Etwas Gespanntes in ihr riß; sie sah ihn verstohlen zurückblicken und weinte. Sie weinte seinetwegen. In der Stunde nach der Geburt hatte sie in seinen dunklen Augen die grandios tiefe, ewig brütende, unendliche Einsamkeit gesehen. Sie wußte, daß ein Fremdling aus der Nacht ihres Schoßes gekommen war, einer, der einsam vor sich und der Welt in den verlornen Beziehungen zur Ewigkeit leben würde. O verloren!
In eigne Wachstumsschmerzen verstrickt, hatten Eugens Geschwister wenig Zeit für ihn. Lukas, der Nächstjüngste, war fast sechs Jahre älter. Gelegentlich quälten sie ihn mit jener kleinlichen Grausamkeit, mit der ältere Kinder jüngeren zusetzen. Es reizte sie, wenn er, aus tiefen Träumen gerissen, in wahnwitzigem Jähzorn ein Tranchiermesser ergriff und sie verfolgte oder in blinder Wut mit der Stirn gegen die Wand stieß.
Sie hielten ihn für nicht ganz richtig, für überzwerch, für »quer«. Die Jungen predigten die klebrige Feigheit der Kinderherde. Wenn ihre Quälereien aufkamen, dann behaupteten sie, sie wollten »einen rechten Kerl« aus Eugen machen. Eugen empfand wachsende Zuneigung für Ben, der behutsam im Haus herumstelzte, störrisch redete, die Brauen zusammenzog, das Geheimnis des Lebens wahrte. Auch Ben war ein Fremdling. Ein tiefer Instinkt zog ihn zu dem kleinen Bruder. Viel von seinem bescheidnen Lohn als Zeitungsträger gab er aus, um Geschenke für Eugen zu kaufen oder ihm sonst eine Freude zu machen. Er ermahnte den Kleinen mürrisch, puffte ihn zuweilen, aber vor den anderen verteidigte und schützte er ihn.
Da er den Jungen stundenlang beim Schein des Kaminfeuers über Bilderbüchern brüten sah, zog Gant den billigen Schluß, daß Eugen Bücher gern mochte … und baute darauf die vage Illusion, er wolle einen Juristen aus ihm machen und ihn in die Politik schicken. Da würde er dann Gouverneur, Senator und schließlich Präsident der USA werden. Immer wieder erzählte er ihm die plumpe amerikanische Legende von den Knaben vom Land, die große Männer im Staat wurden, weil sie eben Knaben vom Land, arme und fleißige Farmerbuben waren. Eliza jedoch dachte, Eugen würde einmal Gelehrter, Wissenschaftler, Professor werden. Sie glaubte, sie selbst hätte die Neigung zum Lesen in wohlweislicher Absicht in Eugens Gemüt gestiftet, eine fixe Idee, die Gant reichlich verdroß.
»Den ganzen Sommer, als ich ihn trug, habe ich jede freie Minute gelesen«, behauptete sie, und mit dem behaglich-selbstvertrauenden Lächeln, das sie stets aufsetzte, wenn sie von den Pentlands sprach, bemerkte sie dazu: »Ich will Dir was sagen, es ist leicht möglich, daß alles in der dritten Generation herauskommt.«
»Verdamm' die dritte Generation!« schnauzte Gant wütend.
»Na, nun aber hör mal«, sagte sie gedankenvoll und streckte den Zeigefinger zur Bekräftigung aus, »da muß ich Dir dann doch sagen, daß alle Welt dachte, aus seinem Großvater wäre ein großer Gelehrter geworden, wenn –«
»Barmherziger Heiland!« brüllte Gant los. Er sprang auf, schritt hämisch lachend im Zimmer auf und ab. »Ich hab's ja im voraus gewußt! Sicher« – er leckte aufgeregt seinen Daumen –, »wenn da überhaupt ein Verdienst zu erkennen ist, dann ist es bestimmt nicht meines. Lieber würdest Du verrecken, als so was zugeben. Lieber prahlst Du mit diesem elenden alten Gespenst von Deinem Vater, diesem Kerl, der in seinem ganzen Leben nie eine anständige Tagesarbeit geschafft hat.«
»Na, das würde ich dann doch nicht von ihm behaupten; jedenfalls, wissen kannst Du es nicht«, fing Eliza wieder an und schürzte schnell die Lippe.
»Jesus mein Gott! Welch eine Travestie!« schrie Gant ungebärdig. »Ärgere Furien hat selbst die Hölle nicht als ein gekränktes Weib!« Er wiederholte es mehrmals und lachte dabei bitter und gezwungen.
In der Dunkelheit seiner Seele befangen, wie ein fremder Gast in einer lärmenden Schenke, brütete Eugen beim Schein des Kaminfeuers über Büchern. Luftige Phantasiegebilde bauten sich in ihm auf. In Strömen bunter Bilder badete seine Seele. Er durchstöberte die Büchergestelle und fand Schätze. Er fand »Mit Stanley in Afrika«, reich vom Geheimnis des Dschungels, von kriegerischem Erlebnis, schwarzer Schlacht, sausendem Speer, dem schlangenknotigen Wurzeldickicht der Urwälder, den Dörfern aus Strohhütten, Gold, Elfenbein. Er fand Stoddards »Lektüren«, in dem die meistbesuchten Sehenswürdigkeiten Europas und Asiens abgebildet waren. Er fand »Das Buch der Wunder«, in dem die Großtaten des technischen Zeitalters in bezaubernden Zeichnungen standen: – Santos Dumont in seinem Ballon; flüssige Luft, die aus seinem Kessel ausgegossen wird; sämtliche Kriegsflotten der Erde, die nach der Berechnung von Sir William Crookes durch 30 Gramm Radium 60 Zentimeter über den Meeresspiegel gehoben würden; Darstellungen vom Bau des Eiffelturms und des New Yorker Bügeleisenbaus, das Automobil, das mit einem Stock gelenkt wird; das Unterseebot. – Nach dem Erdbeben von San Franzisko erschien ein Kolportageschinken über die Katastrophe: auf der billigen, giftgrünen Einbanddecke sackten Türme zusammen, taumelten Glockenstühle in der Luft, rutschten vielstöckige Häuser in den aufgähnenden, flammenzüngelnden Rachen der Erde. Ein andres Werk dieser Art hieß »Paläste voll Sünde« oder »Der Teufel in der guten Gesellschaft«. Es war angeblich von einem frommen Millionär verfaßt, der sein Vermögen darangegeben hatte, unter der Schminke die Krätze auf der Haut der Hochgestellten zu entblößen; reizvolle Bilder zeigten den Verfasser, wie er, den Zylinder auf, eine Straße hinunterging, in der viele großartige Paläste voll Sünde standen.
Aus dieser Galerie abgerißner Bilder baute seine brütende Phantasie die Welt. Die verlornen, dunkeln Engel aus Dorés Milton schwebten in die weiträumige Höhle der Hölle, die unter dieser Erde von aufstrebenden und zusammensackenden Türmen, von Maschinenwundern und eisengepanzerten, traumverwobnen Ritterromanzen lag. Und wenn er daran dachte, daß er einmal hinausziehen würde in diese schöne epische Welt, in der am weitesten von daheim das bunte Leben am hellsten strahlte, dann errötete er; so sehr stieg ihm das Blut zu Kopf.
Er wußte bereits, wie Kirchenglocken klingen, die sonntagsabends fernher übers Land läuten. Er hatte die Nachtsymphonie mit ihren Abermillionen Geräuschen belauscht. Er kannte den schrillen schwächerwerdenden Pfiff der Lokomotive in einem fernen Tal und den leisen Rumpeldonner des Zugs auf den Schienen. Er ahnte im verführerischen Nu die unendliche Weite und Tiefe der goldnen Welt mit ihren zahllosen, heimischen, ineinander verwobnen Gerüchen und Sinnesräuschen.
Er erinnerte sich an das »Ostindische Teehaus« auf der Weltausstellung; das Sandelholz, die Turbane und Gewänder, die kühlen Räume und den Duft des schwarzen Tees. – Er kannte den Geruch von Kellern; von Wassermelonen, die in Heu gebettet auf einen Farmwagen verladen werden; den Geruch von Pfirsichen, in Lattenverschläge gepackt; den Geruch von bittersüßen Orangenschalen vor einem Kohlenfeuer. Er kannte den Geruch von seines Vaters Zimmer, gemischt aus Leder, Tabak, Wolle, Schweiß und Männlichkeit … den beizenden von Holzfeuerrauch und von brennendem Laub an Oktoberabenden … den trägen der Erde im Spätherbst und den süßen des Jelänger-Jelieber in Sommernächten … den köstlichen von Speck-und-Eiern in der Pfanne zusammen mit dem von kochendem Kaffee. Er kannte den Geruch von einem Backofen im Wind, von buttergeschmälztem grünem Bohnengemüse aus einer Küche, von blauen Trauben in langen Weidenkiepen, von einer ungelüfteten Bodenkammer aus trocknem Tannenholz, in der eingekampferte Teppiche und stockfleckige Schmöker aufbewahrt werden.
Ja! und er kannte den Geruch von Tünche und Firnis, von neuem Leder im Sattlerladen, von Honig, Kaffeesäcken, Pickels, Käsen, Pfeffer und Werweißwasnoch im Krämergeschäft … den Geruch von Sägmehl, Hobelspänen und aufgeschichteten Bohlen, von alter Eiche und Walnuß, von Harz …
Ja! und den Geruch von Pfirsichen beim Einkochen und von Butter- und-Zimt auf heißem Jam … und den Geruch des trägen Flusses und von am Stock verfaulenden überreifen Tomaten … den Duft der Kirschblüte … den scharfen Geruch von Unkraut und Algen und Brackwasser und Torf bei einem Sumpftümpel … den Geruch der Erde nach langem Regen … den Geruch kochender Quitten und den des welkenden Lilienbeets … den ausgezeichneten Geruch der Südstaaten, sauber und bang, wie der einer großen Frau.
Ja! und den Geruch einer Margeritenwiese am Morgen … von schmelzendem Gußeisen in der Esse … von rauchenden Misthaufen und warmen Pferdeställen … den Geruch der Metzgerei nach starkem Hammel, feister Leber, gewürzter Wurst, rotem Rindfleisch … den Geruch zerriebener Pfefferminzblätter und den von einem nassen Fliederbusch; von Magnolien unterm Vollmond; von Lorbeer und Hundsholz … den Geruch von alten, verkrusteten Bruyèrepfeifen, von Virginiatabak, von Bourbon-Rye-Whisky in einem eichenen Faß … den Geruch von Karbol, den Geruch von einem treuen Haushund, von Schweinebraten, von Vanille in einem Kuchenteig … den Geruch von Farnkraut bei einer Quelle.
Ja! und den Geruch einer Eisenhandlung, hauptsächlich den reinlichen Geruch von Nägeln … den Geruch von Chemikalien zum Entwickeln aus der Dunkelkammer des Photographen … den junglebigen Geruch von Farben und Terpentin … von Buchweizenteig und schwarzem Sorghum … den Geruch von einem Neger zusammen mit dem von einem Gaul … den Geruch des dichten Unterholzes auf den Bergen der Südstaaten … von Austern in einem Schaff … von ausgeweideten Fischen auf Eis … von einer heißen Negerköchin … von Petroleum und Linoleum; von Sarsaparilla und Guaven, von herbstlich reifen Persimonen.
Ja! und den Geruch von Regen und Wind, des scharfen Donners, des kalten Sternlichts, des sprödhalmigen, gefrornen Grases; den Geruch von Nebel und wolkenverhängter Wintersonne; den Geruch der Saatzeit, der Blühzeit, des mürben, fallschweren Herbstes.
Und maßlos gelüstig gemacht durch diese Erfahrungen, fing er nun an in der Schule, in der Geographiestunde, die gemischten Gerüche und Düfte des Erdreichs zu ahnen. In jedem Fäßchen, das auf der Straße abgeladen wurde, roch er einen Schatz aus goldnem Rum, süßem Portwein, schwerem Burgunder. Er genoß den Dschungelwald der Tropen, den üppigen Duft von Plantagen … den Salz- Fisch- und Teerdunst der Häfen … Er reiste in eine weite Welt, die bezauberte ohne zu verwirren.
Nun waren die unzähligen Inseln des Archipels miteinander verbunden worden; festen Fußes stand Eugen auf dem unbekannten, wartenden Kontinent.
Er lernte sofort lesen; sein gutes Bildgedächtnis hielt den Umriß des gedruckten Worts scharf und genau fest. Aber es dauerte Wochen, bis er schreiben oder wenigstens Buchstaben nachziehen konnte. Schaumfetzen und Traumtrümmer der verlornen Welt schwammen immer noch durch sein klares Schultagsmorgengemüt. Obschon er sonst dem Lehrgang genau folgen konnte, blieb er ins alte Unwissen verbannt, sobald es ans Buchstabenmachen ging. Die Kinder zogen ihre unbeholfnen Alphabete unter einer Reihe von Modellbuchstaben, aber alles, was Eugen fertigbrachte, war ein Durcheinander schwanker, zittriger Speere, die er mit unendlicher Begeisterung andächtig wiederholte, unfähig einzusehen, wieso das keine Buchstaben wären.
»Ich habe schreiben gelernt«, dachte er.
Eines Tages guckte Max Isaacs plötzlich von seiner Übung herüber auf Eugens Blatt und sah die unebnen Zackenlinien.
»Das is' nich' geschrieb'n«, sagte er.
Er klemmte seinen Bleistift in die schmutzige, warzige Hand und schrieb die Vorbilder einmal in Eugens Heft ab.
Die lebendige Linie, die schöne, sich entwickelnde Struktur, die Eugen aus dem Bleistift seines Kameraden fließen sah, zerschnitt den Knoten, den keinerlei Unterweisung zu zerschneiden vermocht hatte. Er nahm den Bleistift, ohne weiteres, und schrieb die Buchstaben in schönerer, feinerer Ausführung, als es sein Freund vorgemacht hatte, auf die nächste Zeile. Er machte sich, einen unterdrückten Schrei in der Kehle, an die folgende Seite und schrieb ohne zu zögern das Vorbild ab. Und so tat er auf der nächsten und übernächsten. Mit dem hellen Staunen, mit dem Kinder ein Mirakel anerkennen, sahen sie einander an.
»Das is' jetz' geschrieb'n«, sagte Max.
Sie bewahrten das Geheimnis unter sich und sprachen nie davon. Eugen dachte später oft über diesen Vorfall nach. Er erlebte dann wieder das Aufspringen der Tore, das Eindringen der Flut, die Flucht. Ja, ganz genau so war es eines Tages geschehen.
Da er noch knirpsenhaft nah an der Erdkruste lebte, gewahrte er manche Dinge, die er geheimhielt, wohlwissend, daß man ihn auslachen würde, wenn er darüber berichte. Eines Samstags im Frühjahr gingen er und Max Isaacs die Central Avenue hinunter. Sie blieben vor einer Grube stehen. Arbeiter flickten ein gebrochenes Wasserrohr. Die aufgeworfenen Erdwälle waren höher als ihre Köpfe. Dahinter war eine weite Kluft, ein Fenster ins Erdinnere, durch das man in einen dunklen Stollengang sehen konnte. Als die beiden Buben hinunterblickten, packten sie plötzlich einander am Arm. Da unten glitt eine ungeheure Schlange. Sie sahen den flachen Kopf, den langen Schuppenleib, der im Umfang dicker als ein Manneskörper war. Der Kopf war schnell verschwunden, der Leib des Ungeheuers aber glitt endlos weiter in die tiefe, tiefe Erde hinein und verschwand schließlich, ohne daß die ahnungslosen Arbeiter überhaupt etwas merkten. Die Buben, vor Schreck zitternd, gingen fort. Dann und auch später sprachen sie nur im Flüsterton von dem Erlebnis. Aber sie erzählten keinem Menschen davon.
Eugen fand sich leicht in den geregelten Gang des Schullebens. Genau wie seine Brüder schlang er frühmorgens sein Frühstück hinunter, schluckte heißen Kaffee, packte, wenn das letzte Klingelzeichen der Schulglocke ertönte, ein fettfleckiges Papierbündel mit belegten Broten und rannte aus dem Haus. Das Herz hämmerte ihm zum Hals vor Aufregung; er machte schlapp, wenn der Ton der Schelle matter wurde.
Ben, stirnrunzelnd und hämisch, stemmte ihm eine Hand ins Kreuz und schob ihn bergan. Ganz außer Atem kam er ins Klassenzimmer und sang noch die letzte Strophe des Morgenlieds mit, das die in vier Gruppen eingeteilte Klasse als Kanon sang:
»… fröhlichsein, fröhlichsein,
Leben ist ein Traum …«
Manchmal, besonders an kalten Herbstmorgen, sangen sie auch: »erwacht ihr Herrn und Damen froh …« oder den Wettstreit zwischen Südwind und Westwind, im Frühling auch das lustige Müllerlied.
Lesen fiel ihm leicht; er buchstabierte zuverlässig; im Rechnen war er gut. Aber er haßte die Zeichenstunde, obschon ihn Buntstiftschachteln und Malkasten entzückten. Manchmal machte die Klasse Waldspaziergänge; sie kamen mit hochroten Ahornblättern, Tannenzapfen, braunem Eichenlaub zurück; das sollte gemalt werden. Im Frühling war es ein kleiner Kirschblütenzweig oder eine Tulpe. Eugen blieb stets befangen vor der rundlichen Klassenlehrerin, die den Unterricht erteilte. Er hatte Angst, irgend etwas zu tun, was in ihren Augen gemein oder unanständig wäre.
Die Klasse war unruhig und trieb Unfug. Die Jungen schäkerten mit den Mädchen, schrieben ihnen unzüchtige Zettel, erfanden Quälereien für sie. Die Wildlinge und Faulpelze benutzten jede Gelegenheit, auf die Toilette zu gehen: »Fräulein, bitte, darf ich mal raus?« Eugen brachte es nicht fertig, um so etwas zu bitten. Er schämte sich vor ihr. Einmal wurde ihm furchtbar schlecht; er wurde fast ohnmächtig vor Übelkeit … erbrach sich schließlich in die hohlen Hände.
Vor den Pausen fürchtete er sich, denn er haßte das Durcheinander und die Balgerei auf dem Schulhof. Sein Stolz erlaubte ihm nicht, einfach im Klassenzimmer zu bleiben oder sich stillschweigend zu drücken. Eliza hatte sein Haar lang wachsen lassen und wickelte es jeden Morgen um die Finger zu dicken Lord-Fauntleroy-Locken. Die Qualen und Demütigungen, die er wegen dieser Locken ausstand, konnte oder wollte sie nicht verstehn. Umsonst flehte Eugen, sie möge ihm das Haar schneiden lassen. Sie bewahrte die Locken von Ben, Grover und Lukas in kleinen Schachtein auf. Sie weinte manchmal, wenn sie Eugens Haar anschaute. Für sie waren diese Locken Merkzeichen dafür, daß Eugen noch ein Baby sei, Gedenkzeichen auch ihrer eigenen Herzenstrauer. Sie brachte es nicht über sich, sie zu opfern. Sogar als sich eine blühende Kolonie von Harry Tarkintons Läusen in dem dichten Gelock ansiedelte, ließ sie es nicht scheren, sondern behandelte die Kopfhaut zweimal täglich mit einem feinzinkigen Kamm.
Eugen zitterte und wand sich bei der Prozedur. Er flehte leidenschaftlich. Aber sie summte vor sich hin und sagte: »Aber was? Du bist doch gar kein großer Junge. Du bist doch mein Nesthäkchen.« Plötzlich verstand Eugen die nachgiebige Unbeugsamkeit ihres Wesens, die Ursache von Gants Wut. Er schrie auf, hilflos vor wahnwitzigem Zorn.
In der Schule war er ein gehetztes kleines Tier. Die Klasse in ihrem Herdeninstinkt hatte den Fremdling schnell herausgefunden. Sie trieben ihn zur Verzweiflung, sie jagten ihn unerbittlich. Wenn die große Mittagspause kam, packte Eugen sein fettfleckiges Papierbündel und rannte, vom heulenden Rudel verfolgt, über den Spielplatz. Die Führer der Bande, zwei oder drei ältere Lausbuben, die wegen Dummheit sitzen geblieben waren, drängten sich an Eugen mit der Aufforderung: »Gelt, Du kennst mich! Du kennst mich!« Sie keilten ihn in eine Ecke, rissen ihm Stück für Stück die belegten Brote aus der Hand, rauften sich mißgünstig um die Beute. Manchmal gelang es Eugen, ein halbes Brot aus den Händen der Räuber zu reißen und es schnell zu verschlingen. Wenn die Brote alle waren, lief das Pack davon.
An die große Phantastik der Weihnachten glaubte er noch. Abend um Abend im Spätherbst und Vorwinter kritzelte er Wunschzettel an den Nikolaus, schrieb fleißig immer wieder die Liste der Geschenke auf, die sein Herz am meisten begehrte. Dann warf er den Zettel in das auflodernde Kaminfeuer. Die Flamme faßte das Papier und wehte den verkohlten Rest zum Rauchfang hinauf. Gant rannte ans Fenster, deutete auf den wolkigen Nordhimmel und sagte:
»Siehst Du? Dort fliegt er, Dein Wunschzettel.«
Eugen sah. Er sah, wie der herrliche Botenwind seine Bittschrift nordwärts davontrug nach Weihnachtsland und ins lustige Reich der Schnee-Elfen; er sah die kleinen Dächer und Giebel der Spielzeugdörfer; er hörte das Lachen der Zwerge, süß und hell, wie ein Hämmerchen auf einem kleinen silbernen Amboß klingt; er hörte das Wiehern des himmlischen Rentiers, das den Schlitten des Nikolaus zieht. Gant sah und hörte dasselbe.
Zum Fest, wurde er mit buntem Spielzeugtand überschüttet. Von Grund seines Herzens haßte er die Leute, die für »nützliche« Geschenke sind. Gant kaufte ihm Karren, Schlitten, Pferde, Trompeten, Hörner. Das Schönste war ein kleiner Feuerwehrwagen, der das Wunder und später die Plage der gesamten Nachbarschaft wurde. Monatelang lebte er in der schulfreien Zeit im Keller mit Max Isaacs und Harry Tarkintott; sie hatten die Leitern auf dem Wagen so mit Draht festgemacht, daß sie im Handumdrehen angelegt werden konnten. Sie taten, als dösten sie auf Wache, ganz wie es die tapfere Feuerwehr tut. Plötzlich sprangen sie auf, wenn einer von ihnen die Alarmglocke »Klengelengeleng« nachmachte. Wie besessen stürzte Eugen zum Fahrerbock, stürzten Harry und Max auf die Seitenbänke. Sie rasten zum Keller hinaus, galoppierten vor ein Nachbarhaus, legten Leitern an, öffneten Fenster, erzwangen Eintritt, schrien, löschten eingebildete Zimmerbrände und fuhren dann wieder ab, ohne sich um das Gekeif der heimgesuchten Hausfrau zu scheren.