Kitabı oku: «Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze», sayfa 7
Monatelang gingen sie ganz in diesem Spiel auf. Ihr Vorbild war die städtische Feuerwehr, besonders aber der Schweizer Jannadeau, der Leutnant bei der Truppe war. Sie hatten gesehen, wie er, sobald der Alarm ertönte, eine gerade auseinander genommene Uhr auf dem Glastisch liegen ließ, aus seinem Juwelierladen neben Gants Werkstatt stürzte, über den Stadtplatz stürmte und wie ein Verrückter rennend den großen Löschwagen gerade noch erreichte, als dieser zur Halle herausfuhr. Die Feuerwehr gab waghalsige Schaustellung vor der gaffenden Bürgerschaft; sie führten tollkühne Kunststücke an den Leitern aus. Ein Mann hielt einen zweiten an den Armen in der Schwebe, und Jannadeau wagte den halsbrecherischen Sprung nach den Armen des Schwebenden und hing sich an dessen Händen ein. Den Leuten lief es eiskalt den Buckel hinunter.
Wenn nachts Alarmschellen durch den heulenden Wind tönten, fuhr der Dämon in Eugens Herz. Er träumte sich in Herrschaft, in fliegende Herrlichkeit über Feuersbrunst, Dunkelheit, Sturm und alle Mächte, über eine Welt höllischer Widersacher; er bestand wilde Abenteuer der Einsamkeit, Begegnungen mit Feinden im Gewitter, warf Blicke durch regengepeitschte, sturmerschütterte Fenster auf Frauen.
Ja, auf ein Reich von Frauen, die schönleuchtend, mit angehaltnem Atem im Bette lagen. Über Welten hinweg, zwischen zitternden Säulen aus Duftrausch kam er zu ihnen. Das Geheimnis des weiblichen Körpers, rätselhaft dunkel und groß, hatte es ihm angetan. Bald auch fand er Unterweisung für seine Neugier bei den ungekämmten Gören von Doubleday, die die Herzen der kleineren, zarteren Jungen mit Furcht und Verwunderung erfüllten. Doubleday war das verseuchte Stadtviertel, in dem das ortsansässige Pack der stumpfen Gebirgsrasse hauste, rohes Volk, das nachts auf den Gassen herumlungerte und gegen andre Banden mit Steinen Krieg führte, so daß es in der Nacht von Allerheiligen blutige Köpfe und zerbrochne Schädel gab.
Eugens Mitschüler Otto Krause war der Sohn deutscher Einwandrer. Er war ein struppiger, käsenasiger Bursch mit schmalen, dünnen Brauen, sehr schnell auf den hageren Beinen; er war ewig heiser und hatte ein idiotisches Lachen. Dieser Otto Krause zeigte ihm die Gärten der Lust.
Ein Mädchen namens Bessie Barnes war schwarzhaarig, hochgewachsen, mit einer kecken aufreizenden Figur … Sie diente als Modell. Bessie war dreizehn, Otto war vierzehn. Eugen war acht. Alle drei gingen sie in die drittunterste Volksschulklasse. Otto saß neben Eugen.
Otto schrieb und zeichnete Schweinereien auf Zettel und reichte sie über den Gang zwischen den Bankstaffeln der Bessie hinüber. Die Nymphe machte eine unzüchtige Miene, hob elegant die Hinterbacke und gab sich einen verächtlichen Klaps auf den Schenkel, eine Gebärde, die Otto für eine Zusage hielt und gekitzelt mit einem heiseren Kichern beantwortete.
Die Bessie ging dem Eugen im Kopf herum.
Während des Unterrichts vergnügten sich Otto und Eugen heimlich damit, Unanständigkeiten in ihre Geographiebücher zu zeichnen. Die dargestellten Ureinwohner der Tropen versahen sie mit Hängebrüsten und mächtigen Geschlechtsteilen. Auf kleine Zettel schrieben sie kurze schweinische Reimereien über die Lehrerin und den Rektor. Miss Groody, die Lehrerin, war eine magere alte Jungfer mit rotem Gesicht und grellen Augen. Otto dichtete von ihr:
»Die alte Miss Groody
Hat gute Toody.«
Eugens Poesie galt der Person des Rektors. Dieser war ein fetter, weichlicher, geckenhafter junger Mann namens Armstrong. Er trug stets eine Nelke im Knopfloch, deren Duft er, wenn er einen Buben verwichst hatte, mit geblähter Nase und niedergeschlagenen Lidern einsog. Im Ansturm der ersten, reinen und reichen Schaffensfreude verfaßte Eugen Dutzende von Reimen, die Armstrong und dessen Eltern schmähten und den jungen Mann unkeuscher Beziehungen zu Miss Groody bezichtigten.
Eugen war besessen. Er verbrachte den ganzen Tag damit, diese Themen in liederlichen Reimen zu variieren. Und gewann es nicht über sich, diese Kunstwerke zu zerstören. Er verwahrte die zerknitterten Zettel in seinem Gefach unter der Bank. Eines Tages in der Erdkundestunde wurde er von der Lehrerin ertappt. Seine Knochen wurden wie Gummi, als sie ihn grell anfunkelte und den Zettel mit seiner Kritzelei, im Buch versteckt, entdeckte. Während der Pause untersuchte sie sein Gefach unter der Bank, las die vielen Sequenzen und befahl ihm mit vielsagender Ruhe, sich nach der Schule beim Rektor zu melden.
»Was wird's da geben?« wisperte er mit trockner Stimme zu Otto Krause.
»Haue, Haue!« sagte Otto und lachte heiser.
Die Klasse höhnte ihn schadenfroh. Sie rieben sich den Allerwertesten vor seinen Augen und schnitten weinerliche Grimassen dazu.
Eugen wurde übel; nicht aus Furcht vor den Schmerzen, sondern aus Ekel vor der Demütigung. Er empfand Bewunderung und Neid vor der seelischen Unempfindlichkeit seiner Klassenkameraden, die eine Tracht Prügel einfach hinnahmen, laut heulten, um die Schläge zu mildern, und zehn Minuten später die ganze Sache vergessen hatten. Er wußte, daß er es nie verwinden könne, wenn ihn der feiste junge Mann mit der Nelke im Knopfloch verhauen würde. Um drei Uhr meldete er sich auf dem Rektorzimmer, kreideweiß im Gesicht.
Armstrong, schlitzäugig und dünnlippig, hielt den Stock in der Hand, als Eugen eintrat. Er ließ den Stock durch die Luft sausen. Hinter ihm auf dem Schreibtisch lagen, ein säuberlich geordneter Stoß, die Zettel mit dem gereimten Schimpf.
»Hast Du das Zeug da geschrieben?« fragte Armstrong und machte seine Augen klein wie Punkte, um Eugen Angst einzujagen.
»Ja«, gestand Eugen.
Armstrong ließ abermals den Stock durch die Luft sausen. Er hatte Daisy mehrere Male zu Hause besucht und an Gants reichgedecktem Tisch gegessen. Er erinnerte sich dessen genau.
»Habe ich Dir je etwas zuleid getan. Söhnchen, daß du mich so verunglimpfst?« knirschte die gekränkte Großmut.
»N – n – nichts«, stotterte Eugen.
»Willst Du es je wieder tun?« tönte die schneidende Strenge.
»N – n – nein, Herr Rektor«, antwortete der Sünder mit versagender Stimme.
»Gut! Dann will ich Dir's hingehn lassen«, sprach Gott in seiner Größe. »Du kannst gehen.«
Eugen fand seine Beine erst wieder, als er draußen auf dem Spielplatz war.
Aber oh! der herrliche Herbst! Die Lieder, die sie sangen! Lieder von der Ernte und vom verfärbten Wald, und »Heut ist halber Feiertag …« und »Droben in der Luft so hoch der Drache …« und das Schnellzugsliedchen: »Stationen sausen im Flug vorbei wie ein Pfiff …« Oh, diese mürben Tage! Die Tore des Verlangens taten sich auf; Nebel verspannen die Sonne; das welke Laub fiel raschelnd durch die Luft auf den Boden.
»… Und jede dieser kleinen Schneeflocken ist anders in der Form als alle anderen.«
»Wirklich, Miss Pratt? Jede?«
»Ja, jede Schneeflocke ist anders als alle anderen, die es je geschneit hat. Die Natur wiederholt sich nie.«
»Oh!«
Bens Bart wurde flück; er rasierte sich bereits. Er tollte stundenlang mit Eugen, drückte ihn aufs Ledersofa und kratzte die zarte Wange des Kleinen mit den dünnen spitzen Kinnstoppeln. Eugen quietschte.
»Ha! Wenn Du das erst mal kannst, bist Du'n Mann«, sagte Ben. Und er sang mit seiner dünnen summenden Gespensterstimme:
»Peck peck peck! pocht der Specht an die Schulhaustür,
Peck peck peck! und sein Schnabel ward wund,
Nun schnelle an der Schelle auf dem Schulhaus gewetzt,
Peck peck peck! ward der Schnabel gesund.«
Sie lachten, Eugen mit schaukelnden Kehllauten, Ben mit fast lautlosem Kichern. Er hatte wäßrige graue Augen und eine gelbe, finnige Haut. Sein Kopf mit der hohen knochigen Stirn war wohlgeformt. Sein Haar war kraus, ahornbraun. Unterhalb der ständig zusammengerückten Brauen war sein Gesicht klein und lief spitz zu. Sein ungewöhnlich sensitiver Mund lächelte kurz, flackernd, mit eingezogenen Lippen. Wie ein Lichtschein über eine Klinge läuft, so huschte das Lächeln über Bens Mund. Ben gab stets einen Puff, wenn er eigentlich streicheln wollte; er war sehr zärtlich und sehr stolz.
IX
Ja, und die Zeit, wenn Proserpina wiederkehrt, wenn der Zeres totes Herz aufs neue entbrennt, wenn aller Wald von zartem Dunste schwimmt und winzige Vögel durch ausgelaubtes Gezweig singender Bäume flitzen, wenn der schwammige Teer auf die Straßen gefahren wird und die Buben, die Taschen klümprig mit Kreiseln und achatnen Murmeln, kleine heiße Teerbälle auf der Zunge rollen … ja, dann grollt der berstende Donner nachts, dann fällt der millionenfüßige Regen; morgens sieht man, Wolkenfetzen am stürmischen Himmel … und wenn der Junge aus dem Gebirg, der Handlanger, seinen Leuten, die einen Zaun setzen, den Wasserkrug bringt, dann hört er den Wind durchs Gras schlängeln und drunten im Tal den langhinseufzenden Pfiff und das matte Geläut einer Schelle … die großen blauen Berge scheinen ihm näher, dichter, herangerückt, denn er hat ein wortloses Gelöbnis vernommen: der Frühling, ein scharfes Messer drang in sein Herz.
Und das Leben wirft den rostroten, verwitterten Schutzpelz ab, und die Erde sprießt auf mit zarter, unerschöpflicher Gewalt, und der Becher des Menschenherzens fließt über von sagenhaftem Erwarten, stummen Versprechungen, unerklärlicher Sehnsucht. Irgend etwas schnürt dem Menschen die Kehle, irgend etwas blendet ihm den Blick, und ein mutiger Hörnerklang tönt leise durchs Erdreich.
Die kleinen langzöpfigen Mädchen trotten pflichtschuldig den Schulweg – aber die jungen Götter säumen. Sie hören die Schalmei, die Flöte, das Getrampel der Bockshufe im moosigen Wald. Sie schwanken, sie lauschen, sie sind am gespanntesten, wenn sie müßig zu warten scheinen; schließlich gehen sie verwirrt weiter zu dem einzigen Heim, das sie kennen. Aber die Erde ist voll von uraltem Rumor, und sie können den Weg nicht finden. Alle Götter haben den Weg verloren, alle.
Was sie gegen die Barbaren hatten, hüteten sie. Eugen, Max und Harry regierten über die kleine Nachbarschaft. Sie führten Krieg gegen die Neger und die Juden, an denen sie ihren Spaß hatten, und gegen die verhaßte, verachtete Brut aus der Pigtail Alley.
Sie hockten in der Dämmerung auf der Mauer, bei der flackernden Gaslaterne an der Straßenecke, und spähten aus. Sie lagen in Gants Garten im dichten Gebüsch versteckt und lauerten auf verliebte Negerpärchen, die dort vorbeigingen. Sie hatten einen langen, ausgestopften Strumpf an einer Strippe; das Ding sah wie eine Schlange aus. Das Stammeln, Gurgeln, Quieken der Erschreckten, das Lachen der Buben gellte im Dunkel. Dem schwarzen Lieferjungen des Grünzeughändlers, der auf dem Fahrrad elegant im Freilauf den Berg hinuntersauste, schmissen sie Steine nach.
Nein, sie haßten sie nicht, die Neger. Clowns sind eben schwarz in den Südstaaten. Sie hatten gelernt, wie man mit diesem Volk umgehen muß. Puffe sie in Güte, verfluche sie freundlich, gib ihnen mächtig zu futtern. Menschen behandeln einen treuen, schwanzwedelnden Hund gut, aber muß dieser Hund gewohnheitsmäßig auf zwei Beinen herumlaufen? Sie wußten: von einem Nigger nimmt man nichts an. Man läßt sich nicht auf Argumente mit ihm ein. Die einzige Antwort auf die Einwände des Schwarzen ist ein Knüppel auf den Kopf und ein Schädelbruch. Bloß, daß es unmöglich ist, einen Niggerschädel zu brechen.
Die Juden spuckten sie lustig an. Ersäuf den Juden, verhau den Nigger.
Die Jungen paßten auf Juden, folgten ihnen bis ans Haus und schrien: »Gänseschmalz! Gänseschmalz!« Sie glaubten unbedingt, daß Semiten in der Hauptsache von Gänseschmalz leben. Oder sie riefen: »Wischamadei! Wischamadei!«, blind davon überzeugt, daß dieses entstellte, vielleicht falsch überlieferte, vielleicht freierfundne Schimpfwort die tiefste, unaussprechlichste Beschimpfung für jüdische Ohren sei.
Eugen war nicht für Pogrome; bei Max aber war es Leidenschaft. Ihre Nachstellung galt vor allem dem kleinen Isaak Lipinski. Sie überfielen ihn bei jeder Gelegenheit, jagten ihn über Straßen und Wege, über Zäune und durch Gärten, durch Scheuern und Ställe bis in sein Elternhaus. Der kleine Kerl mit dem pfiffigen Gesicht war flink und gewandt. Immer entkam er. Er grinste mit jiddischer Verachtung und Überlegenheit, deutete mit dem Daumen auf sie, forderte sie zwinkernd zur Wiederverfolgung heraus.
Manchmal in der Dämmerung schlichen sie vor ein jüdisches Haus. Sie kauerten unterm Fenster, eng aneinandergedrückt. und lauschten kichernd auf den hysterischen Zank, von dem beinah allabendlich die vier Wände der Hebräer bebten.
Johlend liefen sie einst hinter zwei streitenden Juden, einem Alten und seinem Schwiegersohn, her. Die beiden griffen ständig an und kniffen ständig aus, drangen abwechselnd aufeinander ein und wichen im letzten Augenblick voreinander zurück. Die Buben barsten fast vor Lachen.
Der blasse Louis Greenberg, kürzlich von der Universität heimgekehrt, trank Blausäure. Der Vater des Selbstmörders, ein orthodoxer Alter, wurde gerufen. Eugen, Max und Harry standen neugierig vor dem Klagehaus. Der Alte kam. Er trug einen schwarzgrünen speckigen Kaftan und einen verbeulten steifen Hut. Er gestikulierte wild und jammerte: »o yoi, o yoi, o yoi, o yoi … oyoiyoipoipoi …« und rannte ins Haus. Die Rangen lachten sich halbkrank über ihn.
Die flachshaarigen Kinder aus der Pigtail Alley aber haßten sie mit einem humorlosen, tödlichen Haß. Pigtail Alley war eine kotige Gasse am untern Ende der Woodson Street, am Rande eines veralgten Sumpfs. Dort hauste in elenden, weißgetünchten Holzhütten verkommenes Volk, arme Weiße. Knochige, schnupfnasige Weiber und wüste, dumpfe Männer, denen der Kautabakspeichel über die brutalen Kinnbacken lief, lungerten in der Sonne vor den stinkenden Hütten herum. Die Kinder waren fast alle weißblond. Abends roch es nach halbfaulem Fleisch, das in ranzigem Fett gebraten wird. Flackernde Ölfunzeln brannten in den trüben Hausungen. Man hörte das scharfe Gekeif der Weiber und das besoffne Gebrüll der Männer, Geschrei und Flüche, Flüche und Geschrei.
Einst zur Kirschenzeit hatte Lukas, der Hauptmann, seinen Trupp Zeitungsträger, Judenbuben und Christensöhne, zum Pflücken in Gants Garten gebracht. Die ganze Bande turnte im Geäst und brach die hellroten Herzkirschen in kleine Körbchen; ein Viertel des Gepflückten sollte den Arbeitenden gehören. Ein weißblonder Bub aus den Elendshäusern erschien mit unschlüssigem, traurigem Gesicht im Garten.
Lukas war fünfzehn. »Immer rauf auf den Baum, Söhnchen!« befahl er herzhaft. »Da! Nimm Dir ein Körbchen und los!«
Eugen wiegte sich begeistert und lebensfroh im höchsten Wipfel des Baums. Der Bub kam wie eine Katze den beharzten Stamm heraufgeklettert, schwang sich ins Geäst und pflückte mit unglaublicher Geschwindigkeit sein Körbchen voll. Er ließ sich gewandt auf den Boden herunter und leerte es in den großen Sammelkorb. Er war schon wieder halb den Stamm hinaufgeklettert, als seine Mutter, ein hageres, knochiges Weib, im Garten erschien.
»Haij, Reese«, schrillte sie. »Was suchstu'enda?« und hieb ihm mit einer Gerte über die braunen Waden. Der Junge heulte.
»Mach, daß 't hejmkummst«, befahl sie und schlug ihn wieder.
Keifend trieb sie ihn mit Rutenschlägen vor sich hin. Der Bub sprang hoch vor Schmerz und schrie auf. Wenn er stehen bleiben wollte, schlug sie noch härter zu.
Die Buben auf den Bäumen kicherten schadenfroh. Aber Eugen, der das verhärmte, verhärtete Gesicht der Frau, das zornige Mitleid in ihren grellen Augen gesehen hatte, spürte einen Stich im Herzen. Es war, als ob ein Geschwür in ihm risse.
»Der arme Kerl, er hat seine Kirschen hiergelassen«, sagte er zu Lukas.
Die Buben johlten hinter Loney Shytle her, die nach Lumpen stank, einen riesenhaften Federhut auf dem trüben Fransenhaar trug, faustgroße Löcher in den Fersen ihrer schmutzigen weißen Strümpfe hatte. Sie war der Grund blutschänderischer Eifersucht zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder; am Hals hatte sie eine große Narbe von einer Wunde, die ihr ihre Mutter einst mit dem Rasiermesser beigebracht hatte; sie hatte den steifen, spreizbeinigen Hoppelgang der Geschlechtskranken.
Eines Tages hatten sie einen Buben aus der Alley umzingelt. Furchtsam zog sich der arme Kerl in eine stinkende Mauerecke zurück. Willie Isaacs, ein jüngerer Bruder von Max, verhöhnte ihn, hämisch lachend:
»Deine Mutter nimmt Wäsche ins Haus; sie wäscht für 'nen dreckigen ollen Nigger!«
Das Opfer des Hohns zuckte im Gesicht. Willie bog sich vor Lachen über den trefflichen Einfall. Harry Tarkinton brüllte vor Vergnügen. Eugen wandte sich unentschieden weg, renkte krampfhaft den Hals, hob den einen Fuß scharf vom Boden wie jemand, der sich vor Schmerz windet:
»Das ist gelogen!« schrie er seinen erstaunten Gefährten ins Gesicht. »Das ist gelogen!«
Harry Tarkintons Eltern waren aus England eingewandert. Er war drei oder vier Jahre älter als Eugen, ein untersetzter, täppischer Junge mit stumpfem Gesicht und einer von chronischem Katarrh verschwollnen Nase. Immer roch er nach den Farben und Ölen, mit denen sein Vater handelte. Er war der Zerstörer der Visionen, der Anstifter zur Anstößigkeit. Eines schönen Abends lagen sie und schwatzten im hohen kühlen Gras. Die Sonne ging unter. Da zertrümmerte Harry auf immer den holden Zauber, der Weihnachten heißt. Dafür bot er Eugen den Ölfarbengestank, die Abortluft, die stumpfe, schweißige, phantasielose Passion des Vulgären. Eugen konnte ihm nicht folgen; in diesen Regionen roch es ihm zu schlecht.
An einem öden Nachmittag stöberten die zwei im Dachstock des Gantschen Hauses. Sie fanden eine Flasche, halbvoll mit einem Haarwuchsmittel.
»Hast du schon Haar unten am Bauch?« forschte Harry.
Eugen war verlegen, machte Ausflüchte, gestand. Sie knöpften sich die Hosenlätze auf und schmierten sich mit öligen Händen die Bäuche ein. Tagelang warteten sie verzückt auf das Goldne Vlies.
»Haar da unten macht 'nen Mann aus Dir«, behauptete Harry.
In diesem Frühling ging Eugen oft in die Werkstatt seines Vaters am Stadtplatz. Alles dort gefiel ihm: Die helle Sonne auf dem Pflaster. Der Blick aufs Gebirg. Das wehende Gesprüh des Springbrunnens. Die redseligen Feuerwehrmänner. Die Kutscher und Fuhrleute, die sich träg vor Gants Backsteinschuppen herumtrieben, mit den Peitschen um die Wette knallten, miteinander häkelten. Jannadeau hinter den niegewaschnen Scheiben, der, die Uhrmacherlupe eingeklemmt, geschickt etwas im Räderwerk einer Uhr richtete. Der moosige, feuchte Geruch des ganzen Baus.
Im ersten Raum war Gants Lager: der Boden hatte sich vom Gewicht der Steine gesenkt. Da standen polierte Platten aus Georgia-Marmor, unbehaune Blöcke aus Vermont-Granit, bescheidne, mit einer Urne oder einem liegenden Lamm gezierte Grabmale, und – große, fliegenverdreckte verstaubte Engel aus Carrara in Italien, die Gant für schweres Geld erstanden hatte und nie verkaufte. Sie waren seine Freude, sein Stolz.
Durch eine Holzwand abgeteilt war ein anderer Raum, die Werkstatt mit dem Abort in der Ecke und dem Waschbecken. Der Steinstaub lag fingerdick auf den groben Holzböcken, den mit Meißeln, Bohrern, Hämmern vollbesteckten Werkzeugregalen, dem kleinen, zerbeulten gußeisernen Ofen. Sandsteinsockel standen herum. Brennholz und Kohle lagen in losen Haufen aufgeschüttet am Boden. Am Fenster stand ein Schleifstein mit einem Pedal; Eugen spielte stundenlang damit; das zunehmende Sausen des Rades begeisterte ihn.
Ein dritter, kleinerer Raum diente Gant als Büro. Staub von zwanzig Jahren, zusammengebündelte Stöße von schmutzigen Papieren auf dem altmodischen Schreibtisch; ein Ledersofa, ein zweiter Schreibtisch, auf dem geschichtet kleine rechteckige Täfelchen, die Stein- und Politurmuster, lagen. Durch die trüben Scheiben des niegeöffneten Fensters blickte man auf Will Pentlands Bürohaus und Holzlager hinaus und sah eine Ecke des Marktplatzes, der, nur durch einen kurzen Straßenblock abgeschnürt, auf dem Hang neben dem Stadtplatz lag.
Gewöhnlich fand Eugen seinen Vater im Gespräch mit Jannadeau in der Juwelierwerkstatt; Gant stützte sich schwer auf den zerbrechlichen Glastisch. Oder die beiden Männer unterhielten sich über den Zaun, der Jannadeaus Ecke von dem Grundstück ausgrenzte. Sie sprachen über Politik, Krieg, Tod und Hungersnot. Gant Schimpfte auf die Demokraten und schob ihnen die Schuld am schlechten Wetter und an den hohen Steuern in die Schuhe. Er pries Teddy Roosevelts sämtliche Aussprüche, Handlungen und Prinzipien. Der urteilsfähige, besonnene Schweizer entgegnete mit statistischen Einwänden. Sein einziges Nachschlagewerk war ein drei Jahre altes Exemplar von »The World Almanac«, vollständig abgegriffen und mit Fingerspuren beschmutzt. Er schlug nach und bemerkte etwa so: »Aha! Ganz wie ich mir dachte! Die Munizipalsteuer in Milwaukee während der demokratischen Verwaltung 1905 war 2,25 Dollar auf Hundert, also niedriger als sie seit Jahren war.« Er disputierte mit Eifer und bohrte dabei mit seinen stumpfen schwarzen Fingernägeln in der Nase. Sein breites gelbes Gesicht legte sich in fettige Falten, wenn er über Gants Unvernunft lachte.
Gant aber war nie abzubringen, nie zu überzeugen: »Ich prophezeie es, Jannadeau«, dröhnte er, »wenn die Demokraten bei der Wahl gewinnen, dann kommt es zu Bankkrächen, wir müssen Suppenküchen, für die Armen einrichten, und wir beide werden vor Hunger verreckt sein, ehe noch der nächste Winter herum ist.«
Dann wieder fand Eugen seinen Vater in der Werkstatt, über den Bock gebeugt, wie er mit dem gelenken Meißel und dem Holzhammer eine Inschrift in Stein schnitt. Gant trug nie Arbeitskleider, sondern behielt den wohlgebürsteten schwarzen Straßenanzug an. Er hatte den Rock abgelegt und einen langen, gestreiften Schurz vorgebunden. Wenn Eugen ihm bei der Arbeit zusah, spürte er immer, daß sein Vater kein gewöhnlicher Handwerker, sondern ein Meister sei, der für ein paar Minuten gerade letzte Hand an ein Kunstwerk legt.
Keiner tut es ihm gleich, dachte Eugen und stellte sich vor, wie seines Vaters Werk in überwucherten Friedhöfen ihn und die Zeiten überdauern würde. Er empfand Mitleid mit Krämern, Brauern, Kleidermachern, mit Farbenhändlern wie Harrys, Installateuren wie Max' Vater, deren Arbeit verwitterte, verrostete, verfiel, verdarb, verging. Er bedauerte alle Männer, die dahinscheiden, ohne ihre Namen in Felsen gesprengt, ihre Merkzeichen in Klippen gehauen zu haben. Er forschte im Geist nach einem Material, in dem ein Zeichen, ein Mal, ein Emblem unvergänglich, unvergeßlich, auf ewig unzerstörbar sei.
Dann wieder fand Eugen seinen Vater, wie er, die Hände auf dem Rücken, mit zornigen Schritten auf und ab ging und drohend vor sich hin murmelte. Eugen verhielt sich dann still und wartete. Nachdem der Alte achtzig- oder neunzigmal die Bahn zwischen den Steinklötzen gemessen hatte, stürmte er jählings zur Tür und ließ unter Wutgeheul eine Jeremiade auf die Fuhrleute los, die vor seiner Schwelle herumlungerten und ihn geärgert hatten.
»Ihr Niedrigsten unter den Niedrigen! Ihr Schlimmsten unter den Schlimmen! Lausige, verbummelte Taugenichtse Ihr!!! Ihr habt mir den Hunger ins Haus gebracht! Ihr habt mir das bißchen Kundschaft, das mich ins Brot gestellt härte, von der Türe verscheucht! Ich hasse Euch! Meilenweit stinkt Ihr mich an! Ihr verfluchtes, entartetes, hoffnungsloses Gezücht, Ihr würdet die Pfennige stehlen, mit denen man die Lider der Toten beschwert, auf daß ihre Augen nicht zum Himmel starren, so wie Ihr mich bestohlen habt, furchtbare, entsetzliche, blutdürstige Bankerte aus dem Gebirg, die Ihr seid!«
Er rannte brummend in die Werkstatt zurück, erschien aber einen Augenblick später wieder in der Tür mit gewaltsam beherrschtem Gesicht und verkündigte:
»Ich warne Euch ein für allemal: wenn ich Euch wieder hier auf der Schwelle meiner Werkstatt treffe, dann lasse ich Euch ins Gefängnis werfen!«
Die Kutscher und Fuhrleute, gutmütige Neger, machten Gesichter wie Hammel und gingen, mit ihren Peitschen spielend, zu ihren Wagen. »Der Alte ist aber heut aufgebracht, Gottogott. Was er nur hat?«
Keine Stunde verging, und sie saßen wieder wie Schmeißfliegen auf den Stufen vor Gants Tür. Gant kam heraus, um auszugehen. Sie grüßten ihn freundlich, denn sie mochten ihn gern.
»'n Tag, Mister Gant.«
»Guten Tag, Jungens«, sagte er herzhaft, als wäre nichts vorgefallen, und schritt eilig davon.
Wenn Eugen eintrat und Gant beschäftigt fand, grüßte der Alte nur kurz: »'Tag, Söhnchen!« und meißelte an der Inschrift weiter. Bald aber schliff er die Lettern mit Wasser und Bimsstein ab, zog den Schurz aus, legte den Rock an und sagte zu dem erwartungsvoll herumstehenden Jungen: »Komm mal mit, mich deucht, Du hast Durst!«
Sie gingen über den Stadtplatz in die kühle, tiefe Drogerie, standen vor der onyxglänzenden Sodafontäne unter den surrenden elektrischen Fächern und tranken eisgekühlte, kohlensaure Getränke … Limonaden, so kalt, daß Eugen Kopfweh davon bekam, oder schäumende Eiskremsoda, die ihm mehrmals mit scharfem köstlichem Kitzel in der Nase aufstieß.
Eugen verließ dann, um 25 Cent reicher, seinen Erzeuger und brachte den Rest des Nachmittags in der Bibliothek am Stadtplatz zu. Er las nun schnell und leicht. Mit wahrem Heißhunger fiel er über romantische Abenteuerbücher her. Zu Haus verschlang er ganze Stöße von Fünf-Cent-Romanen, die Lukas auf seinem Bücherschaff gesammelt hatte und nie las. Er war ganz verwoben in die wöchentlichen Abenteuer von »Jung-Wild-West«, phantasierte abends im Bett von tugendsam-heldenhaften Beziehungen mit der schönen Arietta, verfolgte Nick Carters Bahnen durch das Labyrinth weltstädtischer Verbrecherviertel, genoß den Triumphzug der Athleten Frank Merriwell und Fred Fearnot und schwelgte im Ruhm nichtendenwollender Siege der Freiheitskämpfer von 1779 über die britische Armee der verhaßten Rotfräcke.
In den ersten Jahren seiner Lesewut interessierte ihn vor allem materieller Erfolg. Aus der Liebesgeschichte machte er sich nicht viel. Die sündenreinen Frauengestalten der Knabenbücher, mit Sägmehl gefüllte Stoffpuppen, die tanzende Augen, langes Haar und tugendhafte Meinungen haben, genügten ihm vollständig. Sie waren der Lohn der Tapferkeit, der Preis, der im letzten Augenblick durch Degenstoß oder Schuß den Händen des Bösewichts entrissen und dann zusammen mit einem erklecklichen Einkommen genossen wird. Aus der Stadtbibliothek verschlang er Jugendschriften zu Dutzenden, »Mut und Glück«, »Schwimm oder geh unter«, »Schneid«, »Jakobs Mündel«, »Der Knabe aus dem Armenhaus«, und wie sie alle hießen. Er weidete sich in Gedanken an den schweren Summen, die den Helden dieser Werke stets zuteil werden, ein Motiv in der Knabenlektüre übrigens, das noch nicht genügend erkannt ist; – … Eine Eisenbahnschiene ist los, man signalisiert dem Zug, dem Lebensretter winkt reicher Lohn … Eine banknotengespickte Brieftasche wird gefunden und dem Eigentümer zugestellt … Der Wert wertlos geglaubter Aktien wird aufgedeckt … Ein reicher Gönner taucht zufällig auf und hilft dem armen Erfinder … – alle diese Arten zu Vermögen zu kommen, verhafteten sich in Eugen zu Wunschbildern.
Mit dergleichen Geldsachen befaßte er sich bis ins kleinste. Ungeheuer wichtig war es, den Wert jenes Besitztums zu wissen, das der schurkische Vormund an sich gebracht hatte! Eugen rechnete sich die Jahres-, Monats-, Tagesrente des Kapitals aus, stellte sich vor, was er sich dafür kaufen würde. In seinen eignen Ansprüchen war er keineswegs bescheiden. Unter einer Viertelmillion Dollar, dachte er, könne er kaum anständig auskommen. Das Einkommen von 100 000 Dollar, zu 6 Prozent verzinst, hielt er für kärglich. Wenn lumpige 20 000 Dollar als Lohn der Tugend erwähnt wurden, war er enttäuscht und erbittert.
Er gründete einen Lesezirkel mit zwei Schulkameraden, borgte und lieh Bücher von und an Max Isaacs und an den Metzgersohn »Nosey« Schmidt, der die ganze Abenteurerserie »The Rover Boys« besaß. Er plünderte Gants Büchergestell und las Übersetzungen der Ilias und der Odyssee zur gleichen Zeit und aus denselben Gründen wie »Diamond Dick«, »Buffalo Bill« und die langweilig-biedern Schinken von Alger. Dann, als mit den Jahren das Tasten nach erotischen Reizbildern deutlicher wurde, suchte er leidenschaftlich in romantischen Legenden nach jenen heißblütigen Frauen, deren Atem wie Honig ist, deren sanfter Aufblick wie Feuer ins Herz des Helden fährt.
Auf dieser Nachsuche fand er sich unentrinnbar verstrickt in das groteske Muster jener puritanischen Romanschreiberei, die die dionysische Glücksal den züchtigen Jüngern John Calvins zuerkennt, die gleichzeitig Wollust stöhnt und Gebete aufsagt, die brennende Altäre vor dem Pflaumenbaum errichtet, die die heidnische Hetäre mit der heilig-gemachten Hausfrau überbietet.
Aha! dachte er, da kann ich meine Torte aufessen und sie doch noch haben – aber eine Hochzeitstorte muß es sein. Ganz ergeben begehrte er, ein guter Christenmann zu werden; er würde die Akkolade seiner Liebe nur einer Jungfrau schenken; er würde unbedingt nur ein reines Weib ehelichen, dies würde ja der Lust keinen Abbruch tun – im Gegenteil! – er sah es ja aus den Büchern, daß die guten Christinnen körperlich bei weitem die anziehendsten Frauen sind.
Er hatte da unwissentlich eine Wahrheit herausgefunden, die den meisten Wollustsuchern erst sehr viel später nach mannigfacher Plagerei klar, wird: nämlich, daß die ganz streng konventionalisierten Lebensumstände dem Daseinsgenuß am günstigsten sind. Er bezeigte eine leidenschaftliche Anhänglichkeit für die Gesetze der Gemeinde; all die gefilterten Ablagerungen des sonntäglichen Kindergottesdienstes bei den Presbyterianern wirkten sich aus.
Er versetzte sich in tausend Romanfiguren; er lebte im Fleisch und Blut seiner Lieblingshelden und trug ihre Standarten aus der Welt der Bücher hinaus auf den grauen Plan des Alltags. So schaute er sich selbst als den streitbaren jungen Lizentiaten, der gegen die himmelschreienden Zustände in den Elendsvierteln Krieg führt, bei den begüterten Gemeindevorständen aber keinen Anklang findet, bis ihm in letzter Stunde die Tochter des Millionärs, dem die Mietskasernen gehören, zu Hilfe kommt, so daß er schließlich den Sieg für Gott, die Armen und für sich erringt.
… Sie standen schweigend im dunklen Schiff der St.-Thomas-Kirche. Oben auf der Empore glitten die zarten Finger des alten Michael leise über die Tastatur der Orgel. Die letzten Strahlen der sinkenden Sonne schienen durch die westlichen Fenster und fielen einen Augenblick wie ein goldner segnender Schein auf Mainwarings abgespanntes Gesicht.