Kitabı oku: «Ahrenshooper Narrenspiel», sayfa 2
»Na, komm schon! Kopf hoch!« Dörte Wahnschaffe wusste um das Weh ihrer Freundin. Ahnte ihre Trauer. »Vielleicht haben wir ja eine Chance, ihm noch eine besondere Referenz zu erweisen. Eine Retrospektive. Hattest du ja selbst vorgeschlagen, auch Jo mal eine Ausstellung zu widmen. Als Bildhauer hat er ja noch immer einen gewissen Namen und als Ahrenshooper eine gewisse Bekanntheit. Zu viel, um als Vergessener durchzugehen. Doch in Königslutter wartet womöglich ein Schatz auf uns. ›Jo Majakowski: Das unbekannte Werk‹. Elke hat erzählt, dass sie gerade dabei sind, das Elternhaus zu verkaufen; die Mama muss jetzt in ein Pflegeheim. Und auf dem Dachboden hat sie Unmengen von Joachims frühen, früheren Arbeiten entdeckt: Zeichnungen, Radierungen und sogar Kupferstiche. Ich dachte eigentlich, dass er das alles verbrannt hätte. Wie er immer gerne vollmundig verkündet hat. Doch das stimmt wohl nicht so ganz. Typisch Jo halt. Elke hat auch ein paar Fotos geschickt. Klasse, sage ich euch. Ein paar Sachen kenne ich noch von früher. Wir haben ja beide eine Zeit zusammen an der HBK in Braunschweig studiert. Fand ich fantastisch. Er zählte wirklich zu den ganz großen Talenten damals, wobei er selbst sein größter Kritiker war. Er fand dann irgendwann den ganzen ›Scheiß‹ zu bürgerlich, konventionell, bildnerisch und wandte sich der Malerei zu. Seinen ›Körperlandschaften‹, wie er es nannte. Mit Unterbodenschutz. Also, ich möchte auf jeden Fall mal hin und mir das anschauen. Außerdem habe ich da unten auch noch andere Gräber zu besuchen.«
»Mag sein, Dörte. Fände ich schon schön. Und sehen möchte ich seine Arbeiten ja auch. Wie lange haben wir denn noch Zeit? Im Augenblick ist verdammt viel zu tun. Wenn ich nur an das Richtfest denke!«
»Ja, das ist das Problem. Eigentlich soll das Haus bis Ende des Monats geräumt sein. Und bei sich hat Elke auch nicht so viel Platz. Ihr Mann ist ebenfalls Künstler. Bildhauer sogar. Das nur zum Thema Spießbürger. Er arbeitet allerdings als Dozent an der Steinmetzschule dort. Auf jeden Fall ist ihr Häuschen voll bis zum Dach mit irgendwelchen Skulpturen, Werkstücken, Entwürfen, wie sie sagt.«
Kempowski fand die Idee, eine Exkursion nach Königslutter in das Œuvre des frühen Majakowski zu unternehmen, ebenso reizvoll.
Der ja zumal dort ganz in der Nähe einen Baum hatte. Im Friedwald. Den hätte er schon gerne besucht. Mit einer Flasche Wodka. Um noch einmal anzustoßen. Das wäre ja mit einer Buche, einem Bergahorn, womöglich gar einer Birke einfacher. In diesem Augenblick klingelte sein Telefon. Und der Regen hörte auf. Eine gute Konstellation, die Terrasse aufzusuchen. Er verabschiedete sich kurz. Zündete sich noch auf der Türschwelle eine an. Und meldete sich.
Gut zehn Minuten und drei Zigaretten später legte er auf. Setzte sich. Zündete sich noch eine an. Ein merkwürdiger Anruf von einem alten Bekannten, der bei der Polizeiinspektion Wismar arbeitete. Polizeihauptmeister Heie Timmendorf. Ein Mann ohne Karriereambitionen. Ähnlich wie er. Dafür mit einer gehörigen Portion Loyalität. Bei dem Kempowski noch etwas guthatte. Gehabt hatte. Denn nun hatte sich Timmendorf über gewisse dienstliche Pflichten, Selbstverständlichkeiten hinweggesetzt, das Gebot der Verschwiegenheit gebrochen und ihm von einer ganz merkwürdigen Geschichte erzählt, die sich vor ein paar Tagen auf einem kleinen Dorf Richtung Grevesmühlen ereignet hatte. Wo der Besitzer eines Reiterhofes auf bestialische Weise umgekommen war. Zunächst hatte es wie ein Unfall ausgesehen, als ob das Opfer von seinem eigenen Pferd zu Tode getrampelt worden wäre. Ein übler Anblick. Das hatte Timmendorf nachdrücklich betont. Bei näherer Untersuchung hatte man jedoch bestimmte Details entdeckt, die aus dem Unfall einen Mord gemacht hatten. Merkwürdige Details. Sonderbare Spuren. Wie bei einer Inszenierung. Für die es nun zahlreiche Verdächtige gebe. Der Tote war alles andere als beliebt gewesen. Das fing schon in der Familie an: zwei Söhne, zwei geschiedene Frauen. Mindestens vier Motive.
Kempowski hatte Timmendorf irritiert zugehört. Und neugierig, zugegebenermaßen. Auch wenn er nach dem Ahrenshooper Frühling eigentlich genug von Leichen hatte. Von Verdächtigen. Verdächtigungen. Allerdings schien das Schicksal für ihn anderes vorzusehen. Denn als Höhepunkt seiner Vertraulichkeit hatte ihm der Vertraute aus Wismar schließlich mitgeteilt, dass im Rahmen der weiteren Ermittlungen auch er ins Spiel gekommen sei. Er. Andreas Kempowski. Aus Rostock, jetzt wohnhaft in Ahrenshoop, am Weg zum Hohen Ufer. Denn auf dem Schreibtisch im Arbeitszimmer des Toten waren zwei Notizzettel recht frischen Datums gefunden worden: mit Kempowskis Namen und seiner Telefonnummer. Mit der Erinnerung, ihn anzurufen und dem Hinweis auf einen anstehenden Termin: ein gemeinsames Essen im Alten Schweden in Wismar am 14. November. Daher, so endete Timmendorf, habe sich der Chef entschlossen, ihn vorladen zu lassen. Zu einer ersten Anhörung. Natürlich nur als Zeuge. Die Post sei schon unterwegs.
Kempowski fühlte sich wie von einem Panzer überrollt. Einem T-55. Dem Eierschwein. Gesteuert von Generalmajor Janshen. Was sollte das? Was hatte er mit einem mysteriösen Mord bei Wismar zu tun? Und was mit diesem Haberkamp? Heinz Haberkamp … Er grübelte. Gehört hatte er den Namen schon einmal. Aber schon länger her. Irgendein Prozess war das gewesen. Heinz Haberkamp. Alter Schwede? Dann fiel es ihm ein. Wie Schuppen von den Augen.
4. Prangerl
Lore Bradhering fing mit dem linken Auge an. Immer. Sie liebte das Gefühl, wenn das Messer die äußere Schicht durchstieß. Spitz. Schartig. Scharf. Und dann wanderte. Kleine Wege zog. Von links nach oben. Schräg weiter nach rechts. Unten. Und wieder zurück. Manchmal auch im Zickzack. Zwischendurch ein kurzer Griff zum Handtuch, die Finger abtrocknen. Eine etwas klebrige Angelegenheit. Dennoch schien sie Feuer und Flamme. War ganz bei der Sache.
Zimmermann schaute ihr fasziniert zu. Er kannte das. Aus Kanada. Dort war es sehr beliebt, das Phänomen der geschnitzten Gesichter. In seiner Heimat sprossen sie schon Ende September aus dem Boden. Die Fratzen. Masken. Larven. Die Grimassen des Grauens. Doch Halifax galt auch als Hochburg des Halloween. Hier an der Ostseeküste hatte er allerdings keine so große Passion fürs Kürbisschlachten vermutet. Schon am Morgen hatten ihn Lores Cucurbita-Kompositionen mehr als erstaunt.
Wenig später hatte sie ihn aufgeklärt. »Ach, weißt du, Robert, meine Mutti stammt ja aus Thüringen. Aus Schalkau. Ganz im Süden. Sie hat es nach dem Krieg nach hier oben verschlagen. Und da hat sie den Brauch des Rübengeisterns einfach mitgebracht. Mit mir als Kind ihre geliebten Rubebötz geschnitzt. Und gelöffelt. Eigentlich sind das nur echte, wenn man dafür Futterrüben nimmt. Zur Not auch Zuckerrüben. Gab es ja früher in Barth von der alten Zuckerfabrik. Da fiel schon mal was ab für uns Kinder. Ist aber eine mordsmäßige Arbeit. Da sind die Kürbisse schon leichter und sehen auch schöner aus.«
Sie hatte recht. Inzwischen hatte sie ihr Werk vollbracht und auf der bereits gedeckten Tafel im Esszimmer arrangiert, wo sie zwischen Geschirr und Servietten blau-weiße Lichtakzente setzten. Beim Frühstück war ihr die spontane Idee zu einem kleinen Oktoberfest gekommen. Zur Feier von Zimmermanns Rückkehr. Eigentlich in richtig großer Runde. Die Vorbereitungen des anstehenden Richtfestes in wenigen Tagen hatten ihr jedoch einen Strich durch die Rechnung gemacht: Fast alle Eingeladenen vom Partikel-Hof hatten absagen müssen und sie auf später vertröstet. Nach dem großen Tag. Nur Elisabeth Müller-Paul hatte zugesagt. Wollte erscheinen. Natürlich mit Kempowski. Zimmermann freute sich auf das Wiedersehen mit dem Weggenossen. Mitstreiter. In stürmischen Tagen.
Es klingelte Sturm. Doch zunächst stand nur Richard Sonntag in der Tür. Mit zwei Kästen Weizenbier. Es sollte zünftig werden, wie Lore verkündete. Zimmermann hatte vage Befürchtungen. Er hatte zwei, drei Male Oktoberfeste in Kanada besucht. Auf Einladungen von Mandanten. Es war fürchterlich gewesen. Hoffentlich verzichtete Lore wenigstens auf die typische Musik. Und hatte an den Kümmel gedacht. Doppelkümmel. Immerhin kam das Bier aus der Gegend.
»Hoppen un Molt, us de Herrgott erhalt!« Sonntag hatte die ersten Flaschen geöffnet. Eingeschenkt. Prostete Zimmermann zu. Zwei Humpen. Halbe Liter. In Blau-Weiß. Mit Seeadler. Und Kranich. Im Flug.
»Trinkt man das nicht eher aus langen, schlanken Gläsern?« Zimmermann schaute etwas irritiert.
»Aber die sind doch von Tante Wilhelm. Komm, ein Prost auf die Dame!« Von deren künstlerischem Schaffen in Lores Pension manch anderes Geschöpf ihrer Hände kündete. Nach dem Verkauf des Hauses an den finnisch-schweizerischen Psychologen und Profiler Wilhelm Hakala-Holappa schien sich die Anzahl der Wandteller, Kerzenleuchter, Übertöpfe, Kannen, Vasen und Skulpturen aller Größen mehr als verdoppelt zu haben. Allein die vielen Büsten. Von allen Regalen schauten sie einen an. Aus allen Winkeln verfolgten sie einen. Zimmermann hatte in den vergangenen Stunden versucht, sie zu identifizieren. Zuzuordnen. Hatte auch etliche Bekannte entdeckt – Lore natürlich. Den guten Sonntag. Sogar Jo Majakowski. Selbst Alfred Partikel. Seine Kinder: Adrian, Barbara, Cornelia. Sich selbst hatte Wilhelmine von Wustrow auch zum Relikt werden lassen. Auf allen Stufen des Lebens. Sowie einen Knaben, Jüngling, Mann, in dem Zimmermann Hans erkannte. Ihren Sohn. Ihm wurde unbehaglich.
In diesem Augenblick klingelte es abermals. Behutsam. Freundliche Begrüßungen aus dem Flur. Elisabeth Müller-Paul betrat das Esszimmer und betrachtete den herbstfestlich gedeckten Tisch. Das allerorten rötelnde Weinlaub. Die Trockensträuße. Doldenstände. Bärwurz. Wilde Möhre. Schafgarbe. Und begann sogleich zu deklamieren:
»Up Wischen un up Wegen
Klingt Harvestesmelodie.
De welken Bläder ruscheln
Tau unsen Fäuten dal,
Un in de greunen Kuscheln
Is ’t lerrig nu un kahl.
De griesen Nebel decken
Dat öde Stoppelland,
Un Well un Wogen trecken
Mit Brusen an den Strand …«
Sie wechselte die Position und fuhr fort: »Martha Müller-Grählert. Ich liebe sie. Poetin aus Barth. Dann Zingst. Und Schöpferin des Gedichtes ›Mine Heimat‹, das zunächst als Lied von den Ostseewellen bekannt wurde und später als jenes von den Nordseewellen große Erfolge feierte. Von denen hat sie kaum einen Pfennig gesehen und starb stattdessen fast blind, verarmt und einsam im November 1939 in einem Altersheim. Ein trauriges Ende.«
»Ob Nord- oder Ostseewellen. Oder gar Donauwellen. Hauptsache etwas zu essen!«
Es hatte zwischenzeitlich abermals geklingelt und Lore abermals geöffnet. Kempowski stand nun in der Tür.
»Aber zunächst einmal herzlich Willkommen, mein lieber Zimmermann. Willkommen tu Hus!« Kempowski griente. Umarmte den Freund. Mit sozialistischem Bruderkuss.
Müller-Paul stockte im Anblick dessen. »Mensch, natürlich, ich bin immer so impulsiv, lasse mich von Gefühlen tragen. Stimmungen. Schön, Sie zu sehen, lieber Herr Zimmermann! Doch die Martha, die sollten Sie mal lesen! Das wird Ihnen gefallen. Und ihr Schicksal kann einen schon rühren. Allein diese Gemeinheit mit den Tantiemen. Aber jetzt kümmern sich zwei Enthusiasten aus Barth um Müller-Grählerts Werk, ihren Nachlass und die Erinnerung an sie: Die Arlts haben dort sogar ein kleines Museum eingerichtet. In der alten Druckerei. Ich werde die beiden sicherlich mal zu uns einladen. Zu einem Vortrag oder Leseabend.« Als Bibliothekarin und Lyrikfreundin oblag Elisabeth Müller-Paul im Team des Partikel-Hofes auch das Literaturprogramm. Überdies hatte sie den Ausstellungsbereich der Verfolgten unter den Künstlern und Künstlerinnen übernommen. Des Weiteren war sie für die Kommunikation zuständig. Naheliegend. So fuhr sie fort: »Aber nun erzählen Sie doch mal! Wie war es denn in Polen?«
»Aufschlussreich. Danke der Nachfrage. Doch später mehr. Nach dem Mahl, das uns Lore gezaubert hat. Wundervoll, nicht wahr?«
Jene hatte inzwischen aufgetischt. Was Küche und Keller hergegeben. Sowie die Terrasse, auf der Richard Sonntag gegrillt hatte. Thüringer Rostbratwurst natürlich. Schließlich stand der Abend ja im Zeichen von Lores Mutter Annelie. Der Thüringerin in der Darßer Diaspora. Zimmermann kam der Übergang zum Wesentlichen recht. Dem Essenziellen – im wahrsten Sinne des Wortes. Von seinem abgebrochenen Besuch in Auschwitz hatte er Kempowski bereits am Telefon erzählt. Das Wichtigste. Knapp. Mehr war nicht zu berichten. Allerdings wollte er sein Mitbringsel für den Fundus des Museums vorstellen: den Narren aus Zielonki. Doch der wäre eher etwas für eine besinnliche Stunde nach getaner Arbeit. Nichts, was zwischen Würsten und Brezeln, Kürbissuppe und Radi betrachtet oder erörtert werden sollte.
Ein abermaliges Klingeln unterbrach den Genuss. Nur kurz. Wilhelm Hakala-Holappa erschien. Allerdings allein. Das Paar war erst in der Frühe aus Helsinki zurückgekehrt, sein Mann jedoch weiter nach Göttingen gefahren. Er war zwar für ein Forschungssemester freigestellt, hatte aber zuvor noch einiges an der Uni zu erledigen.
Zimmermann hatte insgeheim darüber spekuliert, in welcher Gewandung der Profiler mit finnisch-schweizerischen Wurzeln den Herbst feiern würde. Im Frühjahr hatte er ja ein um das andere Mal mit seinem exotischen wie fantasievollem Kleidungsstil für Aufsehen gesorgt. Zu dem auch oftmals kurios anmutende Brillen zählten. Umso erstaunter war er, dass Wilhelm für den heutigen Abend eine eher schlichte Kombination gewählt hatte: hellbraune Cordhose, dunkelbraune Halbschuhe, beiger Pullover, ein weißer Hemdkragen, Tweedjacket. Die Brille in erdigem Horn. Eigentlich eher Kempowskis Stil. Auch sonst wirkte er verändert. Sehr ruhig. Freundlich zwar, doch zurückhaltend. Zuhörend. Dabei allerdings unkonzentriert. Zimmermann erklärte sich das mit dem Todesfall in der Familie. Obgleich ihn persönlich seinerzeit der Tod seines Schwiegervaters nicht übermäßig bedrückt und sehr lange beschäftigt hatte. Obwohl er dem alten Knaben zugetan war. Doch Menschen sind ja bekanntermaßen unterschiedlich. Wie Kürbisse.
Die nun Elisabeth Müller-Paul ins Spiel brachte. »Nur der Kürbis ist ein Kopf ohne Sorgen, wie man in Italien sagt.« Sie hatte Hakala-Holappas Verstimmung ebenfalls wahrgenommen und spielte mit einer der gehöhlten Früchte auf dem nun wieder vom Geschirr befreiten Tisch. »Apropos, kleines Rätsel: Von wem ist wohl das: ›Kürbisranken schmiegten sich auf am veralteten Stamme, und schon krachte das Glied unter den Lasten der Frucht. Dürres Gereisig neben mir an, dem Winter gewidmet, den ich hasse, denn er schickt mir die Raben aufs Haupt …‹ Na, meine Herren, meine Dame? Aus wessen Feder stammen diese Zeilen?« Ein auffordernder Blick in die Runde.
Zu der nun auch wieder Lore Bradhering gehörte. Und sich traute: »Womöglich von der Martha? Oder vielleicht Käthe Miethe? Am Ende von Ihrer Kaschnitz?« Eigentlich eher eine Freundin leichter Lektüre, hatte Lore im Frühjahr literarisch einiges dazugelernt und sich auch mit den Werken jener Damen beschäftigt, von denen die Bibliothekarin so begeistert war.
»Nein, leider alles falsch. Das ist von einem Mann. Natürlich. Das stammt vom großen Goethe. ›Römische Elegien‹. Epilog. Doch, woher haben Sie eigentlich diese herrlichen Früchtchen, liebe Lore? Die ja eigentlich Beeren sind.«
»Die? Die habe ich von den Krauses. Agnes und Astrid Krause. Mutter und Tochter, ein unzertrennliches Gespann. Etwas eigen, bisschen spleenig. Kann man aber auch werden, wenn man da oben lebt. In Müggenburg. Ganz kleines Nest in Zingst. Also noch hinter dem eigentlichen Ort. Beim Osterwald. Da wo früher das Gut war. Das VEG. Da haben die ihr Gärtchen. Was da nicht alles wächst. Eigentlich erstaunlich bei dem Boden. Doch die beiden entlocken dem die wundervollsten Gemüse. Und tuckern dann mit ihrer alten Brockenhexe los. Sind auf allen Wochenmärkten der Gegend. Ich besuche die immer in Wieck.«
»So, meine Damen, nun brauche ich aber etwas Platz. Ich will auspacken.« Zimmermann war nach dem Gelage auf sein Zimmer gegangen. Kehrte nun mit dem sorgsam verpackten Gemälde zurück. Befreite es umständlich von mehreren Lagen. Packpapier. Alte Zeitungen. Seidiger Zellstoff. »Trommelwirbel. Steigende Spannung. Der Vorhang hebt sich. Voilà, da ist er: Stańczyk. Der große Narr am polnischen Hofe. Meine Morgengabe für den Partikel-Hof. Zumal das Bildnis fein von Katarzyna Gawłowa gemalt wurde. Zumindest signiert.«
»Faszinierend!« Der Anblick des Narren hatte auch Hakala-Holappa aus seiner bislang anhaltenden Verhaltenheit gerissen. »Allein das Rot des Gewandes. Grell. Gleich Blut. Schreiend. Und dann diese Haltung. Wie er da sitzt. Auf seinem Stuhl. Armstuhl. Thron womöglich. Diese Verzweiflung. Ein resignierter Regent. Nein, das ist kein Narr, das ist ein Herrscher, der soeben von der letzten, vernichtenden Niederlage seines Heeres erfahren hat. Der Bote steht noch im Raum. In den Händen die unheilverkündende Botschaft. Faszinierend! Allerdings, hat die Gawłowa nicht andere Motive bevorzugt? Heiligenbilder, Marienerscheinungen, Volksfeste, Hochzeiten, so etwas halt? Außerdem«, der Profiler beugte sich näher über die Arbeit und untersuchte gründlich die Oberfläche, »erinnert mich der Pinselstrich frappierend an den Stil Libudas.«
»Über ihn haben wir leider kaum etwas in Erfahrung bringen können. Haben uns ja länger in Zielonki umgesehen. Der Sonntag und ich. Der kann ja ein bisschen Russisch. Etwas Polnisch. Und mit einigen älteren Einwohnern konnten wir uns auch auf Deutsch unterhalten. Doch ein Mann dieses Namens war keinem der Befragten bekannt. Auch auf dem Friedhof haben wir nichts gefunden. Und die alten Kirchenbücher sind im Krieg verbrannt. Wie die im Rathaus. Nur eine ganz alte Dame konnte sich noch daran erinnern, dass kurz nach ’45 ein Mann bei der Gawłowa aufgetaucht ist. So um die Vierzig. Jünger als sie. Ein vermeintlicher Neffe. Der hat einige Zeit bei ihr in ihrem Häuschen gewohnt. Aber sie hatte sowieso keinen guten Ruf im Dorf. Wurde gemieden. Galt als verrückt.«
»Genau! Verrückt! Das ist doch Hans von Wustrow! Schaut mal das Gesicht an!« Lore Bradhering hatte ebenso wie die anderen zunächst in ehrfurchtsvoller Betrachtung auf das Bild geschaut. Es auf sich wirken lassen. Eine starke Wirkung. Anscheinend.
»Jetzt, da Sie es sagen, liebe Lore. Genau! Wenn man sich den Spitzbart wegdenkt. Die Narrenkappe. Also diese Gugel mit den drei Zipfeln. Doch dann. Allein diese Augen. Das ist er. Definitiv. Oder sein Vater. Ein Selbstbildnis. Ein Bildnis seiner Resignation. Antoni Libuda. Ich bin gespannt, was die Damen von der Kunst dazu sagen. Antoni Libuda …« Hakala-Holappa setzte sich wieder. Kehrte zu seinen Gedanken zurück. Der Grübelmiene. Dem Schweigen.
In das sich in den letzten Stunden auch Kempowski gehüllt hatte. Immer mehr. Nach kurzem, forschen Auftritt. Ihn schien auch etwas zu beschäftigen. Zu belasten.
Zimmermann hatte es ebenfalls die Sprache sowie die gute Laune verschlagen. Dass ihm die Ähnlichkeit nicht aufgefallen war. Stańczyk. Libuda. Und Hans von Wustrow. Er blätterte zurück. Im ungeschriebenen Tagebuch. Traf ihn. Vor jener Tür. Jener Büdnerei. In Niehagen. Gerhard-Marcks-Weg.
»Also, Kinder, irgendwie habe ich mir unser Oktoberfest anders vorgestellt.« Lore Bradhering füllte die kleinen Gläser. Zur letzten Runde. »Irgendwie fröhlicher. Lustiger. Nicht so nachdenklich. Selbst die Hofnarren sind heute nicht mehr das, was sie früher waren. Frohsinn? Pustekuchen! Aber, ich kann ja verstehen, die Erinnerungen. Und dann die Vorbereitungen für das Richtfest. Die anstrengenden Reisen … Also, ich sag dann mal: Prost! Und tschüssing!«
Ein dezenter Rauswurf, der aber von allen Gästen gerne angenommen und zunächst mit überschwänglichen Komplimenten für ihre großartige Gastgeberschaft retourniert wurde. Bevor Zimmermann auf seinem Zimmer und die anderen im Dunkel der kühlen, sternenlosen Darßnacht verschwanden, hatte Elisabeth Müller-Paul beim Blick in den Himmel abermals zitiert. Verse von Martha. Zum Abschied.
»Kahl sünd de Wischen und Stoppeln,
Lerrig die Weiden un Koppeln,
Einsam ward’t buten mit Macht.
Schummrig un warm sünd de Ecken;
Tied ist taum Flustern un Necken.
Un so lang un so kalt ist de Nacht, – Diern, nimm di in acht!
Diern, nimm di in acht!«