Kitabı oku: «Ahrenshooper Narrenspiel», sayfa 3
5. Kuony von Stocken
»Nimm di in acht! Wilhelm, nimm di in acht!« Hakala-Holappa wiederholte die Worte der Mahnung. Mantragleich. Seitdem er in die Borner Nacht aufgebrochen war. Sternenlos. Wenigstens regnete es nicht mehr. Nasse Straßen. Gebrochene Lichter. Das mochte er überhaupt nicht. Obgleich er eigentlich gerne fuhr. Deswegen war er gestern auch zurückgekehrt. Nach dem Termin in Wismar. Hatte nicht dort oder in Rostock übernachtet. Nahe seinem heutigen Ziel.
Außerdem schätzte er sein neues Heim. Ihr neues Domizil. Im Moor. Tante Wilhelms Künstlerklause. Matti und er waren bei der Renovierung behutsam vorgegangen. Sehr behutsam. Unterstützt vom Käfer, der als Architekt ebenfalls Wert darauf legte, dass der ursprüngliche Charakter des Hauses erhalten blieb. Dieser Charme. Lediglich die Heizungsanlage hatten sie erneuert. Das Rohrdach frisch decken lassen. Jetzt galt es nur noch, den Räumen Farbe zu geben. Bodenbeläge. Und ein paar weitere Details. Ein paar? Er musste sich eingestehen, dass noch sehr, sehr viele Details darauf warteten, erledigt zu werden. Der Tod von Mattis Vater hatte ihren Zeitplan ja gewaltig durchkreuzt. Im wahrsten Sinne des Wortes.
Daher war ihm der neue Auftrag eigentlich gar nicht recht. Passte nicht ins Konzept, zumal er ja noch mit Hans von Wustrow mehr als genug zu tun hatte. Er hatte sich in den Fall geradezu verbissen. Er wollte ihn aus der Reserve locken. Unbedingt. Ihm sein Schweigen abringen. Warum eigentlich? Denn es war doch alles klar. Fast. Lag es tatsächlich an dem geplanten Buch, das er mit Johanna Riese und Dörte Wahnschaffe schrieb? Oder war da noch etwas? Eine Ahnung? Etwas Irrationales? Eine andere Verbindung?
Schließlich war eine seiner Großmütter Samin gewesen und hatte noch den Joikgesang beherrscht. Dem kleinen Wilhelm von Seelenreisen erzählt. Von Schamanen. Den Geistern der Verstorbenen. Dem zweiten Gesicht. Hatte er vielleicht von seinen Ahnen ein Ahnen geerbt? Ein besonderes? Dann war er in seiner neuen Heimat ja genau richtig. Auch den Darßern wurde ein ausgeprägter Hang zur Spökenkiekerei nachgesagt.
Hakala-Holappa drosselte die Geschwindigkeit, als er Gelbensande passierte. Das Jagdschloss der Mecklenburger stand auch noch auf seiner Liste. Wollte er schon seit Wochen besuchen. Würde aber dazu wahrscheinlich in Monaten nicht kommen. Keine Zeit finden für die Vergangenheit. Die richtige. Die jüngere hatte Vorrang. Die jüngste, die ihn vor neuerliche Rätsel gestellt hatte. Dabei wusste er gar nicht so recht, warum ihn die Wismarer dabeihaben wollten. Unbedingt. Seine Mitwirkung an der SoKo Stechpalme hatte seiner Einschätzung nach nur bedingt zur Lösung des Falles beigetragen. Der Fälle. Insgeheim machte er sich sogar Vorwürfe. Womöglich hätte er einiges verhindern können, wenn er … Und nun diese neue Aufgabe. Der entsprechende Anruf hatte ihn just nach seiner Ankunft in Born erreicht. Die ersten Informationen hatten ihn den ganzen Abend beschäftigt. Ebenso wie seine anderen Pläne. Es tat ihm leid, dass er Lore ein so maulfauler Gast gewesen war.
Der Fall Haberkamp. An und für sich ein einfacher Fall. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war der Mörder dieses Reitstallbesitzers und Autohändlers in der Familie zu suchen. Die beiden Ex-Gattinnen schieden seiner Ansicht nach aber eher aus. Dafür war die Tat zu brutal ausgeführt. Mit zu viel Gewalt ausgeübt. Kraftaufwändig. Allerdings, diese Geschichte mit den Pferden, denen man die Schweife geraubt hatte?! Pferde und Frauen – eine spezielle Verbindung. Beziehung. Auch wenn die einstigen Partnerinnen wohl nie die Leidenschaft dieses Haberkamps geteilt hatten. Vielversprechender waren da schon die Söhne, die beide mit dem Vater gebrochen hatten. Ihn geradezu und offen bekundet hassten. So unterschiedlich sie waren.
Da war zunächst Torben. Der ältere: 32. Gelernter Kfz-Mechatroniker. Die Ausbildung hatte er noch im väterlichen Autohaus in Wismar gemacht. Dann Berufssoldat. Jedoch unehrenhaft entlassen, da er seinen Namen immer mehr zum Programm erwählt hatte: brauner Bär des Donnergotts, Hooligan, rechte Szene, Tendenz zum Reichsbürger. Mit dem Vater heillos zerstritten. Dafür rechte Hand und Untermieter des NPDlers Sven Krüger in Jamel, dem Braunau des Nordens. Dem Dorf der Verlorenen. Keine zwanzig Kilometer vom Tatort entfernt. Zudem polizeibekannt und wegen Körperverletzung vorbestraft. Die Streitigkeiten zwischen Senior und Junior hatten sich in letzter Zeit immer stärker zu Handgreiflichkeiten ausgewachsen. Und Drohungen wie »Dir schlag ich den Schädel ein!« oder »Ich mach dich platt, du Hund!« waren mehrfach bezeugt. Aber warum hatte er dann mit der Schaufel nicht richtig zugeschlagen? Zwei Mal. Drei, vier Mal. Anstatt den Bewusstlosen in die Box zu bugsieren. Dem Hengst das Finale zu überlassen. Und warum diese Inszenierung mit den Pferdeschweifen? Vielleicht ein Verweis auf Kastrationsängste? Ja, ein klassisches Phänomen im Dunstkreis von Ödipuskomplex und Patrizid.
Das Zeug zum Vatermörder hatte auch Sven, Torbens jüngerer Bruder. Obwohl einst sogar Papas Liebling. 29 Jahre, gelernter Pferdewirt und als solcher zunächst Haberkamps Partner und Stütze beim Aufbau des Reiterguts Wohlbehagen. Doch dessen Umgang mit den Pferden war immer häufiger Anlass für Differenzen gewesen. Schließlich hatte der Sohn den Vater sogar beim Veterinäramt angezeigt. Gut, die Anzeige war im Sande verlaufen. Wahrscheinlich hatte Haberkamp seine Beziehungen spielen lassen. Und Sven wohnte inzwischen in Greifswald, studierte dort Landschaftsökologie und Naturschutz. Seit der Anzeige vor drei Jahren waren sich die beiden nur einmal begegnet. Bei einer Demonstration. Beim Großen Preis von Sachsen, dem Reitsportereignis schlechthin. In Chemnitz. Dort war Sven mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter von PETA aufgelaufen. Hatte seine Meinung gesagt. Allen. »Das Ross ist der Boss!« – »Wir barren EUCH Narren!« – »Quäler unter den Beschäler!« Lautstark skandiert. Er war dabei von seinem Erzeuger entdeckt worden. Sekunden später hatten sich Vater und Sohn in den Armen gelegen. Ringend. Kämpfend. Blutend. Bis Männer vom Ordnungsdienst sie getrennt hatten. Auch jetzt Worte voller Drohungen. Gewalt. Finsterer Verheißungen. »Dich wird noch einmal dein eigener Gaul richten!« Was sich nun erfüllt hatte …
»Nimm di in acht! Wilhelm, nimm di in acht!« Nicht zu voreilig! Keine schnellen Schlüsse! Auch wenn das Szenario am ehesten auf Sven schließen ließe. Auch der Hund passte dazu. Haberkamps Dobermann. Der fehlte. War wohl einst ein Geschenk des Sohnes gewesen und jetzt nicht mehr auf dem Gelände aufzufinden. Auch die Suche im Dorf und in der Umgebung war bislang erfolglos geblieben. Allerdings hatte die Spusi Hinweise entdeckt, dass der Täter das Tier verletzt haben musste. Womöglich schwerer. Wenn nicht gar getötet. Doch warum dann den Kadaver mitnehmen? Und was hatte Kempowski mit der ganzen Geschichte zu tun?
Hakala-Holappa griff zum Kaffeebecher. Rostock, rechts der Autobahn, auf der er nun ein kleines Stück fuhr, ließ er liegen, ebenso den Fall Haberkamp und rauschte weiter Richtung Süden. In den Morgen, der grau dämmerte und so auch fortan bleiben wollte.
Ebenfalls grau empfing ihn der Fuchsbau. Die JVA Waldeck bei Dummersdorf. Der kleine Hans erwartete ihn! Hakala-Holappa hatte hoch gepokert. Seine letzte Karte ausgespielt, um Hans von Wustrows Schweigen zu brechen, das für ihn ein Fallbeispiel totalen Mutismus darstellte. Das vollkommene Verstummen eines Menschen infolge eines Traumas. Auch wenn dazu in Lehre und Forschung kontroverse Meinungen vertreten und diskutiert wurden. In dieser speziellen Konstellation drängten sich für ihn die Zusammenhänge geradezu auf. Wie ein aufgeschlagenes Buch: Lies mich! Schau, was ich dir zu zeigen habe! Überdies stellten ja Verbrechen nicht nur für die Opfer traumatische Verletzungen dar. Zudem suchte der Profiler tiefer. Ahnte die Wurzeln für die Störungen Hans von Wustrows im Erdreich jener Stunde im Ahrenshooper Holz. Vor über siebzig Jahren. Als der Kleine seinen Vater gesehen hatte. Und Alfred Partikel. Daher setzte Hakala-Holappa nun auf die Katharsis. Die im Geist der Antike geborene Lehre der Reinigung durch Konfrontation. Der Jahrestag des Verschwindens des Malers erschien ihm dazu ein idealer Anlass. Auch wenn er sicherlich gerne dem Richtfest beigewohnt hätte. Doch die Erkenntnis hatte Vorrang vor der Zerstreuung.
Schon seit Wochen hatte er die Exkursion vorbereitet. Die entsprechenden offiziellen Ohren waren erfreulich offen gewesen. Selbst der Anstaltsleiter hatte sein Placet gegeben. Zumal von Wustrow sich im Fuchsbau mustergültig verhielt. Friedlich, freundlich, fleißig. Deshalb waren ihm bereits einige Vergünstigungen zuteilgeworden. Wie zum Beispiel die wöchentlichen, bewachten Spaziergänge vor den Toren der JVA zu den Volieren mit den Tauben und Finken, die er sehr zu mögen schien. Fütterte. Ihnen das Wasser wechselte. Reichte. Zusammen mit einem anderen Insassen namens Franck, einem ehemaligen Stasioffizier. Und Gattinnenmörder. Mit dem sich von Wustrow auch ohne Worte verstand. Stillschweigend. Beinahe wie gute Freunde. Zwei komische Käuze. Aber in den Augen der Anstaltsleitung inzwischen harmlos. Zudem waren drei Beamte als Eskorte vorgesehen. Und ein entsprechend präpariertes Fahrzeug. Ein Kleinbus. Ausbruchsicher. Einen der Männer kannte Hakala-Holappa: Maik Celinski. Ein feiner Kerl mit der Statur eines Bären. Der nebenbei in Häschendorf eine Bikerkneipe betrieb, zu deren Besuch Wilhelm auch noch keine Zeit gefunden hatte.
Celinskis Anwesenheit beruhigte ihn. Er begleitete das Kommando vom Beifahrersitz aus. Die anderen beiden wirkten recht mürrisch. Vor allem jener, der von Wustrow zur Seite gestellt war. Mit Handschellen verbunden. Sie saßen ihm in einer Art Käfig gegenüber. Der Transportzelle.
»Ich bin bereit, wenn Sie es sind …«
Keine Reaktion. Von beiden. Scheinbar nicht nur mit Handschellen verbunden.
Derart in Schweigen wie in Sicherheit gehüllt fielen Hakala-Holappa wenig später die Augen zu. Eigentlich hatte er Hans von Wustrow als Geschichtenerzähler auf die anstehende Begegnung mit seiner Kindheit einstimmen wollen. Mit Märchen. Da kamen ja oftmals Wälder vor. Tief und voller böser Wesen: Hexen, Riesen, Zauberer und Kobolde. Biblisches hatte er auch in Erwägung gezogen. Vielleicht das Gleichnis vom verlorenen Sohn? Bei seinen ersten Besuchen in Waldeck hatte er es mit Kafka-Lektüre versucht. Der »Brief an den Vater«. Das hatte sich als falscher Ansatz erwiesen. Von Wustrow hatte nur stumm gegähnt. War am Tisch eingeschlafen. Wie von Kempowski vorausgesagt, dem sich Wilhelm anvertraut hatte.
»Dann kannst du mit ihm auch Star Wars anschauen. Anakin und Luke Skywalker, ganz großes Kino, passend zum Thema: Ich bin dein Vater! Schnorchelatem. Abgang. Sprung. Nein, Kafka führt in die falsche Richtung. Dann lieber dieses Kinderlied. Das öffnet vielleicht ein Fenster.«
Einen ganzen Abend hatte er mit ihm geübt. Dieses »Bajuschki baju« einstudiert. Bei zwei Flaschen Wodka. Hakala-Holappa war regelrecht begeistert gewesen. Freute sich auf die Reaktion. Gespannt.
Doch diesen Einstieg hatte er ja nun verschlafen. Der Wagen stoppte. Parkte. Rüttelte ihn wach. Halbwegs. Hakala-Holappa sortierte sich. Sein Vorhaben. Gut, das mit dem Lied musste er sich für den Gang ins Holz aufsparen: das Ahrenshooper Todholz.
Die Tür wurde geöffnet. Endlich wieder Licht. Was aber nur etwas heller war als das Grau des frühen Morgens dieses 20. Oktobers. Der kleine Expeditionstrupp brach auf. Schon nach wenigen Schritten im Holz schien seine Rechnung aufzugehen. Mit kurzer Geste eingeladen, übernahm Hans von Wustrow die Führung. Schritt voran. Mit seinem Begleiter, der auf den Namen Schildknecht hörte. Nun ja, so hieß. Auf morastigem Pfad. Die ersten Stechpalmen begrüßten die Wanderer mit dem Rot ihrer Beeren. Rot. Giftig. Lockend. Ilex aquifolium. Hans von Wustrow folgte ihnen, als ob die Früchte aufgeschnürt. Einer Kette gleich. Aufgefädelt. Sie waren sein roter Faden, der ihn zu den Wurzeln führte. Dem Eingang des Geheimnisses.
Hakala-Holappa stolperte hinterdrein. In Aufregung. Sollte sein Experiment gelingen? Er erhob die Stimme, brüchig zunächst, doch dann sicherer. Immer stimmiger in der Melodie der fremden Sprache: »Bajuschki baju«.
Von Wustrow schien es nicht zu stören. Er schritt weiter unbeirrt voran durch das Gehölz. Längst war das Häuflein vom Weg abgewichen. Stromerte durchs Unterholz. An Suhlen vorbei. Aufgeworfen vom Schwarzwild.
Die drei Beamten schienen ebenfalls unbeeindruckt. Machten ihren Job. Wechselten nur kurze, vielsagende Blicke.
Hakala-Holappa wechselte nun zu den deutschen Versen:
»Schlaf mein Kind,
ich wieg dich leise,
Bajuschki baju,
Singe die Kosakenweise,
Bajuschki baju.
Draußen rufen
Fremde Reiter
Durch die Nacht sich zu
Schlaf mein Kind, sie reiten weiter.
Bajuschki baju.
Einmal wirst auch
Du ein Reiter …«
Der kleine Hans hielt ein. Drehte sich ab.
Hakala-Holappa bannte den Ort. Totholz. Stechpalmen, Kreuzdorn und Adlerfarn. Eine kleine Lichtung. Für ein Foto war keine Zeit. Der Schauplatz? Tatort? Er war sich sicher. Fieberte dem Augenblick entgegen, in dem von Wustrow den Mund aufmachen und etwas sagen würde. Etwas Entscheidendes. Vielleicht weinte. Schrie. Oder auch nur stammelte. Auf jeden Fall die Lippen öffnete.
Doch jener öffnete nur die Hose, soweit es die Handschellen und Schildknecht zuließen, und – pinkelte. Um nach vollzogener Notdurft kehrtzumachen, einfach umzudrehen. Den gleichen Weg. Zurück, aus dem Holz heraus, zum Parkplatz, dem Fahrzeug.
Hakala-Holappa war am Boden zerstört. Trottete abermals hinterher. Ein Trottel war er gewesen. Sich von solch einer dilettantischen Versuchsanordnung etwas zu erhoffen. Eine Lösung womöglich. Die letzten Meter glichen zudem einem Spießrutenlauf. Ein kurzes Stück mussten sie entlang der Ahrenshooper Dorfstraße gehen. Im Gänsemarsch, denn es war einiges los. Spaziergänger, Radler, Touristen, die das sonderbare Quintett mit großen Augen anstaunten. Starrten. Verwundert tuschelten.
Wenigstens war Hakala-Holappa seinem neuen Dresscode treu geblieben. Seitdem Matti und er beschlossen hatten, mittelfristig ganz nach Born überzusiedeln, verzichtete Wilhelm auf die Paradiesvogelgefieder früherer Tage. Keine roten Lederhosen mehr. Keine zitronengelben Stiefeletten oder Rüschenhemden im Fliederton. Und auch der Janker mit Blütenmuster in Mauve hatte Ausgehverbot. Selbst auf die gewagten Brillen von seinem Bruder aus Basel verzichtete er. Schluss mit dem Mummenschanz. Den Narrengewändern. Er war Realist. Wollte die Toleranz seiner Mitmenschen nicht über Gebühr strapazieren.
In Begleitung von drei bewaffneten Justizbeamten sowie eines älteren, auffällig kleinen Mannes in Handschellen sorgte er dennoch für mehr als genug Aufmerksamkeit. An der Ecke zum Schifferberg mussten sie zudem noch eine größere Reisegruppe passieren, die wohl das neue Museum suchte. Den Partikel-Hof. Heute war ja der große Tag: das Richtfest.
Die kleine Strafparade ließ aber alle Blicke von aufgeschlagenen Karten und Smartphonedisplays aufschrecken. Man stupste sich an. Sog den ungewöhnlichen Anblick geradezu ein. Genoss ihn. Überschlug sich mit Kommentaren. Mutmaßungen. »Ob das ein Attentäter ist?« – »Hat das was mit der Kanzlerin zu tun? Die will ja auch kommen.« – »Mutti? Na, nur gut, dass sie den haben!« – »Sieht aber gar nicht aus wie so ein Islamist …«
Hakala-Holappa verzichtete auf Kommentare. Bloß weg! Nun sah er auch noch aus den Augenwinkeln einen Wagen aus Richtung Born herankommen. Einen bekannten Wagen. Einen alten Wartburg. Im Zweifarbendesign. Braun und beige. Als Cabrio. Kempowskis ganzer Stolz. Rasch in den Bus! Fort von hier ist unser Ziel …
6. Dagonet
Zimmermanns Ziel war es gewesen, um einen persönlichen Auftritt beim Richtfest herumzukommen. Auf eine Ansprache zu verzichten. Es würde genug geredet werden. Mit Sicherheit. Davon hatte ihn der Blick auf das sorgfältig konzipierte Programm überzeugt. Das Team vom Partikel-Hof war jedoch anderer Ansicht gewesen. Hatte einhellig darauf bestanden, dass er sich in den Reigen der Festredner einreihte. Sicherlich, das würde er schon schaffen. Vielleicht mit einer Erinnerung an die Stunden in Partikels Atelier verbunden, die er damals sehr genossen hatte. Den Blick auf die Bilder des Malers. In allen Stadien des Werdens. Wachsens. Den Geruch nach Farben und Terpentin. Dem Kakao von Tante Doro. Trotzdem hatte er ein wenig Lampenfieber. War unruhig. Ob das an der Begegnung mit der Kanzlerin lag, die sich ja angekündigt hatte? Sogar ein Gespräch mit ihm wünschte. Eigentlich eher nicht. Zumal er die Dame schätzte, gar sympathisch fand, was er ansonsten von nur wenigen Personen aus dem Dunstkreis der Politik sagen konnte.
»Schau mal, die Jungs haben schon Position bezogen. Obwohl, sieht eigentlich gar nicht so aus wie ein Einsatzwagen. Komische Karre …« Kempowski wies auf ein Fahrzeug am Straßenrand. Ecke Schifferberg.
Er hatte Zimmermann mit seinem Wartburg abgeholt. Sonntag und Lore Bradhering wollten später nachkommen. Zimmermanns Wirtin fühlte sich nicht. War außerdem beleidigt. Gekränkt. Er hatte sich inzwischen durchgerungen, ihr seine baldige Abreise zu beichten. Ihre Reaktion war eindeutig gewesen. Ein Wandteller von Tante Wilhelm. Von der Wand gefegt. Mit links. Ein Scherbenmeer. Wie ihre Freundschaft?
Entsprechend gedanklich beschäftigt hatte Zimmermann Kempowski nur mit halbem Ohr zugehört. Komische Karre? Ihm war nichts aufgefallen. Dafür sah er den komischen Kerl aus Wieck wieder. Den Mann in Schwarz. Man in black. Mit Helm und Sicherheitsweste in Schrillgelb. Ein Zeichen? Ein Déjà-vu?
»Ach guck, der Käfer. Hast du den schon kennengelernt? Ist ja unser Architekt. Heißt eigentlich Gregor Kafka. Da muss er sich über solchen Nökelnaam nicht wundern. Hat er sich ja auch ausgesucht. Freiwillig. Ist ein geborener Müller. Den Namen hat seine Frau mitgebracht. Genau wie das Architekturbüro.« Kurz vor der Schifferkirche hupte Kempowski schnell zur Begrüßung.
Der Baumeister drehte sich zunächst rasch um und schaute zornig. Flüchtig zeigte er einen bestimmten Finger, bevor er den Wagen und den Fahrer erkannte. Und freundlich strahlte. Wie ausgewechselt. In Sekundenschnelle. Die rechte Hand nun ein Peacezeichen.
Manche Radfahrer auf dem Darß waren Zimmermann schon ein bisschen unheimlich. Allerdings war er insgeheim froh, dass das Geheimnis des bislang Unbekannten so rasch gelüftet werden konnte. Er wollte seine letzten Tage hier in Ruhe verbringen. In Ruhe und Frieden. Ganz in Ruhe. Darum hatte er auch um eine persönliche Führung gebeten, um sich den Bau vor dem großen Festakt zeigen zu lassen.
Die übernahm nun der Käfer, obgleich er Zimmermann ja eher wie eine Biene erschien. Oder Wespe. Gar als Hornisse, wenn er gereizt. In seiner Radlerrüstung, von der er sich inzwischen jedoch befreit hatte, um Kempowski und Zimmermann ein weiteres Mal zu begrüßen. Jetzt mit Handschlag. Dann mit einladender Geste. Zum Bodden! Den Paetowweg entlang, am gleichnamigen Hof vorbei. Der alte Paetow, Friedrich mit Vornamen, der einst um 1871 das Gehöft erworben und als Bauer geführt hatte, weilte längst auf der anderen Seite.
Ob er seine letzte Ruhe am sanften Hang gefunden hatte? Gleich vis-à-vis? Vielleicht würde Zimmermann später dem ruhigen Ort im Schatten der Schifferkirche noch einen Besuch abstatten. Nun forderte jedoch die Zukunft seine ganze Aufmerksamkeit.
Die Gregor Kafka mit kurzweiligen wie feinsinnigen Ausführungen würdigte. Es überzeugte Zimmermann, was er hörte, sah, erahnen konnte. Was dort entstand. Schon der Grundriss hatte es in sich: ein Oktagon. Alle Achtung! Das Achteck – Urbild des achtstrahligen Sterns. Seit der Antike, dem Athener Turm der Winde Symbol baulicher Vollkommenheit. Die setzte sich im Inneren des entstehenden Museums fort. Wo künftig ein großzügiges Entree die Besucherscharen empfangen, leiten und weiterführen würde. In die verschiedenen Bereiche. Präsentationen. Geradeaus zur Sammlung mit den Arbeiten Alfred Partikels. Das Herz des Hofes. Flankiert von den vier anderen Ausstellungsbereichen, die zunächst noch mit Arbeitstiteln etikettiert waren: Vor Ort – Regionale Randerscheinungen. Verfolgt – Kunst im Kampf. Zu Besuch – Verschwundene aus aller Welt. Miteinander – Arbeiten im Gespräch.
Das Team hatte ihm gestern die jeweiligen Schwerpunkte bereits ausführlich vorgestellt. Den Rhythmus der Ausstellungen ebenso wie die Inhalte. Zahllose Namen waren gefallen, von denen ihm kaum einer bekannt. Doch so sollte es ja sein: Im Partikel-Hof jene Künstlerinnen und Künstler vorzustellen, die aus dem Bewusstsein des Publikums, dem Interesse der öffentlichen Wahrnehmung nahezu verschwunden. Es womöglich nie geschafft hatten, in jenem gespiegelt zu werden. Jeweils auf zwei Ebenen präsentiert. Verbunden mit Wendeltreppen sowie einem gläsernen Aufzug. Barrierefrei nannte man das jetzt. Wann würde Zimmermann auf diese Freiheit zurückgreifen müssen? Wahrscheinlich schon bald. Doch jetzt noch nicht.
Daher entschloss er sich im Anschluss zu einem kurzen Abstecher zum Schifferfriedhof. Er dankte Kafka für dessen Zeit, vor allem für seine großartige Arbeit, und floh dem Ort, der sich immer mehr mit Leben füllte. Technik wurde installiert. Stühle aufgestellt. Häppchen und Getränke arrangiert. Der Partikel-Hof rüstete sich für seinen ersten großen Auftritt. Zimmermann wanderte gegen den Strom. Die Wellen der diversen Servicekräfte. Erste Schaulustige und Medienvertreter. Auch Müller-Paul, Riese, Seegers und Wahnschaffe, die vier »Hofdamen«, sah er emsig hin und her wuseln. Geschäftig. Besprechend. Telefonierend. Er winkte, grüßte knapp, freundlich, schwang seinen Gehstock und entschwand. Er würde erst kurz vor seiner geplanten Ansprache zurückkehren. Bis dahin suchte er das Zwiegespräch mit den Verstummten.
Obgleich bereits im 13. Jahrhundert erstmals urkundlich erwähnt, hatte Ahrenshoop erst 1872 einen eigenen Friedhof erhalten. Drei Tage nach dem Ende der großen Sturmflut jenes Jahres war dort am 13. November die erste Beisetzung erfolgt: ein Mädchen namens Albertine Kirchner. Keine drei Jahre alt.
Der Gottesacker auf der Düne vorm Schifferberg wurde bald ein beliebtes Motiv der Künstler, die etwa zu jener Zeit das Dorf für sich entdeckten. Allen voran Paul Müller-Kaempff. Mit seinem großen Gemälde hatte er dem Ort ein Denkmal gesetzt. Zimmermann mochte das Bild. Ein zartes Memento mori. Der Maler und seine Frau Else ruhten nun auch hier. Erst vor wenigen Wochen waren ihre Urnen und der Grabstein aus Berlin überführt worden. Sie befanden sich jetzt in guter Gesellschaft: Elisabeth von Eicken, die Schwestern Gerresheim oder Ernst Schaumann, ein Landsmann Partikels aus Königsberg, den ebenfalls ein besonderes Ende ereilt hatte. Starb er doch 1955 beim Malen in Pramort, dem östlichen, einsamen Zipfel der Halbinsel. Auch an einem Oktobertag.
Zimmermann fröstelte. Er schritt weiter. Schlenderte sich durch das »Who’s Who« der Künstlerkolonie. Auch wenn manch einer, manch eine unter anderer Erde der Ewigkeit wartete. In Wustrow zum Beispiel. Wie Dora Koch-Stetter. Ihr Mann Fritz Koch-Gotha. Frida Löber. Die Miethe. Müller-Paul hatte einmal davon erzählt. Ausführlich.
Ach ja, Koch-Gotha. Der kleine Robert Aaron Zimmermann hatte dessen »Häschenschule« geliebt. Allerdings hatte ihm der Fuchs Angst gemacht, bis in seine Träume verfolgt. Der alte böse Fuchs. Ein Wegelagerer. Hellbraunes Fell. In blutrotem Umhang. Ein langes Messer in der rechten Pfote. Ein Ehrendolch? Obwohl der ja erst 1933 eingeführt worden war. Das schöne Büchlein war jedoch bereits 1924 erschienen. Passend zu solchen Gedanken hatte Zimmermann nun das Grab von Elfriede Paul erreicht. Ärztin. Autorin. Widerstandskämpferin. Mitglied der Roten Kapelle. Sowie Tante von …
»Da steckst du also. Elisabeth ist schon ganz nervös. Der Rest der Meute auch. Du wirst erwartet!« Kempowski reichte dem Freund eine Taschenflasche aus gediegenem Silber. Ein Geschenk von Zimmermann als Erinnerung an ihre erste Begegnung. Beide schätzten guten Brandy. Auch zu früherer Stunde.
Zusammen mit zahllosen Gästen und Neugierigen, die sicherlich auch durch die Musik angelockt wurden, machten sie sich auf den Weg. Jazz. Zimmermann glaubte Chet Baker zu erkennen. »Autumn leaves«. Herbstlaub. Stimmig.
»Ja, die Burschen haben schon mal angefangen. Oscar, Leander. Und ein Adrian ist auch dabei. Sogar einen Aaron gibt es.« Kempowski lächelte. Eilte.
Zimmermann folgte. Schön, dass die Jungen ihr Versprechen gehalten hatten. Aufspielten. Obwohl, Jungen? Nun gut, junge Männer. Die Urenkel Alfred Partikels waren schließlich auch alle schon über zwanzig. Schade nur, dass ihre Großmutter in Hamburg geblieben war. Er hätte Cornelia gerne noch einmal gesehen. Nele. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.
Als Robert Aaron Zimmermann später erwachte, schaute er in das besorgte Gesicht Dörte Wahnschaffes, das sich nun jedoch aufhellte.
»Schön, dass Sie wieder bei uns sind! Wir haben uns schon Sorgen gemacht. Plötzlich einfach so umzukippen – das geht doch nicht. Allerdings hat Dr. Saalfeld nach der ersten Untersuchung Entwarnung gegeben. Nur ein kleiner Schwächeanfall. Die Aufregung. Deshalb haben wir die Sanitäter gebeten, sie ins Haus Lukas zu bringen. Hier im Schau ins Land haben Sie ja einen schönen Ausblick, wenn nachher die Illumination, also diese Projektion überm Bodden, beginnt. Und Frau Bradhering meinte, sie würde Ihnen auch nachher noch Gesellschaft leisten. Sie ist ja die ganze Zeit nicht von Ihrer Seite gewichen.«
Zimmermann erhob sich ein wenig von seiner Lagerstatt. Blickte aus dem Fenster. Wandte den Kopf. Erblickte Lore. Schöne Aussichten. »Aber das ist doch selbstverständlich. Und, so viel werde ich schon nicht verpasst haben. Wobei ich die Frau Merkel ja schon gerne einmal kennengelernt hätte.«
Lore Bradhering kam näher und setzte sich nun aufs Bett. Um ein Haar hätte sie Zimmermanns Hand ergriffen.
»Aber den Höhepunkt haben wir doch alle verpasst, liebe Frau Bradhering. Die Ansprache des guten Herrn Zimmermanns. Ansonsten wurde ja wirklich viel geredet. Ein bisschen zu viel. Der Bürgermeister. Die Ministerin. Die Kanzlerin. Johannas Festvortrag. Das hat sich ganz schön hingezogen. Dann noch die Performance. Die Musik. Das viele Essen … Apropos, der Kempowski holt Ihnen gerade was. Und ich muss leider wieder … mich um die Lichtkunst kümmern.« Wahnschaffe winkte kurz und war verschwunden.
Verpasst? Zimmermann glaubte, dass seine kleine Unpässlichkeit durchaus zur rechten Zeit gekommen war. Allerdings, zwei Dinge hätte er doch gerne getan: den Handwerkern zuprosten. Auf ihr Werk anstoßen. Und ein, zwei halbe Mettbrötchen dazu. Doch vielleicht dachte Kempowski daran und stellte sein Carepaket nicht nach diätischen oder sonstigen gesundheitsorientierten Aspekten zusammen. Er hatte schon ein bisschen Hunger, was er als gutes Zeichen deutete. Ansonsten bestätigte ihn der Vorfall darin, dass es für ihn Zeit war, nach Halifax zurückzukehren. Deutschland war ihm eindeutig zu turbulent.
»Na, mein Freund. Wieder wach? Hast uns ja einen gehörigen Schreck eingejagt. Aber das hier bringt dich wieder auf den Damm.« Kempowski tauchte in der Tür auf, trat ein und stellte einen wahren Rotkäppchenkorb ab. Wahrlich märchenhaft. Zimmermann erblickte nicht nur die erhofften Mettbrötchen, sondern auch drei, vier Flaschen der bekannten Prerower Brauerei. Sowie ein paar Wiecker Wickel zum Dessert. Lore war bereits unterwegs, Teller und Servietten zu holen. Plötzlich plätscherten Ostseewellen durch den Raum. Es erklang die Melodie von Müller-Grählerts Heimatlied.
»Och nö, wo es gerade gemütlich wird …« Mit entnervter Miene holte Kempowski sein singendes Smartphone hervor. Müller-Paul hatte ihm den Klingelton aufgespielt. »Kempowski, ja bitte! – Ach, du bist es, Wilhelm, wir haben dich …« Weiter kam er nicht. Der Anrufer ließ ihn nicht mehr zu Wort kommen. Dafür erbleichen. Nach endlosen Minuten beendete er das Gespräch: »So eine Scheiße! Ja, mache ich. Versprochen. Bin schon unterwegs.« Er steckte das Gerät ein. Stand auf. Fuhr sich durchs Gesicht. Schaute ins Land. Dann auf Zimmermann. Verlegen. Nervös. »Ich muss los. Hakala-Holappa hat ein Problem. Alles andere später.«