Kitabı oku: «Gellengold», sayfa 3
III
Am nächsten Morgen schien über der kleinen Insel wieder die Sonne. Rieder wollte noch kurz ins Büro schauen, bevor er sich in Neuendorf mit Damp traf. Er hoffte, dass der Bericht von der Spurensicherung schon angekommen war. Als er seine Mails durchsah, klingelte das Telefon.
»Hier Krüger. Ich hatte gestern einen Ihrer Kunden auf dem Tisch.«
Rieder war kurz verwirrt, dann fiel der Groschen. »Ah, der Pathologe. Und was hat er Ihnen erzählt?«
»Sauberer Stich ins Herz, durch den Rücken. Sehr scharfes, langes, spitzes Messer. Sieht man an den Wundrändern und dem Austritt der Waffe im Brustbereich. Schneller, möglicherweise überraschender Tod.« Krüger lachte mit einem tiefen Grunzen über seinen eigenen Witz.
Rieder verleierte die Augen. »Und können Sie mir sagen, ob er dort am Strand getötet wurde oder an einem anderen Ort?«
»Der Fundort ist auch der Tatort, vorausgesetzt die Aussage Ihres Zeugen stimmt. Unser Mann hat ein wenig Wasser in der Lunge, bedeutet, er muss dort ins Wasser gestürzt und mit Mund und Nase unter Wasser geraten sein, als er noch lebte. Ihre Kollegen von der Spurensicherung bewiesen jedenfalls selten gewordene Übersicht. Die Wasserprobe vom Fundort stimmt mit dem aus der Lunge unseres Herrn ›XY unbekannt‹ überein. Also Bingo! Er wurde im Wasser am Strand umgebracht.«
»Haben Sie sonst noch was gefunden?«
»Nö, das war’s. Keine Spuren von einem Kampf. Auch keine DNA-Spuren unter den Fingernägeln. Wäre wahrscheinlich auch schwierig, denn er hat eine ziemlich lange Zeit gebadet.« Wieder kam Krügers grunzendes Lachen durch den Hörer. »Den Bericht schicke ich Ihnen und den Kollegen in Stralsund. Wenn Sie noch Fragen haben, rufen Sie einfach an. Aber ich denke, es ist alles gesagt.«
Rieder notierte sich kurz die wichtigsten Erkenntnisse. Vielleicht sollten sie doch noch mal zum Tatort fahren und nach Spuren suchen? Viel Hoffnung, dort noch etwas zu finden, hatte er zwar nicht, aber er durfte keinen Strohhalm auslassen, um in dem Fall voranzukommen. Dann musste er noch etwas telefonisch mit der Polizeidirektion Stralsund regeln und auch ein Fax dorthin schicken. Im Museum anzurufen hatte wahrscheinlich noch keinen Zweck. Es war noch nicht mal 8 Uhr. Beim Hinausgehen traf er Bürgermeister Durk. »Na, schon eine Spur. Hat der Unbekannte schon einen Namen?«
»Leider Fehlanzeige. Ich bin gerade auf dem Weg nach Neuendorf, um die Unterkünfte abzuklappern.«
Durk wollte schon weitergehen, blieb dann aber doch noch einmal stehen. »Entschuldigen Sie noch mal unseren Auftritt von gestern. Es war nicht so gemeint. Aber Damp ist irgendwie ein rotes Tuch und da sind mir die Sicherungen durchgebrannt.«
Rieder nickte nur und ging hinaus.
Damp stand schon an der Bushaltestelle in Neuendorf, als Rieder vorfuhr. »Alles heil. Keine Schramme. Und die Betriebsfahrerlaubnis ist schon auf dem Weg.« Es kam etwas frecher rüber, als sich Rieder vorgenommen hatte. Er warf Damp den Schlüssel zu. Der fing ihn auf. »Dann ist ja alles in bester Ordnung. Und was machen wir nun?«
»Die Kneipen haben nur so viel gebracht, dass er in dreien gesehen wurde. Aber immer allein. Und da hier keiner EC- oder Kreditkarten nimmt, kommen wir auch damit nicht weiter. Und keiner wusste, ob und wo er hier in Neuendorf gewohnt haben könnte.«
»Hier in Neuendorf gibt’s kaum Hotels oder Pensionen. Wenn er also eine Ferienwohnung hatte, müsste er sich was zu essen gekauft haben«, gab Damp zu bedenken. »Kann mir kaum vorstellen, dass er dafür nach Vitte gefahren ist, in den Supermarkt. Wir sollten mal in den beiden Geschäften hier nachfragen, ob er da gesehen wurde.«
»Gute Idee.«
Sie ließen den Wagen am Ortseingang von Neuendorf stehen und machten sich zu Fuß auf den Weg. Beide Lebensmittelgeschäfte lagen gleich um die Ecke in Richtung Bodden. Im ersten Kiosk konnte sich der Verkäufer nicht an den Mann auf dem Foto erinnern. Auch das Bild vom Fahrrad half nicht weiter. Der zweite Laden lag unter alten Bäumen versteckt, direkt neben dem »Hotel am Strand«. Im Laden überkamen Rieder bei dem Geruch nach alten Kartoffeln und Kohl ostalgische Gefühle. Auch der Blick in die Regale war wie ein Blick in die Vergangenheit. Goldene Dosen mit Schweine- oder Rindfleisch im eigenen Saft, Schlagersüßtafel und Cottbusser Keks. Vieles hatte ja die DDR nicht überlebt, doch Rieder war immer wieder erstaunt, was überlebt hatte. Er fragte Damp leise, ob er hier einkaufen ginge. Damp antwortete ebenfalls im Flüsterton: »Selten. Meistens bringe ich mir mein Zeug aus Vitte mit. Dort ist die Auswahl größer.« Trotzdem war der Laden belebt und an den Stimmen und dem vertrauten Umgang zwischen Kunden und Personal erkannte Rieder, dass die Neuendorfer hier Stammkunden waren und ihnen das vorhandene Warenangebot nichts ausmachte. Damp und Rieder mussten einige Zeit warten, bis die dicke, blondierte Frau in einer Nylonkittelschürze an der Kasse Zeit für sie hatte.
»Hallo, Damp, wo brennt’s denn. Habe ich gegen den Ladenschluss verstoßen?«
»Guten Tag, Frau Bantow. Wir brauchen eine Auskunft von Ihnen.« Damp zeigte ihr das Foto.
»Das ist wohl der Tote vom Strand. Was macht ihr denn für ein Gewese darum. Fällt doch immer wieder mal einer hintern Deich, ohne dass gleich die Polizei großes Geschrei drum macht. Vielleicht ist er ja besoffen in die See geplumpst?«
Ihre beiden Kolleginnen, die in blaue Kittel gekleidet waren, kicherten. Ilse Bantow reichte ihnen das Bild weiter, dann wandte sie sich wieder an die Polizisten. »Aber damit ihr euch beruhigt: Der war hier. Und zwar öfters. Hat immer Wasser ohne Sprudel gekauft und solche Sachen.«
»Was heißt ›solche Sachen‹?«, fragte Rieder nach.
»So ein Biotyp eben. Dreht jede Dose dreimal hin und her oder räumt das halbe Kühlfach aus, bis er eine Milchtüte gefunden hat, die einen Tag länger haltbar ist.«
»Wissen Sie möglicherweise auch, wo er wohnt oder vielmehr gewohnt hat, hier in Neuendorf?«
Ilse Bantow verschränkte die Arme oberhalb ihres üppigen Vorbaus und sah die beiden Beamten mit skeptischem Blick an. »Was hätte ich davon, wenn ich’s wüsste? Nix als Ärger. Und ich will hier keinen Ärger.«
»Frau Bantow, hier geht es nicht um irgendeinen lächerlichen Ladendiebstahl oder eine andere Lappalie. Hier geht es um Mord. Also sagen Sie, was Sie wissen!«, forderte Rieder.
Die Bantow sah Rieder mitleidig an. »Nun spielen Sie sich nicht auf. Nur weil sie aus Berlin kommen, tanze ich nicht gleich nach ihrer Pfeife. Merken Sie sich das. Und bei uns Neuendorfern ist Nachbarschaft noch etwas wert. Und wir mögen es nicht, wenn jemand aus Vitte daherkommt und seine Nase in unsere Angelegenheiten steckt.«
Rieder fixierte Ilse Bantow, als wären ihre Worte an ihm abgeprallt. »Ihre Befindlichkeiten sind mir ziemlich egal. Sie behindern offensichtlich die Ermittlungen, dafür können Sie belangt werden. Wenn Sie Druck brauchen, kriegen Sie Druck.«
»Vergessen Sie es«, entgegnete die Ladenbesitzerin schnippisch.
Damp war die Situation sichtlich unangenehm. Er schaute auf den nicht gerade sauberen Fußboden und drehte sein Notizbuch nervös zwischen seinen Händen. »Ilse, nun komm, stell dich nicht so an …«
»Ach Damp, jetzt bin ich wieder Ilse, so wie am Sonntag, wenn du hier an mein Fenster kloppst und noch zwei Bier willst. Aber wenn’s um größere Beträge geht, bin ich Frau Bantow.« Sie sprach ihren eigenen Namen betont und mit einer gewissen Verachtung aus. »Du musst dich nicht wundern, wenn keiner von dir ein Stück Brot nimmt.«
Damp war schon dabei, sich für eine entsprechende Antwort aufzupumpen, als ihm Rieder zuvorkam, dem die Frau, aber auch das Gezerre ziemlich auf die Nerven gingen. »Also, Frau Bantow, wenn wir so nicht weiterkommen, dann würde ich Sie bitten, nachdem Sie ja die Person auf dem Foto erkannt haben, heute Nachmittag, 14 Uhr aufs Revier in Vitte zu kommen, damit wir Ihre Aussage protokollieren können. Damp, kommen Sie. Wir verschwenden hier offensichtlich unsere Zeit. Oder haben vielleicht die anderen Damen etwas zum Sachverhalt beizutragen?« Doch die schüttelten nach einem kurzen Blickwechsel mit ihrer Chefin im Takt ihre Köpfe.
Damp und Rieder wandten sich zum Gehen. Ilse Bantow baute sich auf der obersten Stufe der Eingangstreppe auf, um ihren Rückzug zu beobachten.
»Blöde Ziege«, meinte Rieder, als er sich aus Hörweite wähnte.
»Nun sehen Sie mal selbst, wie es hier so läuft.«
»Was heißt, ›wie es hier so läuft‹?«
»Die Hiddenseer lassen sich ungern in die Karten schauen. Und dann sind sich noch dazu die Leute aus Vitte mit denen aus Neuendorf nicht grün. Die haben schon früher alles unter sich ausgemacht.«
»Das ist mir egal. Ich bin hier nicht dafür da, lokale Neurosen zu therapieren. Wir müssen endlich den Namen des Toten rauskriegen. Uns rennt die Zeit weg.«
»Hier rennt gar nichts, Rieder. Das müssen Sie endlich begreifen.«
Rieder merkte, dass Damp sich durchaus bewusst war, dass er als der neue Kollege aus Berlin auf ihn angewiesen sein würde, um an die Leute hier heranzukommen. Damp war immerhin schon ein paar Jahre länger auf der Insel und hatte oft genug am eigenen Leib erfahren, wie es um die Mentalität der Hiddenseer bestellt war. Jetzt gab er nicht ohne Stolz und Befriedigung seine Lektionen an Rieder weiter. Dem fiel es schon schwer, Damp auch nur innerlich recht zu geben. »Trotzdem müssen wir irgendwie weitermachen. Oder?«
»Wie wäre es, wenn wir das Wort Nachbarschaft wörtlich nehmen?«, entgegnete Damp und wies auf ein imposantes Gebäude unter Platanen.
Das »Hotel am Strand« hatte sicher auch schon bessere Zeiten gesehen. Und wo früher im Sommer wahrscheinlich die Urlauber den Rasen im Biergarten vor dem Haus plattgetreten hatten, wucherte jetzt eine saftige Wiese hinter rostigem Zaun.
Zwei leere Betonkübel flankierten den Weg zum vermeintlichen Eingang des Hotels. An der Eingangstür offenbarte ein selbst gemaltes Schild: »Restaurant geschlossen, Hotel geöffnet.« Ein Blick durch das Fenster ließ Rieder in eine vergangene Zeit eintauchen. Da stand auf der Fensterbank sogar noch ein altes Holzbrett, auf dem zu lesen war: »Mittwoch Ruhetag. Nur Reisebüro- und Hausgäste werden versorgt.« Drinnen waren niedrige Holztische mit Eierschalensesseln zu sehen. Eine Theke, die sicher ihre dreißig oder gar vierzig Jahre auf dem Buckel hatte, wollte sich nicht so recht an die neue Werbung darüber für »Warsteiner« gewöhnen. Das Parkett davor war abgetreten von Kellnern, die mit schweren Tabletts zwischen Theke, Küche und Gästen ununterbrochen während der lange zurückliegenden Öffnungszeiten hin und her gependelt waren. Zwar lagen auf den Tischen noch Decken, aber darüber hatte sich der Staub der Zeit gelegt. Hier wurden schon lange kein Steak Letscho oder Soljanka mehr serviert.
»Offiziell vermietet der alte Eckardt ja nicht mehr. Jedenfalls hat er das Gewerbe abgemeldet«, weckte Damp Rieder aus seinen Gedanken, »aber wo kein Kläger …«
Rieder wusste, dass es auf der Insel nicht wenige gab, die am Finanzamt vorbei ihre Zimmer und Ferienwohnungen vermieteten oder es mit den Eintragungen ins Gästebuch nicht so genau nahmen. Das »Hotel am Strand« war ihm auch im Vorbeifahren schon aufgefallen. Denn hier in Neuendorf war es in seiner Größe außergewöhnlich.
»Früher soll das mal das erste Haus am Platz, wenn nicht sogar auf der ganzen Insel gewesen sein«, meinte Damp. »Hier gab es immer Musik, eine Bar, erzählen die Neuendorfer, und die Promis gaben sich die Klinke in die Hand. War auch so fast das einzige richtige Hotel hier, nachdem alles andere unter die Fuchtel des FDGB geraten war oder irgendwelche Betriebe aus den alten Hotels Ferienheime gemacht hatten.« Rieder selbst fuhr fast täglich an einer dieser Hinterlassenschaften in Vitte vorbei. Da standen drei Blöcke eines ehemaligen sogenannten FDGB-Heims der Volkswerft Stralsund, die noch immer auf einen neuen Eigentümer warteten. Aber der Zahn der Zeit hatte schon das Reetdach zernagt und der Putz blätterte an vielen Stellen in Brocken ab.
Rieder konnte sich schon vorstellen, dass dieses »Hotel am Strand« bewegte Zeiten erlebt hatte. Damp schob seine Mütze in den Nacken und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Die Bantow und der Eckardt sind sich nicht grün. Das weiß ich von der Bantow. Die ärgert sich darüber, dass der Eckardt nichts mehr auf seinem Grundstück macht und seine Bäume bei ihr über den Zaun wachsen und sie damit immer weniger Sonne auf ihrem Grundstück hat. Sie hat mich mal gefragt, ob man da von Amtswegen nicht was machen kann.«
»Dann lassen wir doch mal einen Ballon steigen.«
Die Polizisten gingen nach rechts zu einem Nebeneingang. Dort waren zwei Klingeln: Auf einer stand »Hotel«, auf der anderen »Eckardt«. Rieder drückte bei »Hotel«.
Nach einiger Zeit hörten sie drinnen Schritte, die eine knarrende Holztreppe herunterkamen. Dann wurde die Tür von einem stattlichen alten Herrn geöffnet. Sein Gesicht zierte ein kleiner grauer Schnurrbart. Das silbergraue Haar war gepflegt und leicht gewellt. Der einstige Hotelier trug eine alte Cordhose und über einem grauen Hemd eine Lederweste. »Ja, bitte?«
»Guten Tag. Herr Eckardt, nehme ich an. Damp und Rieder von der hiesigen Polizei. Wir hätten ein paar Fragen an Sie.«
»Und die wären?« Eckardt hatte eine tiefe Stimme. Er sprach klares Hochdeutsch, ohne jeden norddeutschen Einschlag. Eher klang es etwas nach deutlich unterdrücktem Sächsisch. Jedenfalls machte Eckardt keine Anstalten, die Polizisten ins Haus zu bitten.
»Wir haben gestern am Südstrand einen Toten gefunden und wollten Sie fragen, ob Sie ihn auf dem Foto vielleicht erkennen?«, begann Rieder.
Eckardt schaute kurz auf das Foto. »Ich kenne diesen Mann nicht. Woher auch? Ich verlasse kaum noch das Haus und wir vermieten auch seit Jahren nicht mehr.«
»Da ist uns aber anderes zu Ohren gekommen«, mischte sich Damp ein.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Dass Sie schwarz vermieten. Das pfeifen die Spatzen von den Dächern in Neuendorf.«
»Und. Können Sie es beweisen?«
Damp zeigte vielsagend auf das Schild an der Eingangstür.
Rieder hatte beobachtet, dass Eckardt nur kurz auf das Bild geschaut hatte. Eigentlich zu kurz, um wirklich etwas erkennen zu können. Sein kriminalistischer Spürsinn sagte ihm, dass es an der Zeit war, den Versuchsballon steigen zu lassen.
»Wir haben aber Zeugen, die gesehen haben, wie dieser Mann in Ihr Hotel ging.«
Eckardt stutzte. Dann brach es aus ihm heraus: »Wer hat denn da wieder gequatscht? Die Alte von nebenan mit ihrem Kramladen? Die will mir doch nur was anhängen. Ich kenne den Mann nicht!«
Rieder fasste nach, auch wenn er eigentlich im Nebel tappte. »Kommen Sie, Sie kennen den Mann ganz genau. Sie mussten gar nicht erst auf das Bild schauen, um zu wissen, dass es Ihr Gast ist, den Sie seit gestern vermissen – oder?«
»Was heißt hier ›vermissen‹? Kommt vor, dass einer weg ist.«
»Also war er Ihr Gast?«
Eckardt schaute kurz nach unten, als müsste er sich sammeln. »Wir sollten das vielleicht drinnen besprechen und nicht hier zwischen Tür und Angel.« Er gab den Weg frei. Die beiden Beamten traten ein in die vereinsamte Gaststube. Sie setzten sich an einen der Tische. Rieder nahm wieder das Foto von dem Toten zur Hand.
»Herr Eckardt, wir haben diesen Mann gestern Morgen tot am Strand gefunden, hinter dem Leuchtfeuer Gellen.«
Eckardt seufzte kurz. »Als hätte ich es geahnt. Ich habe davon gehört. So was bleibt hier in Neuendorf nicht geheim.« Er machte eine kurze Pause, strich über den abgeschabten Stoff der Stuhllehne. »Ab und zu, wenn einer klingelt, drücke ich mal ein Auge zu und lasse ihn hier zwei oder drei Nächte übernachten. Alles nicht der Rede wert«, erklärte Eckardt.
»Sie wissen aber schon, dass das illegal ist«, versetzte Damp in strengem Ton. »Ich bin verpflichtet, darüber beim Finanzamt in Bergen Meldung zu machen.«
Eckardt brauste auf. »Was verdiene ich denn schon daran! Die paar Euro! Meine Rente ist niedrig. Machen Sie doch mal darüber Meldung. Was bliebe mir denn von einem Euro, den ich hier einnehme, wenn ich noch das Gewerbe angemeldet hätte. Nicht mal fünfzig Cent. Wie heißt es so schön neudeutsch: Das rechnet sich nicht. Über fünfzig Jahre habe ich dieses Hotel geführt. Schauen Sie mal ins Gästebuch. Da lesen Sie Namen aus Film und Fernsehen. Die sind hier ein und aus gegangen, aber Sie wollen mich melden, weil ich mal ein paar Euro mit zwei, drei Übernachtungen eingenommen habe.«
»Aber Gesetz ist Gesetz«, beharrte Damp, »und das gilt auch für Sie, Herr Eckardt.«
Rieder ärgerte sich über seinen Kollegen und versuchte zu beschwichtigen, auch weil es hier nicht um Pfennigfuchserei, sondern um Mord ging. »Herr Eckardt, wir sind nicht vom Finanzamt, sondern von der Polizei.« Für diesen Satz erntete er von Damp einen verächtlichen Blick. Trotzdem ließ er sich nicht beirren. »Was wissen Sie über den Toten?«
Eckardt schaute Rieder in die Augen.
»Er kam letzte Woche hier an. Irgendwer am Hafen hat ihm den Tipp gegeben, bei mir mal nach Unterkunft zu fragen.«
»Wie ist sein Name?«
Der Hotelier holte sein Portemonnaie aus der hinteren Hosentasche und zog eine Visitenkarte heraus. »Ich war nicht gleich überzeugt. Wie Sie merken, man muss vorsichtig sein, denn die Missgunst lauert überall.«
Rieder las »Dr. Rainer Thies, Kunsthistoriker«, dazu eine Adresse in Berlin. Er gab die Karte an Damp weiter.
Rieder wandte sich wieder an Eckardt: »Und was hatten Sie für einen Eindruck von Herrn Thies?«
»Er wirkte seriös, trug einen dunklen Leinenanzug. Er wolle hier seine kunsthistorischen Studien fortführen. Und er hat im Voraus bezahlt, für acht Tage, wollte sich aber offenhalten, noch länger zu bleiben.«
»Hatte er in der Zeit Besuch?«
»Besuch hatte er nicht, soweit ich das beurteilen kann. Ich halte mich meistens im hinteren Teil des Hauses auf. Aber er wollte hier mit Leuten sprechen, ob nicht doch noch irgendwo Bilder der Inselmalerin Elisabeth Büchsel rumhängen oder andere wertvolle Kunstschätze. Er hat auch mich gefragt, aber wir hatten so etwas nicht in unserem Besitz. Und wenn, weiß ich nicht, ob ich es früher nicht irgendwann gegen geräucherten Aal oder gegen russischen Kaviar eingetauscht hätte für meine Gäste. Und hier im Ort habe ich ihm wenig Hoffnung machen können. Die Leute sind verschlossen. Wenn da einer klingelt und meint, ich will mich mal in eurer Wohnstube umsehen, dann fällt die Tür gleich wieder ins Schloss. Er sagte etwas von einer Ausstellung in Stralsund über die Künstler der Insel Hiddensee. Und dafür wollte er gern noch ein paar unbekannte Werke ausgraben. Aber ob er fündig geworden ist? Keine Ahnung.«
Damp notierte alles, wollte aber auch nicht nur als uniformierte Sekretärin erscheinen. »Vielleicht könnten wir das Zimmer von Herrn Thies sehen?«, mischte er sich in das Gespräch.
»Haben Sie denn einen Durchsuchungsbefehl? Früher war das ja nicht üblich, wenn sich die Herrschaften über die Ostsee abgesetzt hatten und sich die sogenannten staatlichen Organe der verbliebenen Habseligkeiten annahmen. Aber die Zeiten haben sich ja wohl geändert?«
»Einen Durchsuchungsbefehl brauchen wir nicht, da es sich hier um den Sachverhalt ›Gefahr im Verzug‹ handelt«, belehrte Damp den Hotelbesitzer. »Aber wir können natürlich auch anders, wenn Sie sich weigern.« Der Ortspolizist glaubte wieder Oberwasser zu bekommen, aber Eckardt stand auf. »Kommen Sie mit. Wir müssen ins Obergeschoss.«
Sie stiegen über die knarrenden Holztreppen nach oben. Eckardt machte am Ende der Stufen Licht. Der Flur brauchte eigentlich auch dringend eine Renovierung, das einstige Kreideweiß der Wände hatte oben und unten graue Schmutzränder. Die Holztüren zu den Zimmern waren nur lackiert. Sicher waren sie einst ein schöner Kontrast gewesen zu den hellen Wänden. Das Seebäderflair aus den frühen Jahren des letzten Jahrhunderts schimmerte noch durch. Offenbar hatte Eckardt versucht, diesen Charme über die Jahre zu erhalten. Rieder empfand etwas wie Mitleid mit dem alten Hotelier. Die Zeit war über ihn und sein Hotel hinweggegangen. Jetzt, wo alles hier modernisiert wurde, hatte er wahrscheinlich nicht mithalten können. Und die Saison war eben zu kurz, um so ein großes Hotel mit Restaurant, gerade hier in Neuendorf, halten zu können.
Eckardt öffnete die Tür mit einer aufgemalten Zwei.
»Da wären wir.«
»Die Tür ist nicht verschlossen?«, fragte Rieder.
»Ich habe gestern schon mal nachgeschaut, ob Herr Thies in seinem Zimmer ist, nachdem ich den ganzen Tag keinen Ton von ihm gehört hatte. Aber er war nicht da.«
»Und das hat Sie nicht beunruhigt?«
»Wissen Sie, mit den Jahren als Hotelier ist man so etwas gewöhnt. Leute finden im Dorf oder auf der Insel eine Urlaubsbekanntschaft und teilen dann dort das Bett, kommen nur noch mal am Abreisetag zurück, um ihre Sachen zu holen.«
Eckardt wollte ins Zimmer vorausgehen, aber Damp hielt ihn zurück. Er konnte auch einen gewissen feindseligen Ton wieder nicht unterdrücken. »Das ist jetzt unsere Sache, damit keine weiteren Spuren verwischt werden.«
Rieder versuchte einzulenken. »Haben Sie irgendetwas verändert oder vielleicht mitgenommen, als Sie gestern im Zimmer waren?«
»Ich bitte Sie! Das ist nicht mein Stil. Das Zimmer gehört dem Gast und selbst unsere Reinigungskraft räumt nicht auf, wenn es nicht gewünscht wird, sondern legt höchstens die Sachen zusammen, macht die Betten und nimmt die schmutzigen Gläser mit.«
»Hat Ihre Reinigungskraft gestern hier sauber gemacht?«
»Nein. Sie kommt nur, wenn Gäste länger als eine Woche bleiben.«
»Wann haben Sie denn Herrn Thies definitiv das letzte Mal gesehen?«, hakte Damp ein und holte sein Notizbuch wieder aus der Tasche.
»Vorgestern Nachmittag. Er kam offenbar von einer kleinen Exkursion zurück. Er hatte ein Fernglas dabei und eine Landkarte. Und er fragte mich, ob man noch irgendwo in Neuendorf Lebensmittel einkaufen könne, weil Frau Bantow am Sonntag nicht aufmacht. Ich sagte ihm, er müsse dann schon nach Vitte in den Supermarkt fahren. Der hat jetzt in der Sommersaison auch sonntags auf.«
»Und danach?«
»Ich habe ihn gegen Abend gehört, wie er die Treppe runterging. Er muss durch den Seitenausgang raus sein, weil er auch sein Rad mitgenommen hat.«
Rieder holte die Fotografie aus dem Jackett und reichte sie Eckardt.
»Dieses Rad?«
»Ja genau, dieses Rad. Er hat außerdem noch den Wagen mitgenommen, den ich ihm geborgt habe, falls er irgendetwas Brauchbares für seine Ausstellung findet. Er fragte mich auch, ob ich die Sachen vorübergehend in Verwahrung nehmen könnte, für den Fall, dass er zwischendurch noch mal zurück nach Stralsund muss.«
»Können Sie den Wagen beschreiben?«
»Na, so ein typischer Fahrradanhänger, den hier alle haben. Er ist auch schon einige Jahre alt. Die Wanne ist aus Metall, silbergrau, wie es früher üblich war und nicht aus diesem Plastikzeug.«
Eckardt gab Rieder das Foto zurück.
»Das Rad haben wir am Strand gefunden, in unmittelbarer Nähe von Thies’ Leiche, aber von dem Anhänger gibt’s nur Spuren. Hat er denn besondere Kennzeichen oder haben Sie vielleicht sogar ein Foto von dem Wagen?«
Eckardt überlegte und schüttelte dabei den Kopf. Dann hob er die Hand, als wollte er irgendetwas aufhalten. »Warten Sie, hinten steht ›Überbreite‹ drauf. Ein Freund aus Kloster, ein Maler, der ihn sich immer mal ausgeborgt hat, um seine Staffelei durch die Gegend zu kutschieren, hat das hinten draufgemalt.«
»Könnten Sie doch mal nachschauen, ob Sie nicht doch noch ein Foto finden, wo der Wagen drauf ist? Wir würden in der Zeit mal das Zimmer inspizieren.«
Während Eckardt wegging, nahmen die beiden Polizisten das Zimmer in Augenschein. Das kleine Fenster ging nach hinten raus, Richtung Schabernack. Das Zimmer war keine fünfzehn Quadratmeter groß. In der Mitte dominierte ein dunkles Holzbett den Raum. Auch schon etwas älter. In die Fuß- und Kopfbretter waren geflochtene Korbteile eingelassen. Decke und Kissen waren gemacht, wenn auch nicht gerade ordentlich. An beiden Seiten des Bettes standen kleine Nachttischschränke. Über dem Bett hing ein altes Seemannsbild. Ein Schiff in heftigem Sturm. Oben an der Decke eine kleine Deckenleuchte, die am Abend sicher kein gleißendes Licht warf. Um zu lesen, war man wohl eher auf die Nachttischleuchten mit gebogenen Ständern und matten runden Schirmen angewiesen. Aber auch eine Sitzdecke mit rundem Tischchen und zwei Korbstühlen am Fenster lud zu gemütlichen Lesestunden an trüben Regentagen ein. Gleich links neben dem Eingang stand ein gewaltiger dunkler Schrank, rechts war die Waschecke, darunter ein kleiner Kühlschrank. Rieder öffnete ihn und fand darin Milch, Vollkornbrot und eine Bioleberwurst.
Über den Korbstühlen lagen Kleidungsstücke, auf dem kleinen Tischchen und den Nachtschränken waren Papiere, Landkarten und Bücher verstreut. Rieder und Damp streiften Latexhandschuhe über, doch Rieder hielt seinen Kollegen zurück, als dieser anfangen wollte, die Sachen zu durchsuchen. »Wir müssen die Spurensicherung rufen. Bis dahin sollten wir vorsichtig sein und so wenig wie möglich verändern.« Dann nahm er sein Telefon und wählte die Nummer von Holm Behm. Behm versprach ihm, sofort einen Trupp loszuschicken. Er würde versuchen, auch selbst mitzukommen. Während Damp begann, die herumliegenden Hosen, T-Shirts und Hemden nach Papieren zu durchsuchen, rief Rieder auch noch bei Bökemüller an. Er wurde auf das Handy des Chefs der Polizeiinspektion durchgestellt. Bökemüller machte einen gestressten Eindruck, als er sich meldete. Um ihn herum erklang ein wahres Sprachgewirr aus Deutsch, Englisch und Platt.
»Mensch Rieder, ich bin gerade wieder bei einer dieser nervigen Vorbesichtigungen. Die Amis wollen jeden Tag alles wieder auf den Kopf stellen. Ich kann Ihnen sagen, da macht man was mit.«
»Ich kann es Ihnen nachfühlen. Ich will auch nicht groß stören. Aber wir haben den Toten identifiziert. Es handelt sich mit größter Wahrscheinlichkeit um einen Rainer Thies, Kunsthistoriker aus Berlin.«
»Das ist ja sehr gut. Aber hätte das nicht Zeit gehabt, bis ich wieder im Büro bin?«
Rieder merkte, dass dies wohl kein so guter Zeitpunkt war, um sein Anliegen vorzubringen. »Ich bräuchte aber Ihre Hilfe, um die Berliner Kollegen um Amtshilfe zu bitten.«
»Also Rieder, nun hören Sie mal. Dafür gibt es den Dienstweg und die Berliner werden sich der Sache schon annehmen. Bereiten Sie den Schreibkram vor und senden Sie ihn mir per Mail ins Büro.«
Rieder hatte das erwartet und eigentlich versuchte er immer, an seine Vorgesetzten keine Bitten zu richten. Er gab sich innerlich einen Ruck.
»Ich würde aber gern einen ganz bestimmten Kollegen in Berlin anfordern und dachte, bei Ihren Verbindungen zur Berliner Polizei könnten Sie es vielleicht deichseln, dass sich mein früherer Partner Tom Schade der Sache annimmt.«
Bökemüller hatte beim Einstellungsgespräch durchblicken lassen, dass er natürlich in Berlin Referenzen über Rieder eingeholt habe, auf hoher Ebene wohlgemerkt. Wozu spiele er denn seit einigen Jahren mit dem stellvertretenden Berliner Polizeipräsidenten immer mal eine Runde Golf auf Rügen, auch wenn er diesen Sport ziemlich langweilig fände. Aber in seinen Kreisen der höheren Polizeioffiziere sei das eben so üblich.
Jetzt hörte Rieder zunächst nur ein Räuspern in der Leitung.
»Ich werde mal sehen, was ich tun kann. Versprechen kann ich Ihnen aber nichts. Das ist ja nun eher ein Routinefall und da würde ich die Trümpfe echt mal für eine größere Sache in der Hinterhand halten. Aber schreiben Sie den Namen des Kollegen sicherheitshalber mit in die Mail hinein. Jetzt muss ich weiter.«
Und schon legte er auf. Rieder steckte seufzend sein Handy ein. Damp hatte die ganze Zeit über so getan, als hätte er nicht zugehört, aber sein leicht spöttischer Blick verriet Schadenfreude darüber, dass Rieder bei Bökemüller auf Granit gebissen hatte.
»Keine Papiere sonst gefunden«, erklärte Damp, der mittlerweile alle Kleidungsstücke und jede Schublade durchsucht hatte.
»Gibt’s nicht so etwas wie einen Koffer?«, fragte Rieder.
»Ich habe nichts gefunden. Ich schau noch mal in den Schrank.«
Der Polizist öffnete den dunklen Schrank und buckelte einen riesigen Aluminiumkoffer heraus.
»Schauen Sie mal, Rieder! Der ist ja riesig.«
Damp stellte den Koffer in die Mitte des Raumes, öffnete die Schlösser und klappte ihn auf. Beide Polizisten staunten, denn im Inneren des Koffers befand sich ein Futteral aus Schaumstoff mit vielen verschiedenen Fächern, die sich um eine Art runden Hohlkörper gruppierten.
»Was war hier wohl verpackt?«, fragte Rieder mehr sich selbst als seinen Kollegen, der das Innere des Koffers befühlte.
»Sehen Sie den vielen Sand in den Ritzen überall. Was hier drin war, muss im Sand gestanden haben. Und ich würde sagen irgendwo am Strand, so fein, wie der Sand ist.«
»Hm, keine Ahnung. Ich kann keine Sandkörner vom Strand und vom Dorf unterscheiden. Lassen wir das die Jungs von der Spurensicherung prüfen.«
»Die werden sich freuen, denn wie kriegen sie das ganze Zeug erst mal nach Stralsund?«
»Nicht unsere Sache«, sagte Rieder und zuckte mit den Schultern, »Ist Ihnen sonst noch was aufgefallen?«
Damp wischte sich die Stirn, denn hier unter dem Dach war es jetzt so kurz vor Mittag bei dem Sonnenschein draußen richtig heiß. »Ich habe ja nicht viel Ahnung von so was, aber ich denke die Sachen sind alle nicht billig gewesen.«
Rieder inspizierte selbst noch einmal die Kragen der Hemden und T-Shirts und entdeckte dann auch auf der Kleidung die Zeichen bekannter Modelabels. Bei den Büchern fiel Rieder auf, dass es offenbar in allen um die Insel Hiddensee ging. Thies hatte sich scheinbar intensiv mit der Geschichte der Insel beschäftigt. Als Rieder die Bücher etwas anhob, um die Titel zu lesen, fiel aus einem Buch eine zusammengefaltete Landkarte heraus. Er faltete sie auseinander: eine Art topografische Karte oder Seekarte. Die Wege und Häuser auf der Insel waren viel genauer eingezeichnet als auf normalen Touristenkarten. Genau waren die unterschiedlichen Erhebungen und Ausbuchtungen benannt, die oft nur die Einheimischen kannten. Kein Verlag für Touristenkarten machte sich die Mühe, alle diese Angaben einzuzeichnen. Die Karte konnte von der Bundeswehr stammen oder von der Bundesmarine, denn es waren auch viele Markierungen auf See zu erkennen. Aber besonders fielen ihm Kreuze mit Buchstaben und Zahlen ins Auge, die offenbar nachträglich eingetragen worden waren. »SM4 am Strand von Vitte« oder »StM2 am Krakensee, auf der Boddenseite, kurz vor dem Gellen.« Im Vogelschutzgebiet Gellen fanden sich auf der Karte aber neben den Einträgen viele Kreuze. Auch direkt vor der Küste. Zum Beispiel in der Nähe vom kleinen Leuchtfeuer Gellen. Also ganz in der Nähe vom Fundort der Leiche. Rieder drehte die Karte um und entdeckte einen Stempel. »Eigentum der Nationalparkverwaltung Vorpommersche Boddenlandschaft. Außenstelle Hiddensee.«
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