Kitabı oku: «Norderende»
Tim Herden
Norderende
Ein neuer Fall für Rieder und Damp
mitteldeutscher verlag
Inhalt
Cover
Titel
Tim Herden
Widmung
Prolog
I
II
III
IV
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIII
XIX
XX
XXI
XXII
XXIII
XXIV
XXV
XXVI
XXVII
XXVIII
XXIX
XXX
XXXI
XXXII
XXXIII
XXXIV
XXXV
XXXVI
XXXVII
XXXVIII
XXXIX
XL
XLI
XLII
XLIII
XLIV
XLV
XLVI
XLVII
XLVIII
XLIX
L
Impressum
Tim Herden, geboren 1965 in Halle (Saale), arbeitete nach dem Studium der Journalistik in Leipzig zunächst als wissenschaftlicher Assistent und Journalist, ehe er 1991 Redakteur beim Mitteldeutschen Rundfunk in Dresden wurde. Heute ist er Korrespondent im ARD-Hauptstadtstudio Berlin. „Gellengold“ war sein erster Krimi, 2012 erschien mit „Toter Kerl“ sein zweiter Hiddensee-Roman.
Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Tino
Wie der Sternenhimmel über der Ostsee – so funkelte das Licht der alten Laterne durch die kleinen Löcher im Stoff des Zeltkinos in Vitte. Auf der nicht mehr ganz taufrischen Leinwand umwarb ein brummiger Gerard Depardieu eine kesse Blondine. „Chanson d’amour“ stand auf dem Programm. Der Film war ganz nach dem Geschmack des Publikums. Jedenfalls war der erste Auftritt Depardieus von einem Chor wollüstiger Seufzer des nahezu ausschließlich weiblichen Publikums aufgenommen worden. In dicke Fleecejacken und knallgelbe Ostfriesennerze gehüllt, drängten sie sich auf dem harten Kinogestühl. Dazu lag ein Hauch von Mückenschutzmittel in der Luft. Die warmen Körper in der feuchten Nachtluft des späten Septembers lockten die Quälgeister in Scharen herbei und ließen sie satte Beute machen.
Die Zeit des Altweibersommers war die Saison der alleinstehenden Frauen auf Hiddensee. In Scharen strömten sie auf die Ostseeinsel. Im Sommer hatten sie auf Urlaub verzichtet, damit Familien mit Kindern in die Ferien fahren konnten. Single-Männer zog es offenbar nicht gleichermaßen zum Inselurlaub. Sie waren jetzt zum Leidwesen der zahlreichen Touristinnen auf der Insel Mangelware.
Fast uniform waren die Frisuren der Frauen im Publikum. Halblang, gern etwas asymmetrisch geschnitten, pflegeleicht und praktisch für jedes Wetter, das die Insel jetzt bot: Sonnenschein, Sturm und Regen. Dazu baumelte einseitig an den Ohren bunter Modeschmuck in Form geometrischer Figuren: Kreise, Dreiecke oder Filzgebilde.
Birte war die Ausnahme. Sie war die einzige Frau, die an diesem Abend ein kurzes Sommerkleid trug. Und sie war mit einem Mann erschienen. Ihr war es egal, ob sich der französische Barde auf der Leinwandbühne noch zu einem Happy End sang. Ihr Interesse galt ausschließlich Markus. Seit die Lichter ausgegangen waren, knutschten sie wie Teenager, stießen sich dabei ihre Rippen an den harten Lehnen des Kinogestühls und ließen sich auch nicht vom kritischen Räuspern und Hüsteln ihrer Hinterfrauen stören.
Birte spürte, wie ihr die Erregung ins Gesicht stieg. Markus hatte seinen Arm um ihre Schulter gelegt und strich mit seinen Fingerspitzen, scheinbar zufällig, über die Seite ihrer linken Brust. Schwärme von Schmetterlingen durchzogen Birtes Bauch. Ein Gefühl, das sie seit Jahren vermisst hatte.
Der Abspann ertönte. Während die Namen der Darsteller über die Leinwand flimmerten, ging langsam das Licht an. Die Kinobeleuchtung bestand aus alten DDR-Wandlampen und warf nur Dämmerlicht in das Kinozelt. Das Publikum schälte sich aus den engen Sitzen. Beine und Arme wurden mit leisem Stöhnen gestreckt. Den Blick nach unten gerichtet, um nicht auf dem Kopfsteinpflaster zu stolpern, strömte man dem Ausgang entgegen.
Birte und Markus saßen noch. Sie schauten sich in die Augen. Ihre Gesichter waren verschwitzt.
„Und was jetzt? Zu Sebastian und Katharina zurück?“, fragte Markus.
Sebastian und Katharina waren ein Freundespaar, das Birte und Markus getrennt voneinander vor Jahren kennengelernt hatten. Sie besaßen ein kleines Ferienhaus in der Dünenheide zwischen Vitte und Neuendorf. Sie hatten die beiden eingeladen, einen Teil des Urlaubs mit ihnen auf Hiddensee zu verbringen. Dort hatten sich Birte und Markus das erste Mal gesehen und waren sofort füreinander entflammt. Markus war ein Mittvierziger, nahezu einsneunzig groß, muskulös mit dichtem schwarzen Haar, das hier und da von grauen Strähnen durchzogen wurde. Ein Mann im besten Alter. Er arbeitete als Politikberater in Berlin. Markus war geschieden. Er litt unter der Trennung von seinen beiden Kindern. Aber hier auf der Insel hatten sich seine Sorgen in Luft aufgelöst. Der Grund war Birte. Sie hatte Kulturwissenschaft studiert, arbeitete als freischaffende Fotografin. Mehr schlecht als recht schlug sie sich durchs Leben. Mit Aufträgen für Design- und Hotelfotografie kam sie gerade so über die Runden. Sie musste deshalb ab und zu eine Hochzeitsfeier ablichten, um weiter die Miete zahlen zu können. Knapp bei Kasse, konnte sie sich eigentlich keinen Urlaub leisten. So kam ihr die Einladung auf die Insel gerade recht.
Seit Markus vor drei Tagen auf der Insel erschienen war, schwebte die kleine blonde Frau mit dem lockigen Kurzhaarschnitt geradezu über die holprigen Straßen von Hiddensee.
Allerdings spürten Birte und Markus, dass die Situation für ihre Gastgeber nicht ganz einfach war. Nachdem sich die beiden nun seit zweieinhalb Tagen anschmachteten, kam eigentlich kein vernünftiges Gespräch mehr zustande. Sebastian und Katharina wirkten angespannt und überfordert. Vielleicht waren sie auch bloß eifersüchtig auf das junge Glück.
Deshalb wäre es nicht gut, dachte sich Birte, jetzt zu Sebastian und Katharina zu fahren und sie als Ohrenzeugen an ihrer zweiten Liebesnacht teilhaben zu lassen. Die beiden Schlafzimmer im Obergeschoss des Ferienhauses waren lediglich durch eine dünne Wand getrennt. Privatsphäre gab es praktisch nicht.
„Wir könnten noch was unternehmen“, schlug Birte vor. „Sebastian und Katharina werden uns wahrscheinlich nicht vermissen.“
Markus zog die Augenbrauen nach oben.
„Ganz sicher nicht! Denen geht unser Flirtalarm nämlich total auf die Nerven. Vielleicht brauchen sie mal ’ne Pause.“
„Habe ich gar nicht mitbekommen ... Also zurück an den Strand?“
Dort hatten sie vor dem Kino lange Zeit eng umschlungen gesessen und dem Anschlagen der Wellen zugeschaut.
Birte schlug die Augen nieder. Sie bohrte ihre Schuhspitze in eine der Sandfugen zwischen den Pflastersteinen des Kinobodens. „Ich habe da vorhin einen kleinen Abzweig kurz hinter der Düne gesehen. Da liegt ein altes Ruderboot. Ist vielleicht ein ganz nettes Plätzchen für ...“
Markus grinste: „Gute Idee.“
Draußen nahm sie Markus an die Hand. Sie gingen am Kino vorbei in Richtung Strand. Der Weg war in der Dunkelheit kaum zu erkennen. Orientierung bot nur das Glitzern der Ostsee im Mondschein. Kurz vor dem asphaltierten Dünenweg zog Birte Markus nach rechts. Sie zwängten sich an Sanddornsträuchern vorbei in das kleine Strandwäldchen. Dort lag das alte Ruderboot, den Kiel nach oben. Markus setzte sich und nahm Birte auf den Schoß. Sie schlang ihre Beine um seine Hüften. Die beiden begannen sich heftig zu küssen. Markus schob seine Hände unter Birtes Kleid und fühlte ihre nackten Beine.
Sie versuchte, seine Hose zu öffnen. Er hielt sie kurz zurück.
„Warte mal. Ich steh’ mal kurz auf.“
Während Markus seine Hose auszog, ging Birte etwas zur Seite. So ein großer Mann brauchte einen großen Bewegungsspielraum. Plötzlich spürte sie an ihren Waden einen Widerstand. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte mit wedelnden Armen nach hinten, fiel aber weich auf eine Art Stoffballen. Zuerst dachte sie, es wäre vielleicht ein Fischernetz. Doch als sie sich mit ihren Händen abstützen wollte, um wieder aufzustehen, spürte sie menschliche Haut. Birtes Schrei durchschnitt die laue Herbstnacht.
I
Stefan Rieder betrachtete seine Unterarme. Sie waren übersät mit Kratzern. Ein paar Blutstropfen waren durch die geschundene Haut gedrungen und bildeten nun rötlichbraunen Grind. Außerdem war sein Gesicht gezeichnet von Dutzenden Mückenstichen. Rieder fragte sich, was ihn dazu getrieben hatte, diese Tortur über sich ergehen zu lassen. Aber wenn er ein richtiger Hiddenseer werden wollte, musste er auch lernen, Sanddorn zu melken. Das jedenfalls hatte sein Nachbar Malte Fittkau behauptet.
Den ganzen Vormittag waren Malte und er durch die Sanddornbüsche am Ende des Wiesenweges in Vitte gekrochen. Sie hatten die leuchtend orangefarbenen Beeren von den Ästen gestrichen und in Plastikeimer gefüllt. Einziger Schutz gegen die Stacheln an den Ästen waren ein paar alte Lederhandschuhe und gegen mögliche Schlangenbisse hohe Gummistiefel.
Rieder hatte es auch nicht besonders lustig gefunden, als ihm Malte erst mitten im Dickicht der Sanddornbüsche erzählt hatte, dass ihm genau hier vor einem Jahr ein Wildschwein begegnet war.
„Wildschwein?“, hatte Rieder ungläubig gefragt.
„Ja, war nicht groß. Vielleicht so.“ Malte hatte die flache Hand auf die Höhe seiner Hüfte gehalten.
„Das nennst du nicht besonders groß?“ Rieder hatte sich umgedreht und nach einem Fluchtweg Ausschau gehalten. Aber Fehlanzeige. Sie waren schon so tief im Buschwerk verschwunden, dass es bereits unter normalen Bedingungen einige Mühe gekostet hätte, wieder herauszufinden.
„Wie kommen die Schweine auf die Insel?“
„Schwimmen rüber von Rügen. Und hier vor Vitte können sie gut ans Ufer klettern.“
Rieder hatte einen Riesenrespekt vor Wildschweinen. Während seiner Dienstzeit in Berlin war er im Grunewald mehrmals ganzen Rotten begegnet. Einmal hatte er sich mit seinem Partner Tom Schade nur knapp ins Auto retten können, als eine Horde angriffslustig aus dem Unterholz auf sie zugestürmt war.
„Letztes Jahr“, hatte Malte Fittkau weiter geplaudert, „da haben wir am Seglerhafen ein totes Schwein aus dem Bodden gefischt. Ein Brocken.“ Er hatte dabei die Arme weit ausgestreckt. „Das wäre ein Braten gewesen. Ist im Eis eingebrochen und nicht wieder rausgekommen.“
„Werden die Schweine denn auf der Insel gejagt?“
„Meist nicht. Der Bürgermeister hat sich extra eine Flinte gekauft. Aber dann kamen die Naturschützer. Biosphärenreservat! Wir lassen der Natur ihren Lauf!“, hatte Fittkau geantwortet und dabei kurz mit der Hand eine Scheibenwischerbewegung vor seinem Gesicht gemacht. „Schau mal bei deiner nächsten Patrouille etwas tiefer in den Wald am Dornbusch. Schön durchgepflügt. Ob das der Natur so gut tut?“
„Aber ich habe noch nie ein Schwein gesehen.“
„Warst du schon mal nachts am Leuchtturm?“
Rieder hatte zwar in den sechs Monaten, in denen er jetzt auf Hiddensee Dienst tat, aus der Ferne nachts oft das blinkende Licht der Leuchtturms auf der Nordspitze der Insel gesehen und als beruhigend empfunden. Aber zu später Stunde war er noch nie dort oben gewesen.
„Wir können ja mal eine Tour machen und nach den Schweinen schauen“, hatte Fittkau angeboten. Rieder hatte offen gelassen, ob er diese Offerte wirklich annehmen wollte.
Stefan Rieder war im April auf die Insel gekommen. Zuvor war er Hauptkommissar bei einer Mordkommission in Berlin gewesen. Heute fiel es ihm zuweilen schon schwer, sich an dieses frühere Leben zu erinnern. Es war für ihn weit weg. Die Gewalt in Berlin. Die ewigen Schichten im Kommissariat. Die endlosen Nächte, wenn Verdächtige beschattet werden mussten. Die Aktenstapel ungelöster oder laufender Fälle. Das Einzige, was ihm fehlte, war sein Partner Tom Schade. „Jung, mach dir mal kein’ Kopp“, war immer einer seiner Lieblingssprüche gewesen, wenn ihnen ein Fall die letzte Kraft zu rauben schien. Schades rheinischer Lebensmut hatte einfach gutgetan und war ansteckend gewesen. Doch irgendwann hatte auch das Rieder nicht mehr aufgebaut.
Eines Morgens hatte Rieder am schwarzen Brett eine Stellenausschreibung der Polizeidirektion Stralsund entdeckt. Sie suchten einen Polizisten für ein Projekt zur Verbrechensprävention in den Tourismusgebieten an der Ostseeküste. Testort sollte die Insel Hiddensee sein. Er hatte die Stellenanzeige einfach abgerissen und noch am Abend die Bewerbung zur Post gebracht. Seine Zeugnisse waren gut. Mehrfach war er für die Aufklärung von komplizierten Fällen belobigt worden. Seine Besoldungsgruppe passte. Stralsunds Polizeidirektor Bökemüller hatte zwar zunächst einige Bedenken gegen den Mann aus der Hauptstadt, dann hatte er aber doch Rieders Bewerbung, inklusive Rückkehrrecht nach Berlin innerhalb von zwei Jahren, zugestimmt.
Anfang April war Rieder im Polizistenhimmel angekommen. Auf der Insel Hiddensee. Statt Autolärm Meeresrauschen. Statt aggressivem Gebrüll Testosteron-gesteuerter Jugendlicher entspannte Touristen, die über die Insel wanderten.
Ein Quartier hatte Rieder im Wiesenweg in Vitte gefunden. Dort hatte er ein kleines Kapitänshaus gemietet. Es lag mitten auf einer grünen Wiese. Der Zaun zur Straße war überwuchert von einer Rosenhecke, die seit Rieders Ankunft rosa blühte. Jetzt im frühen Herbst begannen sich die Blüten in rote Hagebutten zu verwandeln.
Hier auf der Insel war Rieder seit langem der Wechsel der Jahreszeiten wieder richtig bewusst geworden. Als er ankam, standen in den Vorgärten noch Narzissen und Tulpen. Dann, im späten Frühjahr versanken die Hänge des Dornbuschs im Insel-Norden im gelben Meer des Ginsters. Der Sommer kam, die Zeit der Kirschen und der Königskerzen. Nun kündigten die prallen violetten Brombeeren auf dem Friedhof in Kloster und die orangefarbenen Beeren des Sanddorns den Herbst an. Ein wenig hatte Rieder Angst vor dem Winter, wenn das Leben auf der Insel erstarb. Auf seine Frage, was denn der Hiddenseer außerhalb der Saison tun würde, hatte Malte nur ein Wort gesagt: „Warten.“
Malte Fittkau kam über die Wiese geschlendert. Er wohnte auf dem Nachbargrundstück und betrieb eine kleine Ferienpension. Mit Kapitänsmütze, Latzhose und Gummistiefeln wirkte er wie ein traditioneller Hiddenseer Fischer. Allerdings hatte er das Handwerk nie ausgeübt. Er verfügte zwar noch über ein paar Fischrechte im Bodden, die er von seinem Vater geerbt hatte, nutzte sie aber nicht einmal für den Eigenbedarf. Die Tracht war eher als Inselfolklore für seine Gäste gedacht.
Ohne seinen Nachbarn Malte hätte Rieder vielleicht schon an seinem Wechsel von Berlin nach Hiddensee gezweifelt. Doch Malte hatte Rieder auf der Insel Tür und Tor geöffnet und ihn auch mit der Lebensart der Insulaner vertraut gemacht. Malte kannte einfach jeden und wusste alles. Sein heimlicher Spitzname war „Inselfunk“. Er stand Rieder bei den kleinen Widrigkeiten des Lebens zur Seite – anders als in der Großstadt gab es hier keine Baumärkte und kaum Handwerker, wenn man ein Ersatzteil brauchte oder etwas zu reparieren war. Dafür gab es Maltes goldene Hände.
„Wieder fit?“, fragte Malte und deutete auf Rieders zerschundene Arme.
„Geht schon.“ Der Polizist wollte nicht als städtischer Softie erscheinen.
„Dann können wir weitermachen.“
„Was?“
„Den Sanddorn quetschen.“
Rieder sah seinen Nachbarn verständnislos an.
„Die Beeren müssen durchs Sieb für den Saft. Ich habe sie schon mal ein bisschen abgekocht, damit die Schale etwas weicher ist und die Saftpresserei leichter geht.“
„Aha. Gibt’s da nicht ’ne Saftpresse oder so was?“
„’ne Saftpresse?“ Malte schüttelte befremdet den Kopf.
Rieder folgte Fittkau zu seinem Häuschen, einem langgestreckten alten Fischerhaus mit Reetdach. In dem kleinen Hof, der durch die vielen Anbauten um das Haus und die Schuppen entstanden war, standen die Plastikeimer mit den gelben Beeren und ein leerer Bottich. Daneben lagen ein Küchensieb und ein Quirl.
Rieder nahm das Sieb und hielt es ins Licht. „Da soll was durchkommen?“
„Das passt schon“, antwortete Fittkau. Er nahm ihm das Sieb aus der Hand und füllte es mit Beeren. Dann begann er mit dem Quirl die Beeren im Sieb zu zerreiben. Der Saft tropfte dickflüssig in den Bottich. Doch die Schalen der Beeren waren immer noch so hart und das Mark der Beeren so breiig, dass das Sieb schnell verstopft war.
„Mach mal weiter!“ Fittkau übergab Rieder Sieb und Quirl. Malte verschwand in einem seiner Schuppen. Rieder kam ins Schwitzen. So sehr er auch rührte und quetschte, der Bottich füllte sich nur langsam.
Fittkau kam mit einem Korb voller Flaschen wieder heraus.
„Das Sieb ist zu klein“, maulte Rieder. Malte reagierte nicht, sondern ging mit den Flaschen ins Haus.
‚Wenn die alle mit Saft gefüllt werden sollen‘, dachte sich Rieder, ‚dann muss ich die ganze Nacht rühren.‘
Fittkau machte ihm ein Zeichen, mal anzuhalten. Er schaute in den Bottich, der jetzt gerade halbvoll war. Dann setzte er einen Trichter auf eine Flasche und füllte nun ganz vorsichtig etwas Saft aus dem Bottich hinein. Dann hielt er die Flasche hoch und nickte. Offenbar war er mit der Qualität des Sanddornsaftes zufrieden. „Sieht gut aus. Bin gleich wieder da.“
Fittkau verschwand mit dem Bottich im Haus, kam aber gleich wieder mit dem leeren Gefäß zurück. „Während ich drinnen den Saft aufkoche und in die Flaschen fülle, kannst du hier weitermachen.“
Dann stellte er den Bottich wieder hin und machte eine kreisende Bewegung, damit Rieder mit dem Quetschen der Beeren fortfahre.
Langsam ging die Sonne unter. Rieder sah vor lauter Rühren nicht, wie sich der Himmel im Westen der Insel blutrot verfärbte. Erst als Fittkau das Außenlicht an seinem Häuschen anmachte, wurde ihm klar, wie lange er jetzt schon Sanddorn durch das Küchensieb matschte.
Rieder stand auf. Das Brennen auf den Armen war verschwunden. Dafür schmerzte sein Rücken. Er streckte sich und lief ein paar Schritte. Dabei sah er, wie eine Frau hektisch an die Tür seines Häuschens klopfte. Es war seine Nachbarin zur anderen Seite. Dora Ekkehard, die Kinofrau. Als sie Rieder entdeckte, stürmte sie auf ihn zu.
II
Sie müssen sofort kommen. Am Kino liegt ein Toter!“, rief Dora völlig außer Atem.
Rieder kratzte sich am Kopf und wiegte den Kopf hin und her. „Ich bin eigentlich nicht zuständig. Ich habe frei. Sie müssten sich bitte an Herrn Damp wenden.“
„Zuständig, zuständig ... Wo sind wir denn hier? Da liegt ein Toter, und Sie erklären sich als Polizist für nicht zuständig. Wir sind hier doch nicht auf dem Finanzamt!“ Die Augen von Dora Ekkehard blitzten vor Zorn. Sie stemmte ihre Arme in die Hüften des kompakten Körpers.
„Haben Sie schon versucht, Damp zu erreichen?“
„Habe ich! Mailbox!“
Ole Damp war wie Rieder Inselpolizist auf Hiddensee und seit kurzem Revierleiter. Beide verband eine innige Hassliebe. Rieder hatte keine Lust, die schwelenden Machtkämpfe im kleinen Inselrevier neu anzufachen. Damp hatte Bereitschaft, und er würde es Rieder sehr übel nehmen, wenn er sich in seine Kompetenzen einmischte. Andererseits war Rieder klar, bei einem ungeklärten Todesfall konnte man nicht einfach Dienst nach Vorschrift machen.
„Haben Sie schon Dr. Möselbeck angerufen?“
„Der schickt mich doch! Möselbeck hat gesagt, Peter Stein ist nicht eines natürlichen Todes gestorben. Da muss die Polizei her.“
Rieder nickte und war aber zugleich verwirrt. Er ging davon aus, dass es sich um einen Zuschauer aus dem Kinopublikum handelte. Woher kannte Dora Ekkehard den Namen des Toten? „Ein Herr Stein?“, fragte Rieder.
Dora Ekkehard starrte Rieder an, als wäre er ein Außerirdischer. „Mensch, da liegt Peter Stein! Der Bauunternehmer!“
Rieder zuckte mit den Schultern. In sechs Monaten konnte man selbst auf einer kleinen Insel wie Hiddensee nicht jeden Insulaner kennen. Mit einem Peter Stein hatte er jedenfalls noch nichts zu tun gehabt. Aber wenn Möselbeck ein Verbrechen vermutete, musste er jetzt wohl handeln.
„Warten Sie einen Moment ...“ Er ging in sein Haus, um seine Sachen zu holen. Drinnen versuchte er, Damp zu erreichen. Er tippte die Nummer seines Kollegen in sein Telefon. Es klingelte. Dann meldete sich aber nur die Mailbox. Jetzt gab es nur noch eine Chance.
Rieder wählte die Nummer von seiner Freundin Charlotte Dobbert. Sie betrieb im südlichen Inselort Neuendorf das Strandcafé. Dort war Damp Stammgast. Nachdem es dreimal geklingelt hatte, ging Charlotte ans Telefon. „Hallo, kommst du bald?“, säuselte Charlotte ins Telefon. „Ich habe schon fast alle Gäste abgefüttert.“
„Sieht schlecht aus“, bemerkte Rieder.
„Warum?“ fragte Charlotte, und Rieder spürte körperlich ihre Enttäuschung.
„Kann ich dir jetzt leider nicht erklären. Sag mal, sitzt Damp bei dir?“
„Ph, komm doch her und schau selbst nach ...“, antwortete sie zickig.
„Charlotte! Es ist wichtig!“
„Okay. Er sitzt genau vor mir und ertränkt gerade seinen Frust im zweiten Bier.“
„Na prima. Kannst du ihn mir mal geben?“
„Was ist denn eigentlich los?“
„Charlotte, ich brauch’ mal Damp. Dringend!“
Er hörte, wie das Telefon über die Theke gereicht wurde. Charlotte Dobbert bemerkte spitz: „Hey, Damp, Mister Wichtig aus Vitte!“
„Sie haben frei“, begrüßte Damp seinen Kollegen.
„Und Sie haben Bereitschaft!“, gab Rieder zurück.
„Wollen Sie mich kontrollieren?“, brauste sein Kollege auf.
„Wieso sollte ich? Wenn Sie mal einen Blick auf Ihr Telefon werfen, werden Sie sehen, dass schon andere nach Ihnen verlangt haben. In Vitte liegt ein Toter am Zeltkino. Ein gewisser Peter Stein. Möselbeck meint, Sie sollten sich das mal ansehen.“
„Was? Wer?“, brüllte Damp ins Telefon. Dann hörte Rieder das Rascheln von Damps Uniform. Irgendetwas fiel zu Boden. Vermutlich das Diensthandy. Der Hörer von Charlottes Telefon flog auf die Theke und aus der Ferne drang ein „Ach, Scheiße!“ an Rieders Ohr.
„Damp! Damp!“, rief Rieder ins Telefon, aber es antwortete ihm Charlotte. „Der ist mit seinem Handy beschäftigt.“
„Sag ihm, er soll nach Vitte fahren. Wir treffen uns am Zeltkino.“ Da war aber schon wieder Damp am Telefon. „Ich hab’ das völlig überhört“, stotterte Damp, „und es gibt keinen Zweifel? Es handelt sich um Peter Stein?“
Rieder bestätigte es. „So sagt es die Kinobesitzerin, Frau Ekkehard. Sie steht hier bei mir im Garten.“
„Das gibt Ärger!“
„Warum? Wer ist denn dieser Peter Stein?“
„Na, der Bauunternehmer!“
„Und?“
„Er ist der beste Freund des Bürgermeisters.“
Da klingelten auch bei Rieder die Alarmglocken.