Kitabı oku: «Eden», sayfa 2

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»Natürlich erkenne ich die guten Absichten hinter dem Internationalen Abkommen zu den unberührten Zonen an und ich habe das ganze Unternehmen auch öffentlich immer wieder unterstützt. Doch diese Unberührtheit kann nicht wiederhergestellt werden. Wie erfolgreich diese Orte auch sein mögen – und das wird nur die Zeit zeigen können –, sie sind immer noch ein Teil dieser Welt, die von der Menschheit gründlich zerstört wurde.«

Anthony Keyse, Green World Alliance

Jenn liebte die kameradschaftliche Spannung zwischen diesen sieben Personen, die sich schon viele Male zuvor zusammen vorbereitet hatten. Das Geräusch der Ausrüstung, die überprüft und gepackt wurde, der Geruch von Sonnenmilch und Mitteln gegen Wundreiben, das süße Aroma eines nahrhaften Frühstücks, das auf dem Campingkocher brodelte, das Glucksen von Wasser in Flaschen und Rucksacktrinkblasen und das nervöse und aufgeregte Geplapper, leiser als gewöhnlich, als würde ein zu lautes Sprechen das angenehme Gleichgewicht stören, das sie gemeinsam gefunden hatten.

Sie liebte auch das Gefühl von Gefahr. Das taten sie alle. Darum waren sie hier und hatten ihr Zuhause, ihre Familien und Arbeitsstellen zurückgelassen. Sie waren sich einig, dass dies die vielleicht gefährlichste Sache war, die sie jemals gewagt hatten.

Um sie herum murmelten Waldgeräusche – das Rascheln der Blätter in der Brise, Vogelzwitschern, das leise Knacken von Zweigen, während kleine Tiere ungesehen ihren morgendlichen Routinen nachgingen. Es war eine erfrischende Abwechslung zum Rattern und Dröhnen des Flugzeugs und Jenn fühlte sich gestärkt und lebendig.

»Dreißig Minuten«, sagte die Frau. Sie nannte sich Pocahontas, oder kurz Poke. Jenny hatte gelacht, als sie sich vorgestellt hatte, doch Pokes strenger Blick hatte das Lächeln ersterben lassen. In diesem Blick lagen Erfahrung und Wissen und das musste Jenn respektieren. Ganz egal wie sie sich nannte.

»Sie sehen nicht aus wie eine Pocahontas«, bemerkte Cove, während er seinen eingerollten Schlafsack an seinem Rucksack befestigte.

»Und wie zum Teufel sehe ich aus?«, fragte Poke. Sie saß auf einem umgestürzten Baum, rauchte eine stinkende Zigarette und sah ihnen bei der Vorbereitung zu. Ihr Vater hatte gesagt, Poke sei die beste Führerin, die er je getroffen hatte.

Jenn fand sie faszinierend. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal jemanden rauchen gesehen hatte. Es freute sie zu sehen, dass die alte Frau lächelte, und ihre dunkle, faltige Haut, schlanke Gestalt und funktionelle Kleidung deuteten darauf hin, dass sie sich hier draußen absolut zu Hause fühlte. Der Goldschmuck an ihren Fingern und Ohren verriet, dass sie sich immer noch für die schönen Dinge im Leben interessierte. Ihr Haar war schneeweiß und eng an die Kopfhaut geflochten. Sie hatte Narben. Jenn fragte sich, was für Geschichten hinter jeder einzelnen steckten.

»Vielleicht eine Mildred«, sagte Cove.

»Oder eine Whitney«, schlug Jenn vor.

Poke lachte laut auf, warf den Kopf in den Nacken und hustete Zigarettenrauch in den Himmel. »Ich schätze, nachdem Eden euch verschlungen hat, werde ich mir wohl einen anderen Namen zulegen.« Sie stand auf, ging in einem weiten Kreis um sie herum und sah ihnen bei der Arbeit zu.

Nur eine halbe Stunde nachdem der Pilot seine Maschine gelandet und sie auf der alten Straße abgesetzt hatte, war er überraschend wieder eingestiegen und hatte sich davongemacht. Jenn hätte gedacht, dass er vorher zumindest das Flugzeug überprüfen würde, doch er schien es ziemlich eilig zu haben. Poke, die aus den Bäumen aufgetaucht war, sobald sie ausgestiegen waren, hatte gesagt, dass seine Maschine beschlagnahmt werden würde, wenn man ihn erwischte, und sie sei seine einzige Einkommensquelle. Denn er schmuggelte nicht nur Menschen.

Sie hatte sie durch den Wald zu einer Lichtung geführt, wo sie alles für ihre Ankunft vorbereitet hatte. Der Eintopf über dem Lagerfeuer ließ Jenn das Wasser im Mund zusammenlaufen und sie freute sich schon darauf, dass er die morgendliche Kälte vertreiben würde. Sie hatte sich entschlossen, nicht nachzufragen, was für ein Fleisch darin war.

»Fünfundzwanzig Minuten«, sagte Poke.

»Es ist eine sechsstündige Wanderung zur Grenze«, entgegnete Cove.

»Und?« Poke blieb bei Cove stehen und versuchte, ihren Zigarettenstummel anzuzünden. Sie schielte auf die Flamme, die die Spitze küsste.

»Warum der Countdown?«

Poke musterte ihn von oben bis unten, grinste dann nur und umkreiste ohne Antwort weiter die Gruppe. Cove warf Jenn einen fragenden Blick zu. Er war derjenige unter ihnen, der am meisten auf Ausrüstung vertraute. Auf seiner Kleidung, dem Rucksack und seinen restlichen Sachen prangten teure Labels und er hatte für diese Expedition wahrscheinlich mehr ausgegeben als der Rest von ihnen zusammen. Sie wollte Poke sagen, wie erfahren Cove war, doch es war nicht ihre Aufgabe, ihn zu verteidigen. Normalerweise fiel es ihm nicht schwer, sein eigenes Lob zu singen.

»Poke hat einen straffen Zeitplan für uns«, sagte Jenns Vater. »Hört auf sie. Sie weiß, was sie tut.«

Jenn bemerkte, dass Poke stehen geblieben war und sie anstarrte.

»Was?«, fragte Jenn.

»Nichts.« Poke trat ihre Kippe aus und zog eine weitere Zigarette aus ihrer Hemdtasche. »Hab mich nur gefragt, wo der Rest eurer Ausrüstung ist.«

»Lucy heult bereits ihren kostbaren Gadgets hinterher«, grinste Gee. Lucy warf ihm von dort, wo sie neben dem kleinen Stapel Ausrüstung stand, den sie zurückließen, einen wütenden Blick zu. Eden war ein unbefleckter Ort, die älteste und wildeste der dreizehn unberührten Zonen der Welt, und Dylan hatte darauf bestanden, dass sie ihn mit angemessenem Respekt behandelten. Diese Expedition war so weit auf das Wesentliche reduziert, wie sie es noch nie gewagt hatten – keine Tablets oder Netzimplantate, kein GPS, keine Satellitentelefone, überhaupt keine elektronischen Geräte. Es hieß sie gegen Eden und darin lag eine Reinheit, die Jenn überaus verführerisch fand.

»Du weißt schon«, sagte Poke. »Wissenschaftszeug. Messinstrumente und so ’n Scheiß.«

»So was haben wir nicht«, erklärte Selina.

»Waagen und Reagenzgläser. Probenbeutel. Dieser ganze Mist.«

»Wir haben alles, was wir hier brauchen.« Gee war wie immer als Erster fertig. »Ausrüstung zum Wandern, Rennen und Klettern. Trockennahrung. Wasserreiniger. Sonnenschutzmittel und Erste-Hilfe-Kasten. Ein paar kleine Zelte, Messer, Regenschutz, falls der Wetterbericht falsch ist, und Wechselkleidung. Aber nicht viel, weil wir es so lieben, streng zu riechen.«

»Und ihr wollt euch Essen suchen?«

»Ja, Früchte und Nüsse, aber wir werden nichts töten, um es zu essen, außer wir müssen. Wir laufen auf einem Kaloriendefizit und wenn man zwölftausend pro Tag verbrennt, kann man einfach nicht genug Proviant mitschleppen.« Gee nickte zu Cove. »Und einige von uns können es sich auch leisten, etwas Speck zu verlieren.«

Cove zeigte ihm den Mittelfinger und Gee lachte. Der Kanadier, ein dünner, kleiner Mann, war wahrscheinlich die entschlossenste Person, die Jenn kannte. In den sechs Jahren, die er mit ihrem Vater und ihr reiste, hatte sie nie erlebt, dass er sich vor einer Herausforderung gedrückt oder aufgegeben hatte. Sie hatte gesehen, wie er als Einziger von ihnen frei eine Felswand hinaufgeklettert war und wie er sich auf einem Boot in Frankreich drei rassistischen Mistkerlen entgegengestellt hatte. Sie waren weggegangen und er weggehumpelt, doch in Jenns Augen hatte er dennoch gewonnen. Er war zwar nur zwei Jahre jünger als ihr Vater, dennoch kam ihr Gee wie eine Art Bruder vor. Seine Entschlossenheit oder positive Einstellung hatte jedoch nichts mit der Tatsache zu tun, dass er nur eine Hand hatte. Er hatte nie angedeutet, dass er es überhaupt als Behinderung empfand. Tatsächlich schien er es sogar zu mögen. In einem hohlen Finger hatte er zwei Joints versteckt.

»Wie zum Teufel siehst du denn aus?«, fragte Poke.

»Wie dein Stecher«, antwortete Gee. Er trat einen Schritt näher.

»Ich versohl dir den Arsch«, schoss Poke zurück.

Gee zuckte grinsend mit den Schultern. Keiner von ihnen zweifelte an ihren Worten. Sie zündete sich ihre Selbstgedrehte an und inhalierte den Rauch.

»Ich habe Ihnen doch erklärt, warum wir hier sind«, sagte Dylan.

»Ich hab nicht geglaubt, dass jemand so dämlich ist.« Wieder sah sie zu Jenn und runzelte die Stirn.

»Tja, wir schon«, erwiderte Dylan.

»Und gegen wen tretet ihr an?«, fragte Poke.

»Noch niemanden. Wir wollen die Ersten sein. Sie kennen diesen Ort, Sie wissen, warum.«

Poke blinzelte ihn nur durch eine Rauchwolke hinweg an.

»Statistisch und historisch gesehen ist Eden die gefährlichste Zone der Welt«, erklärte Dylan. »Sie hat im Laufe der Jahre schon viele Menschen verschluckt.«

»Ja.«

Als Dylan weitersprach, sah er sich um und schien erfreut, jedermanns Aufmerksamkeit zu haben. Sie hatten diese Geschichte alle schon mal gehört, aber noch nicht von jemandem wie Poke. Jemandem, der die Dinge, die er sagte, bestätigen konnte.

»Andere Abenteurer haben es versucht. Einige verschwanden. Andere sind aus Eden geflohen und haben versucht, sich wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Es ist, als hätte ihnen dieser Ort ihre Abenteuerlust genommen. Mit der Zeit hat er den Ruf als einer der atemberaubendsten Orte der Erde bekommen, absolut menschenfeindlich.«

Die Brise ließ nach, selbst die Blätter und Vögel verstummten und lauschten.

»Solange mir nichts anderes geraubt wird«, scherzte Gee, um die Stille zu vertreiben.

»Ihr wollt also die erste Gruppe Arschlöcher sein, die Eden durchquert.« Poke schüttelte den Kopf.

»Rennend, kletternd, schwimmend, gehend, selbst kriechend, wenn wir müssen«, bestätigte Cove. »Man nennt es ein Adventure Race.«

»Abenteuer.« Sie sprach das Wort aus, als würde es einen seltsamen Geschmack in ihrem Mund hinterlassen.

»Wollen Sie uns begleiten?«, fragte Gee.

»Ich will leben«, erwiderte Poke. Zum ersten Mal klang sie ernst.

»Wir leben doch«, sagte Lucy. »Das ist das volle Leben.«

»Hast du einen Job, Kleine?«

»Ich arbeite an meiner Doktorarbeit.«

»Familie?«

»Meine Eltern leben in London.«

»Hm.« Schweigend drehte Poke eine weitere Runde um sie und rauchte dabei, während die Gruppe ihre Vorbereitungen beendete. Doch immer wieder sah die alte Frau zu Jenn.

»Was?«, fragte Jenn erneut. So langsam verlor sie die Geduld. Poke mochte die beste Führerin sein, die ihr Vater kannte, sie mochte die Expeditionsgruppe durch die Grenzkontrollen und nach Eden bringen, aber sie war auch eine ziemliche Nervensäge.

»Hab nur gedacht, wie schade es ist«, sagte Poke.

»Was ist schade?«, fragte Selina.

»Euch alle hier so zu sehen, fit und gesund, und dann soll ich euch an einen Ort bringen, der euch verschlingt und wieder ausspuckt. Oder vielleicht auch nicht ausspuckt. Ihr seid echt total irre.«

»Und warum bringen Sie uns dann hin?«, erkundigte sich Jenn.

Poke nickte in Richtung ihres Vaters. »Gute Bezahlung.« Damit trat sie ihre Zigarette aus, warf einen Blick auf ihre Uhr und nahm den Deckel vom Eintopf. »Und hier ist die gute Nachricht«, sagte sie über ihre Schulter. »Das Frühstück ist fünfzehn Minuten früher fertig. Das ist ein Puffer für alles Unvorhergesehene.«

3

Hab aus zuverlässiger Quelle erfahren, dass die veröffentlichten Todeszahlen derer, die versucht haben, die Husky-Plain-Zone zu betreten, nicht stimmen. Angeblich sind es 7. Ich hab gehört, es sind über 150. Umgebracht von den Zeds. Das sind mordende Söldner. Glaubt kein Wort von diesem Mist über die Zonenschutztruppe.

@PottyBonkers

Es gab nichts Unvorhergesehenes. Jenns Vater hatte recht. Poke war die beste Führerin, mit der sie jemals zusammengearbeitet hatten. Sie hatte ihre Route genau festgelegt und überraschte Jenn mit ihrer erstaunlichen Fitness. Sie mochte Mitte sechzig, vielleicht sogar siebzig sein, doch die nächsten sechs Stunden führte Poke sie bei ansteigenden Temperaturen und durch dichten Wald zu dem Ort, an dem sie ihrer Meinung nach die besten Chancen hatten, nach Eden zu gelangen.

Zum Teil wussten sie, was sie erwartete. Die Sicherheitsmaßnahmen um jede unberührte Zone waren streng, doch die entsprechenden Gebiete waren so groß, dass es für jene, die sich auskannten, Schlupflöcher gab. Poke kannte sich sehr gut aus. Sie trug eine moderne GPS-Smartwatch mit allen möglichen Upgrades am Arm und ein Netzimplantat hinterm Ohr und sie hatte es detailliert für ihre Route und ihre Schrittgeschwindigkeit programmiert. Jedes Summen war das Signal für irgendeine Aktion – ein schneller Marsch, in Deckung gehen und abwarten, bis eine Drohne über ihre Köpfe hinweggeflogen war, scharf nach links und durch einen Kanal unter einer Straße hindurch, nach rechts und einen kleinen, aber steilen und dicht bewachsenen Hang hinauf. Poke hatte jede Bewegung vorausgeplant und sich eingeprägt. Sie führte ein strenges Regiment, verlangsamte sie ein paarmal und trieb sie einmal an, nachdem Aaron angehalten hatte, um Wasser zu lassen.

Die Landschaft war wunderschön, mit bewaldeten Hängen und Tälern, die sich hier und dort zu mit Blumen übersäten Lichtungen öffneten, und einem Geflecht aus Rinnsalen und Bächen, die in einem weit entfernten Fluss zusammenströmten. Doch sie waren nie weit von sichtbaren menschlichen Einflüssen entfernt. Eine Zeit lang folgten sie einer alten, verwahrlosten Straße, die nur noch von den Fahrzeugen der Zed-Sicherheitspatrouillen benutzt wurde. Einst hatte sie in den Bereich geführt, der zu Eden geworden war, und wenn sie ihr weiter gefolgt wären, hätten sie schließlich die Grenze erreicht. Unkraut spross durch Löcher im Asphalt, die Kante war durch Wurzeln aufgerissen und das Laub von vielen Jahren hatte sich in eine Erdschicht verwandelt, in der Gräser, kleine Büsche und sogar Bäume gediehen. Jenn freute sich schon darauf, zu sehen, wie viel stärker sich die Straße verändert hatte, sobald sie drin waren. Ihre Aufregung war körperlich spürbar, wie eine Biene, die in ihrem Kopf summte.

Sie kamen an einem kleinen Städtchen vorbei, in dem nun nur noch Sicherheitspersonal lebte. Beim Vorbeigehen auf einem bewaldeten Hang hielten sie sich unterhalb des oberen Kamms, um keine verräterischen Silhouetten zu bieten. Sobald sie weit genug entfernt waren, um nicht mehr entdeckt zu werden, brachte Poke die Gruppe zum Stehen und reichte Jenn ein Fernglas, um sich den Ort genauer anzusehen. Einige Teile der Stadt waren verlassen und verwahrlost. Die wenigen alten Autos, die die Straßen säumten, hatten platte Reifen, Gärten hatten ihre Eingrenzungen überwunden und waren wild gewuchert und die Gebäude sahen heruntergekommen aus, mit eingeworfenen Fenstern, abblätternder Farbe und schief herunterhängenden Regenrinnen. Anhand einer Gruppe von Fahrzeugen in Tarnfarben konnte Jenn sehen, wo ein kleiner Bereich noch von Edens Grenzpersonal bewohnt wurde. Einige Häuser waren mit größeren Stahlcontainern in den Vorgärten und zwischen den Gebäuden befestigt worden Jenn nahm an, dass es sich bei den Stahlgebäuden um Waffenlager handelte.

»Haben Sie da unten jemanden?«, fragte Jenn.

»Scheiße, nein!«, erwiderte Poke. »Einem Zed würde ich nie vertrauen. Das ist ein Haufen blutrünstiger Söldner.«

»Und wie kommen wir dann rein?« Jenn wusste, dass es umfangreiche elektronische Sicherheitsmaßnahmen geben würde, sobald sie die wahre Grenze erreichten, genau wie physische, natürliche wie künstlich geschaffene, die fast unmöglich zu überwinden waren. In die anderen Zonen kamen sie normalerweise, indem ihr Führer eine Abmachung mit jemandem getroffen hatte, entweder einem Zed oder einem der vielen Wartungsleute, die sich um die riesigen und komplexen Grenzanlagen der Zonen kümmerten.

»Mach dir darüber mal keine Sorgen«, sagte Poke.

»Ich mache mir aber Sorgen.«

»Überlass das mal mir. Dafür bezahlt ihr mich ja.«

Jenn warf einen letzten Blick durch das Fernglas, bevor sie es zurückgab. Die alte Frau sah sie wieder irritiert an, etwas schien sie zu beschäftigen.

»Was zum Teufel …?«, begann Jenn, da summte Pokes Uhr. Sie warf einen Blick darauf, stand auf und winkte sie weiter.

»Siebzig Minuten, dann machen wir zehn Minuten Pause«, sagte sie. »Danach werden die Dinge kompliziert.«

»Was ist mit ihr?«, fragte Aaron, als er Jenn erreichte.

»Keine Ahnung.«

»Es ist, als ob sie dich erkennen würde.« Er legte einen Arm um ihren Hals, zog sie an sich und gab ihr einen Kuss auf die Wange, bevor sie weitergingen. Er war stark, zuverlässig und ihr eine gute Stütze beim Marathon des Sables gewesen, einem mehrtägigen Ultramarathon durch die Sahara. Am Ende des Rennens war sie auch seine Stütze geworden. Sie hatten sich am ersten Abend getroffen, als sie sich ein Zelt mit anderen Läufern geteilt und von anderen Rennen und Abenteuern erzählt hatten. Einer der Männer hatte erwähnt, wie er mal die sibirische unberührte Zone durchquert hatte, bekannt als Zona Smerti, und seine Geschichte hatte die meisten von ihnen mit offenem Mund staunen lassen. Doch nicht Aaron. So plumpe Prahlereien beeindruckten ihn nicht. Was ihn beeindruckte, war stille Entschlossenheit, die Fähigkeit, Schmerzen zu ertragen, und der Triumph des Geistes über den Körper.

Jenn würde den letzten Tag dieses harten Rennens niemals vergessen. Sie lief den finalen Abschnitt des Marathons mit vor Blasen vollkommen zerfetzten Füßen, drei fehlenden Fußnägeln, durch Sonnenbrand aufgeplatzter Haut um die Lippen, Augen und Ohren und den Folgen eines am frühen Morgen plötzlich aufgetretenen Sandsturms. Hinter der Ziellinie war sie zusammengebrochen und hatte sich geweigert, Hilfe anzunehmen, bis sie Aaron eine Stunde nach ihr ins Ziel rennen sah.

»Meine Füße«, keuchte er, als er gegen sie rannte, weil sich sein Gehirn weiter im Rennmodus befand – immer weiter vorwärts. Später hatten sie festgestellt, dass er sich in beiden Füßen Stressfrakturen zugezogen hatte.

»Ich will sie nicht sehen«, sagte sie.

»Ich will sie abschneiden. Irgendjemand soll mir die Füße abschneiden.« Er umarmte sie und die Nähe fühlte sich so natürlich an. Die gegenseitige Zuneigung zwischen ihnen war so offensichtlich wie die Hitze und der Schweiß und der Gestank ihrer ungewaschenen Körper. Beide weinten. Ihre Tränen vermischten sich wie Blut und verbanden beide auf ewig miteinander. In Jenns Erinnerung hatte dieser Moment etwas Magisches an sich. Sie hatte nie an Liebe auf den ersten Blick geglaubt, doch das hier kam dem schon sehr nah.

Genau das ist es, dachte Jenn, während Aaron und die anderen Poke den Hang entlang folgten. Es ist, als ob sie mich erkennen würde. Sie war ein Name, der Poke auf der Zunge lag, eine verschüttete Erinnerung, die langsam wieder zur Oberfläche aufstieg.

Nur ihr Vater hatte Poke schon einmal getroffen. Poke selbst hatte erwähnt, dass sie sich noch nie weit von diesem Ort entfernt hatte. Darum kannte sie ihn so gut. Der einzige Grund, warum Poke sie wiedererkennen könnte, war der, dass Jenn sie an jemand anders erinnerte.

»Eden«, sagte Poke.

Zuerst sah Jenn kaum einen Unterschied zu der Aussicht im Tal, durch das sie die letzten Stunden gewandert waren. Weitere Bäume, weitere Berge, weitere Täler. Poke hatte sie nach einem exakten Zeitplan hergebracht und selbst jetzt sah sie immer wieder auf ihre Uhr.

»Fünfundzwanzig Minuten«, erklärte ihre Führerin. »Ab hier wird es knifflig.«

»Aber Sie haben unsere Route doch durchgeplant«, sagte Dylan. Ihr Vater war heute sehr still gewesen, zweifellos weil er über die Schwierigkeit der bevorstehenden Aufgabe nachgedacht hatte. Sie waren alle ziemlich still gewesen, selbst Gee. Auch wenn sie sich gemeinsam auf einer Expedition befanden, bereitete sich doch jeder von ihnen mental auf seine eigene Art vor.

»Das habe ich«, antwortete Poke.

»Aber es ist dennoch knifflig?«, fragte Lucy.

Poke seufzte schwer, sah erneut auf ihre Uhr und lehnte sich gegen einen Baum. Sie massierte ihre Knie. Es war das erste Mal, dass sie sich eine Spur von Anstrengung anmerken ließ.

»Natürlich ist es das«, sagte sie. »Schaut doch nur. Ihr alle. Schaut genau hin.«

»Wonach suchen wir denn?«, erkundigte sich Cove, erhielt jedoch keine Antwort. Stattdessen taten sie, was ihre Führerin ihnen gesagt hatte.

Jenn und Aaron standen nebeneinander. Ihre Arme berührten sich und beide keuchten vor Anstrengung. Sie waren daran gewöhnt. Sie genossen es. Jenn konnte ihn riechen, eine vertraute Mischung aus Wärme und Schweiß.

»Es sieht so … tief aus«, sagte er grinsend und Jenn stieß ihn an. Doch er hatte recht. Auf der anderen Seite des Tals, hinter einem schmalen Fluss erstreckte sich Eden bis in die Ferne über geschwungene Hügel mit dunklen Schluchten, in denen sich alles verbergen konnte. Es war unbestreitbar tief.

Tief war das Wort, mit dem sie ihren Albtraum beschrieb. Es war ungenau, doch das passendste Wort, das ihr einfiel. Immer wenn sie krank oder erschöpft war, suchte diese Tiefe ihren Schlaf heim und ließ sie manchmal schweißgebadet aufwachen. Es war eine Ahnung unbekannter, unendlicher Weite. Sie hatte versucht, Aaron diese Albträume zu erklären, wenn sie schreiend neben ihm aufgewacht war und er sie gefragt hatte, was sie hatte. Mit einem nächtlichen Kaffee in der Hand hatte sie von den Ängsten erzählt, die ihren Schlaf heimsuchten. Wie alle schlimmen Albträume ließen auch diese sich nicht leicht erklären. Worte wurden ihnen nicht gerecht. »Es ist ein Gefühl endloser, gewaltiger Tiefe«, hatte sie gesagt. »Als ob mich das Universum verschluckt und vergessen hätte.«

Sie erinnerte sich, wie ihre Mutter sie in den Arm genommen hatte, wenn sie wieder einmal aus einer Kindheitsversion dieses Albtraums aufgewacht war. Sie hatte Jenn nie fragen müssen, was los war, und Jenn hatte es nie zu erklären versucht. Die Arme ihrer Mutter hatten gereicht. Ihre Stärke, ihr Geruch, der Trost, den sie boten, während sie sagte: »Bei mir bist du sicher.«

Als Jenn und die anderen auf die Wildnis blickten, zog ein Hauch ihres wiederkehrenden Albtraums wie ein Flüstern über die Landschaft. Ihr lief ein Schauer über den Rücken und sie schüttelte ihn ab. Der Ausblick war wunderschön, Ehrfurcht gebietend, und sie war froh, dass die Nachmittagssonne in ihrem Gesicht und die Nähe ihrer Freunde die Angst vertrieben. Sie hatte schon einige unberührte Zonen betreten, doch sie würde sich nie an das Gefühl gewöhnen, davorzustehen und darauf zu warten, hineingehen zu können. Diese Orte wirkten wie dieser Welt entrückt, so wild wie das Land bevor die Affen lernten, auf ihren Hinterbeinen zu gehen.

Und Eden war etwas Besonderes.

Wieder spürte sie diesen Schauer. Jemand beobachtete sie dabei, wie sie Eden beobachtete, und als sie dieses Mal zu Poke sah, wandte diese sich nicht ab.

Jenn legte den Kopf leicht schräg. »Gibt es hier in der Nähe Wasser?«

Poke verstand ihre Absicht. »Hier drüben.«

Jenn streckte die Hand aus und nahm die Trinkflaschen von Cove und Selina entgehen, dann entfernten sich Poke und sie von den anderen.

»Was sehen Sie?«, fragte Jenn leise, sobald sie außer Hörweite waren.

»Eine Frau, die genauso aussah wie du«, antwortete Poke. »Die gleichen Augen. Der gleiche Mund.«

Jenns Herz machte einen Sprung. »Was für eine Frau?«

Sie knieten sich an einen Bach und füllten die Flaschen.

»Ist zwei Monate her«, sagte Poke. Ohne zu blinzeln, verscheuchte sie eine Fliege von ihrer Augenbraue. »Sie kam mit einem Team, ein bisschen wie eures, aber mit mehr Ausrüstung. Nicht so organisiert. Sie hatten ein paar Waffen dabei und anderen Scheiß. Haben mich für etwas Beratung und ein paar Karten bezahlt. Für ein paar Stunden meiner Zeit. Dann betraten sie Eden.«

»Und kamen sie auch wieder raus?«, fragte Jenn.

Poke starrte sie mit eiskaltem Blick an. Sie witterte Betrug und wollte damit nichts zu tun haben. »Du verschweigst deinem Team etwas«, sagte sie. »Das ist nicht cool. Es ist gefährlich. Da drin müsst ihr euch aufeinander verlassen können.«

»Ich habe meine Gründe«, beharrte Jenn. »Bitte, kamen sie wieder raus?«

»Nicht dass ich wüsste.« Poke legte den Kopf schräg und der Zigarettenrauch ließ sie blinzeln. »Ihr Name war Katherine, aber sie nannte sich …«

»Kat. Meine Mutter.« Jenn warf einen Blick zur Gruppe. Ihr Vater stand mit dem Rücken zu ihnen und starrte auf Eden. Sie spürte das Gewicht unausgesprochener Dinge und wie immer gab es eine Gravitation, die sie zusammenhielt, und eine Barriere, die sie auseinanderzwang.

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