Kitabı oku: «Wer bleibt Millionär?», sayfa 2
»Vielleicht kommen sie ja noch«, antwortete seine auf zweiundzwanzig Zentimeter hohen Absätzen stehende und einen schrillen Minirock tragende Angestellte.
In Facks Ohren klang diese Antwort jedoch wie: »Heute kommt bestimmt keiner mehr.« Wie schauderhaft! Theodor Fack, Sohn von Franz-Ferdinand Fack, einem der weltweit größten Einzelhändler, wollte sich auf Titelblättern wiederfinden. Stattdessen wurde er von unzähligen türkischen, ein Kopftuch tragenden Frauen angestarrt, die darauf warteten, dass er endlich den Billigladen in einem heruntergekommenen Stadtteil mit Plattenbauten jenseits des Neckars eröffnen würde. Immerhin lockten die abermals preisgesenkten Eröffnungsangebote.
Fack war achtunddreißig Jahre alt, wirkte jedoch älter, und ein Lebemann. Er zeigte sich gern mit mehreren Models an der Seite in der Öffentlichkeit. Als ungeschickter Golfspieler betrieb er diesen Sport nur, um sich auf exquisiten Golfplätzen zeigen zu können. Zu seinem Konzern zählte die Ladenkette b&s – eine Abkürzung für billig und super –, die ihm wider Erwarten täglich ausreichend Geld in die offenen Taschen spülte. Das Vermögen von Theodor Fack wurde jüngst auf sage und schreibe 3,6 Milliarden Euro geschätzt. Es war sprunghaft angestiegen, weil Franz-Ferdinand seinen einzigen Sohn als Alleinerben eingesetzt hatte, bevor er kürzlich in einem Flugzeug zum wiederholten Male einen Herzinfarkt erlitt und nach der Landung in Stuttgart trotz aller Mühen des medizinischen Personals nicht wiederbelebt werden konnte. Fack hasste feste Beziehungen, er hasste die Vorstellung, eigene Kinder erziehen zu müssen, und er hasste die Medien.
Energisch winkte er den Privatfotografen zu sich. »Sie werden die Redaktionen in ganz Baden-Württemberg mit Fotos und Berichten überschwemmen!«, befahl er. Und an seine Marketingchefin gewandt stellte er die Frage: »Sehe ich gut aus?«
Sie zupfte ein wenig an ihm herum und nickte dann heftig. »Supergut.«
»Dann los! Bringen wir es hinter uns. Wo ist die Schere?« Eilig schritt Fack zum Portal der neuen b&s-Filiale. Ein Firmenmitarbeiter reichte ihm auf dem Weg dorthin eine überdimensional große Schere. Der Fotograf schoss bereits ein Foto nach dem anderen. Hinter dem blau-roten Absperrband warteten drei eigens für den heutigen Tag georderte, junge, gut aussehende Verkäuferinnen. Sie trugen blau-rote b&s-Verkaufskittel, welche die Blicke auf ihre Dekolletés nicht beeinträchtigten.
»Dann wollen wir mal.« Fack hielt die Schere hoch, jemand brachte ihm ein Mikrofon. Er schob sich zwischen seine Marketingchefin und die drei Verkäuferinnen, sodass zwei von ihnen dicht neben ihm stehen mussten, und verzog das Gesicht zu einer heftig grinsenden Grimasse. Die vier Mädchen eiferten ihm nach und im Publikum machte sich Unruhe breit.
Facks Stimme schallte über den Vorplatz: »Ich eröffne hiermit die dreihundertsiebenundzwanzigste Filiale von b&s – dem besten und billigsten Discounter in ganz Europa!« Anschließend versuchte er, mit der Schere das Band zu teilen, was ihm aber erst beim zweiten Versuch gelang. Die drei Auf-Zeit-Verkäuferinnen ließen die Enden des Bandes, das sie bislang hochgehalten hatten, los und traten zur Seite, während der Milliardär fast von der einkaufswütigen Menge überrannt wurde.
Zwei Personenschützer kämpften sich durch die Menge, ergriffen den etwas hilflos dastehenden Fack an den Schultern und führten ihn mit beruhigenden Worten zu einem Fahrzeug. »Steigen Sie bitte ein, Herr Fack, wir bringen Sie gesund hier raus.«
Eine Sekunde lang feixte der ambitionierte Kaufmann. »Es ist immer wieder erstaunlich, mit welchem Enthusiasmus die Leute ihr Geld zu mir bringen.«
Der Riese vom Personenschutz nickte, ohne zu lächeln, und schob Fack in den schwarzen Mercedes-Van. »Setzen Sie sich.« Er drückte den Milliardär auf die Sitzbank und zog die Schiebetür von innen zu.
Einen Moment lang glaubte Theodor Fack zu träumen. Neben ihm befanden sich zwei weitere Männer vom Personenschutz. Allerdings geknebelt und ohnmächtig. Dann fühlte er einen derben Stich im Hals und wandelte kurz darauf ebenso im Traumland.
»Der Fack hat’s aber eilig wegzukommen«, stellte die Marketingchefin fest, während der Vito rasch den Parkplatz der Filiale verließ. Sie schaute skeptisch drein, denn sie hatte von diesem Tag wohl etwas mehr erwartet.
*
Hannes Gartenleitner hatte vor zwei Jahren in zunehmendem Maße an einer akuten Niereninsuffizienz gelitten. Zwei Monate wartete er vergeblich auf Spendernieren, dann nahm er das Heft des Handelns selbst in die Hand. In Brasilien wurde er fündig. Während das Land bereits im Fußballfieber versank, wurden ihm in einem großen privaten Hospital gleich zwei Nieren erfolgreich transplantiert. Er hielt nichts von den Gerüchten, die besagten, dass man die Nieren jungen Menschen gestohlen hatte, die zuvor in den Favelas in belanglose Unfälle verwickelt worden waren, um sich in die Obhut eines Krankenhauses begeben zu müssen, und die im Laufe der Behandlung dann tragisch und unerkannt verstarben. Für ihn war dies nur das Geschwätz jener Leute, die Brasilien alles Positive abzusprechen versuchten. Außerdem hatte er ein Vermögen dafür geopfert, wenngleich in Gartenleitners Maßstäben nur ein kleines Vermögen.
Der sechsundvierzigjährige Software-Entwickler würde mehr als siebenhundertvierzig Millionen Euro auf seinen Konten vorfinden können. Den größten Teil seiner Einnahmen erbrachte die in seiner Spieleschmiede in Kassel entwickelte Software »Dragonblaze«, ein Online-Rollenspiel, das sich weltweit millionenfach verkauft hatte. Er selbst lebte in beinahe bescheidenen Verhältnissen am Rande der Stadt Kassel. Dort teilte er sich eine Eigentumswohnung mit einer Fläche von vierhundertzehn Quadratmetern mit seiner Frau und der bereits volljährigen Tochter.
Es war so eine Situation, wie sie sich in den letzten Monaten ständig zu wiederholen drohte. Die dreiundvierzigjährige Marion Braun-Gartenleitner, Chefin der Werbeabteilung einer recht bekannten Zeitschrift und zudem nicht selten als Frauenrechtlerin in Erscheinung tretend, verfiel in einen nicht enden wollenden Streit mit ihrer Tochter. Emilia, eine lustlose BWL-Studentin, lebte nur zu gern in den Tag hinein und bat meistens freitags – in Abwesenheit der Mutter – den Vater um Taschengeld-Nachschub, um spätestens am Freitagabend und möglichst während des gesamten Wochenendes das Leben mit Freundinnen und Freunden zu genießen.
Gartenleitner zog sich in sein Arbeitszimmer zurück, um dem Kreischen der Frauen zu entfliehen. Er schaltete eine über seinen Computer gesteuerte Soundanlage ein. Bei Dire Straits gelang es ihm kurzzeitig, sich zu beruhigen. Das Brummen des Telefons holte den gestressten Mann in die Gegenwart zurück. Nach einigen Tastengriffen sah er das Kamerabild seines Stellvertreters Knut Simon auf dem Monitor, bereit zum Skypen.
»Was ist los, Knut?«
Simon kratzte sich im Vollbart, ein sicheres Zeichen, dass er außergewöhnlich stark erregt war. »Ein Typ von SV hat hier angerufen. Er will dich sprechen. Dich ganz allein.«
Ein Lächeln huschte über Gartenleitners Gesicht. »Hat die Science Vision tatsächlich angebissen?« Science Vision – ein börsennotiertes, weltweites Unternehmen, das in erster Linie Online-Games multilingual und per Lizenz verwaltete! Dollarzeichen glänzten in Gartenleitners graublauen Pupillen. »Hat der Typ schon was angedeutet?«
»Kein Wort. Du sollst pünktlich fünfzehn Uhr vor dem Schlosscafé Wilhelmshöhe stehen. Alles klang ziemlich geheimnisvoll.«
»So sind die nun mal.« Ein unterdrückter Jauchzer entfuhr Gartenleitner. Er warf einen Blick auf die Uhr seines Computers. »Das ist in einer Stunde. Weißt du, was das heißt, Knut?«
»Viel Knete, hoffe ich. Wenn wir denen eine Lizenz für ›Dragonblaze‹ verkaufen …«
»… dann können wir uns getrost zur Ruhe setzen«, beendete der Software-Entwickler den Satz seines Mitarbeiters. »Endgültig!« Er war bereits aufgestanden, nahm ein Jackett von der Stuhllehne und schlüpfte hinein. »Okay, ich muss los. Ich melde mich bei dir.«
»Aber nur mit positiven Nachrichten, Hannes.«
Der Rechner fuhr herunter, während Gartenleitner den Inhalt seiner Laptoptasche prüfte, dann diese über die linke Schulter hängte und das Arbeitszimmer verließ.
Das Kreischen im Nebenzimmer war noch in vollem Gange, hatte sich gar gesteigert. Auf der Innentreppe blieb der Programmierer stehen, um kurz zu überlegen, ob er einen Abschiedsgruß brüllen sollte, ließ es dann jedoch bleiben und verließ das Haus.
Achtundvierzig Minuten später fuhr er auf den fast leeren Parkplatz vor dem Schlosscafé, schnappte sich die Tasche und lief die wenigen Meter zurück zur Landstraße.
›Warum so geheimnisvoll?‹, hätte er denken müssen. Doch soweit dachte er nicht. Er fühlte sich in die eigene Kindheit zurückversetzt, in jene Zeit, als er von einem Fuß auf den anderen tretend, erwartungsvoll und mit weichen Knien vor der Weihnachtsstube stand. ›Heute ist endlich Bescherung‹, dachte er stattdessen. Mühevolle Wochen des Anbiederns und Einschmeichelns lagen hinter ihm. Nun endlich sollten die Früchte seiner Arbeit geerntet werden. Branchenüblich waren zweihundertfünfzig Millionen Euro Gewinn im Rahmen des Möglichen. Freilich, mehr als die Hälfte würde sich der Staat holen, doch übrig blieb genug.
Gartenleitner schob die Sonnenbrille hoch und blickte die Straße hinunter. Erstaunlicherweise war sie wenig befahren. Ruhe herrschte. Ein Motorengeräusch näherte sich und mit ihm ein schwarzer Van. Das mussten sie sein! Der Puls des Programmierers erhöhte sich.
Das Fahrzeug hielt unmittelbar neben ihm, die Seitentür öffnete sich. »Wollen Sie viel Geld verdienen?« Die fragende Stimme wartete nicht auf eine Antwort. »Dann steigen Sie ein, Herr Gartenleitner.«
*
»Mit sechsundsechzig Jahren, da fängt das Leben an« … Das schien das Lebensmotto von Frau Dr. Carola Blauschner zu sein. Sie lebte seit wenigen Jahren in einem eingemeindeten Vorort der sächsischen Hauptstadt Dresden, war seit drei Jahren verwitwet und empfing fast wöchentlich überwiegend familiären Besuch in ihrer Villa, die – obwohl modern saniert – einen barocken Eindruck erweckte. Nahezu immer war eine der Familien ihrer vier Kinder zugegen. Die Nachkommen hatten ihr insgesamt elf Enkel geschenkt, von denen einige bereits ans Erwachsenenalter anklopften. Die Blauschner genoss die Gegenwart junger Menschen. Und einer der Gründe, warum sie dies tat, bestand darin, dass ihr verblichener Gatte vor vielen Jahren mit ihr gemeinsam einen Altenpflegering gegründet hatte. Als Dr. Blauschner noch berufstätig war, kam sie unablässig mit dem Elend des Altwerdens, das bekanntlich nur einen kleinen Schritt vom Tod entfernt ist, in Berührung. Nun erst, da sie sich als grauhaarige alte Dame im Spiegel sah, begriff die studierte Allgemeinmedizinerin, dass auch ihr das unvermeidliche Schicksal drohte, dem unzählige ihrer Berufsgenossen bereits anheimgefallen waren. Deren Nachkommen hatten schlussendlich für die Wertsteigerung des deutschlandweiten Altenpflegerings gesorgt, sodass selbst der übereilte Verkauf des Geschäftes dafür Sorge trug, dass sich das Vermögen der Ärztin zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch mit fast einundneunzig Millionen Euro beziffern ließ. Sie widmete sich der Kunst, schrieb mehrere literarisch wenig anspruchsvolle Bücher und versuchte, in der Königsstadt und Elbmetropole anerkannt zu werden. Klappte das nicht wie geplant, dann erkaufte sie sich die gewünschte Beachtung.
Dr. Carola Blauschner prüfte zum wiederholten Male den Sitz des Kleides, das als Einzelstück von einem teuren Schneider in ihrer Geburtsstadt Bremen gefertigt worden war, dann betrat sie die Galerie in der Dresdener Neustadt, saugte die Atmosphäre der Ausstellung in sich auf und begann zu lächeln.
Der uralte Kunstprofessor Morgenstern kam mit weit geöffneten Armen auf die Gönnerin zu. Ein Charmeur, der seinesgleichen suchte! »Nu, meine Liebste, Sie sehen so jung und frech aus. Ich bin entzückt.«
»Das sollten Sie auch sein, diese Galerie hat mich ein kleines Vermögen gekostet.« Die Blauschner nahm das Sektglas entgegen, welches der Professor von einem Tablett entwendet hatte, und nippte daran. »Und, wie läuft es?«
»Nu, wunderbar.« Eine andere Antwort war nicht zu erwarten gewesen. »Wenn man bedenkt, dass die meisten erst am Abend hereinschneien werden.« Morgenstern stellte sich auf Zehenspitzen, sodass sich seine Lippen dem linken Ohr der Sponsorin nähern konnten. »Da ist ein Herr, der seit einer halben Stunde eines Ihrer Bilder betrachtet. Vielleicht sollten Sie …«
»Denken Sie an meine Beachtung oder an Ihr Honorar, Herr Professor?« Verschmitzt lächelte die Blauschner.
»Nu – ganz ehrlich gesagt – natürlich an beides, meine Liebste.«
»Sie sind mir vielleicht einer …« Sie lief leichtfüßig, als würde sie schweben, durch die kleinen Räume der Galerie und näherte sich den eigenen fünf Werken, die einen der Räume füllten.
Tatsächlich! Da stand ein schätzungsweise vierzigjähriger Herr, bekleidet mit einem schwarzen Anzug, einem rosafarbenen Seidenhemd und einem reinweißen, korrekt gebändigten Binder. Er betrachtete durch die Gläser einer modernen Brille hindurch das Bild »Elbtalwärts«, das achtzig mal fünfundsechzig Zentimeter maß und, umfasst von einem schneeweißen Passepartout, in einem massiven Holzbilderrahmen mit feinem Profil verweilte. Sein Schnauzer zuckte etwas, er bewegte den Kopf leicht, als wollte er das volle Haar nach hinten gleiten lassen.
Morgenstern hüstelte und sprach recht laut: »Nu, dann will ich mich mal um die anderen Gäste kümmern, liebste Frau Dr. Blauschner.« Und schon war er verschwunden.
Der Kunstliebhaber – um einen solchen musste es sich zweifellos handeln – schaute sich fast etwas erschrocken um. Er blickte über die Gläser der Brille hinweg und äußerte nur: »Nein.«
»Nein?«, fragte die Blauschner und errötete.
Nun lächelte der Mann. »Sie sind die Künstlerin?«
Die Blauschner lächelte ebenfalls und nickte, worauf er sich wieder dem Bild zuwandte. »Sie haben im Elbbogen gestanden, als Sie das Bild malten. Nicht wahr?«
»So ist es. Wobei, ganz ehrlich gesagt, die meiste Zeit habe ich gesessen.«
Er schaute unablässig auf das Bild. »Ich habe die Stelle sofort wiedererkannt. Hier bin ich aufgewachsen. Ich lief oft von zu Hause weg, für ein paar Stunden nur, verstehen Sie, und ich war stets genau hier.« Er zeigte auf einen Punkt des Gemäldes, unweit des filigran gemalten Ufers. »Eben dort habe ich gesessen.«
»Was haben Sie dort getan?«
Der Mann rückte nachdenklich die Brille auf der Nase zurecht. »Nachgedacht, philosophiert, gelesen, gelauscht, beobachtet.« Er nickte dem Bild zu. »Eben all die Dinge, die man tut, wenn man jung ist und an einem solchen Ort verweilt. – Ist dieses Werk käuflich zu erwerben?«
Sie genoss den Hauch von Ruhm, das bisschen Aufmerksamkeit dieses fremden Herrn, der ihr längst nicht mehr so fremd vorkam. Trotzdem antwortete sie nur: »Vielleicht.«
»Wie wäre es«, er zierte sich nicht lange, »wenn wir nebenan im Café die Modalitäten besprechen? Ich lade Sie herzlich ein.«
Die Blauschner schaute sich unbeholfen um.
Er lächelte erneut. Ein verzauberndes Lächeln! »Ihre Kunstwerke werden nicht davonlaufen.«
Überzeugt stimmte sie zu. »In Ordnung.«
Wenige Minuten später saßen die beiden an einem kleinen Korbtisch im straßenseitigen Bereich des Boulevard-Cafés, eine große Tasse Kaffee vor sich.
»Wollen Sie Milch und Zucker?«, fragte er.
»Viel Milch bitte«, antwortete sie schmunzelnd. Tatsächlich war ihr plötzlich der Gedanke gekommen, dieser deutlich jüngere Mann hätte den Versuch gestartet, ihr den Hof zu machen. Das Schmunzeln galt den eigenen Gedanken.
Der nette Herr goss die Milch in ihren Kaffee, wobei unbemerkt etwas pulverige Substanz in die Tasse gelangte. »Darf ich?« Er nahm ihren Löffel und rührte sanft um, dann schob er das Getränk zu ihr hinüber.
»Was tun Sie beruflich?«
»Was glauben Sie denn, was ich tue?«
Sie betrachtete seine Hände und nahm einige Schlucke ihres Kaffees. »Jedenfalls sind Sie kein Handwerker.«
»Das haben Sie gut erkannt.« Er lächelte und trank ebenfalls. »Ich bin beim Fernsehen.«
»Oh.« Eine kurze Pause folgte. »Beim Fernsehen?«
»So ist es. Ich denke mir Dinge aus, die die Quoten erhöhen sollen.«
Keck fragte sie nach: »Gute Sendungen oder auch solche, die verblöden?« Kaum waren die Worte verklungen, hielt sich Dr. Carola Blauschner eine Hand vor den gähnenden Mund.
»Sowohl als auch. Entscheidend sind die Einschaltquoten. Würden Sendungen – Sie sagten so schön treffend –, die verblöden, nicht angeschaut werden, dann würde man sie nicht produzieren.«
Die Ärztin widmete sich abermals ihrer Kaffeetasse, denn sie fühlte sich plötzlich sehr müde. »Damit haben Sie wahrscheinlich recht.« Normalerweise sorgte Koffein für Munterkeit. Doch heute schien alles anders zu sein.
»Würden Sie denn gern in einer großen Show auftreten?« Der Mann hatte die Frage in vollem Ernst gestellt. »Wahrscheinlich wären Sie ein guter Kandidat, wenn es nicht gerade um sportliche Höchstleistungen geht.«
Sie lachte übertrieben. Ihre Augenlider schlossen sich für mehrere Momente, dann blinzelte sie und wollte die rechte Hand zur Kaffeetasse bewegen, doch die gehorchte ihr nicht. Ihr Lachen verebbte so schnell, wie es gekommen war. »Was …?«
Er stand auf, ging zu ihrem Platz und hielt die Rentnerin fest, damit sie nicht vom Korbstuhl fallen konnte. Sein Blick wanderte über den Gehweg der vielbefahrenen Straße. Sein kurzes Nicken galt einem jüngeren Mann, der eine Kapuzenjacke und eine Sonnenbrille trug. Dieser näherte sich einen Rollstuhl schiebend und fuhr geschickt neben den Platz der Ärztin. Er hob sie in Sekundenschnelle in den Rollstuhl, schnallte sie fest und drückte ihren Kopf gegen eine Kopflehne, während der vermeintliche Kunstliebhaber ihr eine große Sonnenbrille aufsetzte.
Kurze Zeit später war der junge Mann mit dem Rollstuhl verschwunden. Der andere winkte die Bedienung heran, gab ihr einen Zehn-Euro-Schein, sagte Zähne zeigend »Thank you« und verließ das Café. Als er in den zwei Kreuzungen weiter geparkten schwarzen Mercedes Vito stieg, wies sein Gesicht weder Schnauzer noch Brille auf, der Kopf ließ die Haare vermissen.
Weitere dreißig Minuten später trat der alte Morgenstern aus der Galerie ins Freie, schaute sich lange um und ging schließlich kopfschüttelnd wieder hinein.
Du solltest in keinen Brunnen spucken, denn in der Not könntest du daraus trinken müssen.
»Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau.«
Die allseits bekannte Eingangsmelodie erklang, während im Hintergrund sowohl einige Portraits in Großaufnahme als auch Fotos von getöteten Opfern – überwiegend Kinder und Frauen – aus umkämpften Gebieten im Nahen Osten und in Nordafrika über den Schirm schwebten.
Klaus-Jan Oertler, ein grauhaariger und den meisten Zuschauern bekannter Moderator, griff nach einem Kugelschreiber, während zum Ende der Melodie auf ihn gezoomt wurde.
»Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zur Tagesschau.«
Im Hintergrund des virtuellen Studios tauchten die Porträtaufnahmen von fünf Personen auf.
»Ist heute wieder so ein Tag, der ganz Deutschland in Angst und Schrecken versetzt? Das spektakuläre Verschwinden mehrerer Personen beschäftigt die Polizeibehörden in fünf Bundesländern. Spektakulär deshalb, weil mindestens vier von ihnen gewaltsam entführt wurden und weil alle fünf vermissten Personen durchaus bekannte und sehr reiche«, er betonte das Wort ›reiche‹, »Mitglieder unserer Gesellschaft sind. Vom Innenministerium in Berlin gibt es aus Rücksicht auf die laufenden Ermittlungen bisher keine offizielle Stellungnahme. Innenminister Volker Gellert, CDU, plant jedoch, morgen Vormittag eine Pressekonferenz einzuberufen. Aus dem Innenministerium wurde lediglich bekannt, dass momentan in alle Richtungen ermittelt werde.« Ein harter Schnitt folgte. Während eine Sprecherin laut und deutlich kommentierte, waren zunächst Filmmitschnitte der vermeintlichen Opfer zu sehen. »Die Täter kamen – wie es scheint – unvermutet und schlugen an völlig verschiedenen Orten zu. Es traf fünf Personen, die augenscheinlich nichts miteinander zu tun haben. Und doch treffen die Entführungen – und dass es sich um solche handelt, davon kann man ausgehen – Deutschland mitten ins Herz. Der bekannte Schauspieler Klaus van Boomerland wurde in einer Tiefgarage überwältigt. Gerade erst hatte er die Dreharbeiten zur vierzehnten Staffel von ›Eine deutsche Familie auf Mallorca‹ beendet.«
Der vierundzwanzigjährige Francesco tauchte auf. Seine geschminkten Lippen waren verschmiert, das Make-up verwischt und die Hände zitterten. »Sie waren hart!«, rief er. »Sie waren brutal! Und ihr Auto war groß und schwarz! Sie haben ihn mir regelrecht entrissen!«
Erneut folgte ein derber Schnitt und der Sprecher erklärte: »In München verschwand die Industrielle Sigrun Tamelroth am helllichten Tag. In Berlin wurde Bauunternehmer und Immobilieneigentümer Franz Schneidmann vor den Augen seines achtjährigen Sohnes entführt!«
Villads erschien auf dem Bildschirm, von Kameras umringt, hinter unzähligen Mikrofonen verschwindend. »Ich weiß nicht. Es war ein großes schwarzes Auto …« Unzählige, gleichzeitig gestellte Fragen prasselten auf ihn nieder. Der Junge weinte und schwieg fortan beharrlich.
Erneut ertönte die Stimme des Kommentators: »Der vierte Vermisste ist Theodor Fack, Inhaber von b&s, der zweitgrößten deutschen Einzelhandels-Ladenkette. Er verschwand in Stuttgart nach einem öffentlichen Auftritt.«
Das Dekolleté der Marketingchefin von b&s ließ tiefe Einblicke zu. »Also, Fack, wissen Sie … Was soll ich sagen? Er war eben noch da. Und ohne ein Wort ist er plötzlich verschwunden. Leute wollen ein großes schwarzes Fahrzeug gesehen haben. Also, ich hab das nicht gesehen, aber … Ein großer Fuck sozusagen. Und gerade jetzt passiert das, wo wir doch endlich den Mindestlohn …« Harter Schnitt.
»Weiterhin kehrte der Software-Entwickler Hannes Gartenleitner, Besitzer des millionenschweren Unternehmens Dragonblaze in Kassel, von einem Geschäftstermin nicht zurück.«, fuhr der Sprecher fort.
Der vierundsechzigjährige Innenminister Volker Gellert stand in einem Flur des Bundestages. Er sprach langsam und wirkte ruhig, doch ein glänzender Schweißfilm zierte seine Stirn. »Es wäre derzeit übereilt, gewissermaßen quasi die falschen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir ermitteln in alle Richtungen. Am Ende des Tages werden wir vielleicht mehr wissen.«
»Herr Innenminister, könnte es ein erneuter terroristischer Angriff sein, weil sich Deutschland nun aktiver an der Bekämpfung des IS in Syrien beteiligt?«
»Wir ermitteln in alle Richtungen. Das sagte ich doch bereits.«
Zurück im Studio. Tagesschau-Sprecher Klaus-Jan Oertler hielt sein ernstes, gefurchtes Gesicht in Kamera vier. »Soeben erreichte uns die Eilmeldung, dass es in Dresden einen weiteren Entführungsfall gegeben haben könnte. Dort verschwand die sechsundsechzigjährige Dr. Carola Blauschner, Gründerin der Carima Altenpflege Gesellschaft, wie die dpa soeben aus Leipzig meldete. – Ob es sich um die angedrohten Anschläge des IS nach dem deutschen Einstieg in die Kampfhandlungen in Syrien handelt, ist noch nicht erwiesen, jedoch durchaus denkbar.«
Die direkte Überleitung zum nächsten Thema folgte. Fotos von toten Frauen und Kindern wurden im virtuellen Studio gezeigt.
»Mitarbeiter von UN-Hilfsorganisationen haben im Irak und im Osten Syriens neue Gräueltaten der Terrororganisation Islamischer Staat entdeckt. Dabei soll es sich um mehrere hundert kurdische Frauen und Kinder handeln, die verstümmelt, teilweise auch geköpft wurden.«
Der Filmbeitrag mit schrecklichen Bildern folgte.
*
Leipzig, Sachsen, Sonnenschein – draußen wenigstens. In einem abgeriegelten, düster wirkenden Besprechungsraum des Polizeipräsidiums saßen drei Männer an einem Tisch. Einer, der langjährige Kriminaloberkommissar Holger Hinrich, nippte an einem Kaffee und lauschte den Worten des königlichen Gesandten aus Dresden, einem in feinstem zivilen Zwirn steckenden, jungen Mann namens Tom Reuther, den der der CDU zugehörige Landespolizeichef höchstpersönlich geschickt haben soll.
»Und was haben wir damit zu tun?«, fragte Hinrich zum wiederholten Male. »Aus Leipzig ist schließlich kein Millionär verschwunden. Haben wir überhaupt welche?«
Der junge Mann blätterte erregt in seinen Unterlagen, ohne etwas finden zu wollen. »Berlin …, die Regierung … hat festgelegt, also der Herr Innenminister Gellert, der will …«
»Ja. Rhetorik ist für Sie ein Fremdwort. Haben wir bemerkt.« Spöttisch lächelnd schaute Hinrich zu seinem Kollegen Hans Rattner, einem Leipziger Hauptkommissar, mit dem der alte Hinrich bislang nur selten zu tun gehabt hatte. »In Dresden verschwindet eine reiche Frau, in Berlin wird eine Soko gebildet und hier in Leipzig sollen wir was aufklären? Wer lässt sich denn solchen Irrsinn einfallen?«
»Das …, das ist kein Irrsinn«, rechtfertigte sich der Abgesandte. »Hasso Kohl, das ist der Leiter dieser Soko in Berlin, will in Leipzig eine zweihundert Mann starke SEK-Sondereinheit in ständiger Bereitschaft haben. Und Sie beide sollen die Verbindung zwischen …«
»Mal langsam.« Hinrich stellte die Tasse ab und erhob sich. »Haben die etwa keine Telefone?«
Reuthers Gesicht färbte sich dunkelrot. »Wir müssen das nicht länger diskutieren.« Er schob einen Ordner mit wenigen Akten über den Tisch zu Rattner. »Sechs wichtige Leute sind verschwunden.«
»Sechs reiche Leute«, warf Hinrich ein. »Ob sie wirklich wichtig sind, das muss erst beweisen werden.«
»Berlin will die Suche in ganz Deutschland koordinieren. Und Sie …«
»Wenn ich das schon höre!« Hinrich blieb stur. »Wir sind von der Mordkommission. In den letzten Jahren haben wir Personal ohne Ende eingebüßt. Soll ich Ihnen sagen, warum? Weil ›Berlin‹ das so wollte. Und nun sollen wir uns hier in Sachsen um preußischen Kram kümmern?«
Etwas übereilt erhob sich der Dresdner. »Sachsens Innenminister und der Landespolizeipräsident haben Ihnen klare Anweisungen und Vollmachten gegeben. Sie finden alles im Ordner.« Er nickte jedem der Männer zu, schloss vorbildlich, wenngleich mit zitternden Fingern die Knöpfe des Jacketts, ergriff seinen Aktenkoffer, nickte erneut und wollte den Raum verlassen. Als er in die unmittelbare Nähe der Tür kam, hätte es ihn fast erschlagen, denn diese öffnete sich ruckartig und ein Riese in blauschwarzer Uniform stand vor ihm. Der Abgesandte wich zurück, umging den Hünen und verließ fluchtartig den Raum.
»Cherr Chinchich?« Der große Mann lächelte und hielt dem Kommissar die rechte Pranke hin. Er sprach mit leichtem russischen Akzent. »Guten Tag. Ich habe Befehl, mich bei Ihnen zu melden.«
»Du hättest dir besser eigenen Kaffee mitbringen sollen, Ameise«, äußerte Rattner. »Die Bedienung im Präsidium scheint zu streiken.«
»Ameise?«, warf Hinrich erstaunt ein und reichte dem Hünen die Hand. »Ja, Holger Hinrich ist mein Name. Ich weiß nur noch nicht, was wir hier anstellen sollen. Ameise scheint mir irgendwie eine äußerst possierliche Bezeichnung für einen Mann wie Sie zu sein.«
Der Riese legte geräuschvoll den SEK-Helm mitten auf den Besprechungstisch und setzte sich auf einen der Stühle. Hans Rattner kratzte sich am Hals, als hätte er die Befürchtung, die Stuhlbeine könnten unter der Last dieses Körpers nachgeben. Dann schob er eine leere Kaffeetasse von sich weg und lächelte ebenfalls. »Ameise war sein Deckname. Und heute ist es so was wie sein Kosename. Dieser Winzling heißt in Wirklichkeit Anatolij Sorokin, stammt aus Magnitogorsk und hat jede Menge Kinder.«
»Es sind nur vier«, warf Sorokin ein und zählte an den Fingern ab. »Fedor, Anton, Natascha und Alexander. Chetvero detey. Das vierte ist Alexander, ist aber noch ganz winzig klein und neu. Aber schreit gern. Vor allem in der Nacht.«
»Dein Alex bekommt wahrscheinlich Zähnchen.« Nachlässig blätterte Rattner in den Dokumenten, die ihnen der Abgesandte überlassen hatte. Dabei erwies er sich als multitaskingfähig, denn er wühlte, las und redete gleichzeitig. »Holger, wenn der Kerl dir vertraut, darfst du ihn irgendwann Tolik nennen.«
Hinrich reichte Sorokin erneut die Hand. »Regeln wir das gleich: Ich vertraue dir – und du musst mir vertrauen, Tolik! Dann darfst du auch Holger zu mir sagen.«
Sorokin drückte Hinrichs Hand vorsichtig. »In Ordnung, Cholger.«
Rattner sprach unbeeindruckt weiter: »Sie geben ihm ständig das Kommando über SEK-Einheiten, damit sich die gesamte Einheit hinter ihm verstecken kann. Dreimal wollten sie Tolik schon rausschmeißen …«
»… fünfmal«, warf Sorokin ein und zeigte alle Finger seiner rechten Hand.
»Dann eben fünfmal. Er fabriziert angeblich zu viel Kleinholz. Und einmal hat er einem jungen Beamten beide Schlüsselbeine gebrochen …«
»Der hatte Tollwut«, warf Sorokin erneut ein.
»Okay, Tollwut. Der hatte auf einen liegenden Demonstranten eingetreten und Tolik passte das nicht. Aber sonst …« Rattner klopfte Sorokin auf die gepolsterte Schulter, »… ansonsten ist er ein absolut angenehmer Zeitgenosse, hat eine liebe Frau und ganz besonders sein ältester Sohn … Was macht Fedor eigentlich?«, unterbrach er seine Rede.
»Er wächst und wächst. Verhält sich pubertär und übernimmt sich ständig.«
Rattner lachte auf. »Du willst damit sagen, dass dir Fedor immer ähnlicher wird?«
»Sozusagen. Aber … Er fällt oft hin. Jetzt häufiger als früher, als er kaum laufen konnte.«
»Er fällt?«, fragte Hinrich erstaunt. »Symbolisch gemeint?«
»Njet symbolisch. Ist slijep.« Sorokin blickte Rattner Hilfe suchend an. »Erklär du ihm das, Hans.«
»Ich? Okay. Fedor ist blind. Blind in Magnitogorsk geboren. Jetzt ist er fünfzehn Jahre alt …«
»Sechzehn«, verbesserte Anatolij Sorokin.