Kitabı oku: «Mara und der Feuerbringer», sayfa 5

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Mit spielerischen, fast tänzelnden Bewegungen holte der Mann das Netz wieder ein. Dabei schien es ihn nicht im Geringsten anzustrengen, ein mehrere Meter langes Netz mitsamt einem wild wuselnden Haufen armlanger Fische auf den Steg zu wuchten. Und jedes Mal, wenn er nachgreifen musste, ließ er vorher den Arm durch die Luft sausen wie ein schlechter Straßenpantomime, bevor er zum imaginären Treppengeländer griff.

Dieser Mann tat ja gerade so, als wäre dieses simple Fischernetz die größte Sache seit Erfindung des Rades. Nein, er benahm sich, als hätte er das Fischernetz höchstpersönlich erfunden!

»Das hab ich auch, und zwar erst gestern«, sagte der Mann, drehte sich herum und sah Mara an. Mit seinen schwarz glänzenden Augäpfeln, leuchtend wie ein schwarzer Mond in einer weißen Nacht. Mit den Augen des Mannes, den Mara eben noch auf dem Bild gesehen hatte. Mit den Augen des Mannes, den die Götter auf den Felsen gebunden hatten.

»So erstaunt über die eigene Gabe, Litilvölva?«, fragte Loki. Dabei grinste er breit und seine dünnen Lippen umrahmten perlmuttweiß blitzende Zähne.

Und Mara schrie so laut, wie sie noch nie zuvor geschrien hatte. Sie wich unwillkürlich einen Schritt zurück und bemerkte im gleichen Moment den Fehler, als sie plötzlich keinen Boden mehr unter sich spürte. Gerade noch konnte sie sich an einer der dicken Bohlen des Stegs festhalten und hing nun hilflos im eiskalten Wasser des Flusses. Der riss mit erstaunlicher Kraft an ihren Beinen, als wolle er sie zu sich hinunterziehen!

»Hilfe!«, rief Mara: »Bitte helfen Sie mir!« Und tatsächlich sah es für einen Moment so aus, als würde Loki sich zu ihr hinunterbeugen.

Doch da erstarrte das spöttische Lächeln im Gesicht des Mannes. Er musste irgendetwas entdeckt haben, das ihm einen fürchterlichen Schrecken einjagte, denn sofort wandte er sich von Mara ab und verschwand vom Rand des Stegs.

Gleichzeitig spürte Mara, wie etwas Schweres über den Steg rumpelte und dabei die Holzbohlen immer stärker vibrieren ließ!

Sie konnte aus den Augenwinkeln sehen, wie Loki mit einem weiten Satz vom Ende des Stegs sprang … und doch nicht im Wasser aufschlug. Stattdessen tauchte ein rötlich glänzender Fisch in die Wellen, sprang noch einmal übermütig in die Luft, bevor er dann endgültig in den Fluten verschwand.

Für eine Sekunde vergaß Mara ihre missliche Lage, als sie begriff, dass sich dieser Mann gerade vor ihren Augen in einen Fisch verwandelt hatte.

Da donnerte der geheimnisvolle Verfolger auch schon an ihr vorbei und das Letzte, was Mara erkennen konnte, waren das Geweih und die Hufe eines Geißbocks und das Rad eines riesigen Streitwagens. Der wackelige Steg ächzte noch ein letztes Mal unter dem Gewicht des mächtigen Gespanns, doch dann gab er endgültig nach. Seile platzten, armdicke Bohlen wurden in die Luft geschleudert, überall krachte und dröhnte es, als der Steg sich in seine Einzelteile auflöste und Mara unbarmherzig mit sich riss.

»Nein!«, schrie sie und wusste nicht, ob sie es laut geschrien hatte oder nur in ihrem Kopf. Doch da umschloss sie der reißende Fluss auch schon mit seinen eisigen Armen …

Mara versank wie ein Stein und die Kälte schnürte ihr den Hals zu. Ein schwerer Balken verfehlte sie nur um Haaresbreite und schwebte für einen Moment neben ihr, als würden sie zusammen eine Art Unterwasserballett aufführen. Mara brauchte einen Moment, bis sie die Chance erkannt hatte, doch dann griff sie endlich zu und umklammerte das Holz mit beiden Armen.

Als sie nach ein paar weiteren endlosen Sekunden tatsächlich wieder die Wasseroberfläche durchbrach, war sie schon viele Meter von den Resten des Stegs entfernt. Immer weiter riss sie die Strömung fort und jede Hoffnung, wieder zum Steg zurückzugelangen, schwand ebenso schnell wie Maras Kräfte. Trotz der Kleider, die sie nach unten zogen, versuchte sie, den Kopf über Wasser zu halten, und klammerte sich mit dem Mut der Verzweiflung an dem glitschigen Balken fest.

Mit verschwommenem Blick nahm Mara noch wahr, dass der weit entfernte Wagen mit den Böcken mitten im Fluss mühelos der Strömung trotzte. Eine riesenhafte Gestalt hielt die Zügel mit einer Hand und schwang mit der anderen ein Fischernetz in weitem Bogen um sich. Lokis Fischernetz?

Doch da wurde die Gestalt auch schon vom Nebel verschluckt und Mara sah gar nichts mehr außer Wasser und milchigem Weiß …

Das dumpfe Brausen des Wasserfalls nahm Mara einfach nur noch hin. Sie hatte nicht mehr die Kraft zu schreien. Es wäre auch völlig sinnlos gewesen, sich gegen die Strömung zu wehren. Und als sie schließlich zusammen mit den Wassermassen in die Tiefe stürzte, spürte Mara nur noch, dass sie nicht mehr Wasser treten musste …

Mara erinnerte sich nicht an den Aufschlag. Eben war sie noch gefallen und nun umschloss sie eine eiskalte Dunkelheit. Die Wucht des stürzenden Flusses schlug unaufhörlich auf sie ein, ließ sie sich immer und immer wieder überschlagen. Nirgendwo war oben, irgendwo war unten und überall war nichts als eiskaltes Wasser.

Aufwachen!, war das Vorletzte, an das Mara dachte. Das Letzte waren ihre Eltern. Sie saßen zu dritt am Frühstückstisch, Mara wollte kein Müsli, Papa lachte und Mama auch, und dann lachte auch Mara.


Kapitel 7


Plötzlich spürte Mara, wie sich etwas Großes gegen ihren Rücken drückte und sie mit einer unglaublichen Wucht durch das Wasser schob. Durch den Druck des Wassers wurde Mara hart gegen die seltsame Oberfläche gepresst. Als sie sich dazu zwang, ihre Augen zu öffnen, sah sie über sich ein schwaches Licht: Sie raste der Wasseroberfläche entgegen.

Augenblicklich spürte sie auch ihre Lungen wieder und das wilde Verlangen zu atmen. Im nächsten Moment durchbrach Mara endlich die Wellen und schnappte mit einem lauten Keuchen nach Luft.

Mara verschwendete keinen Gedanken an das, was sie da aus dem Wasser gehoben hatte. Sie konnte nur an eins denken: Luft, Luft, endlich Luft!

Und dann begann sie zu weinen. Hustend, zitternd und schluchzend rollte sie auf dem seltsam glitschigen Untergrund hin und her. Sie hatte einfach nicht mehr die Kraft, sich dagegen zu wehren, und immer wieder wurde sie von dem eiskalten Wasser des Meeres umspült. Sie verlor mehrmals das Bewusstsein, dämmerte dahin, bis ein weiterer, noch kälterer Guss sie abermals aufschrecken ließ und sie doch sofort wieder die Augen schloss …

Mara wusste nicht, wie lange sie so dagelegen hatte. Ein paar Minuten? Stunden? Doch irgendwann öffnete sie die Augen und bemerkte, dass die Sonne durch die Wolken gebrochen war und heiß auf sie herunterbrannte. Es fühlte sich so wunderbar an, dass sie gleich wieder zu weinen begann, aber diesmal aus einem so tiefen Glücksgefühl, wie sie es noch nie zuvor empfunden hatte. Schließlich schaffte sie es, sich aufzusetzen, und blickte sich um.

Sofort stieg in Mara eine so glühend heiße Panik hoch, dass ihr fast schwindelig wurde. Ihre Muskeln gaben nach, sie fiel schwer atmend auf die Hände und starrte zu Boden. Oder zumindest auf das, was momentan ihren Boden darstellte.

Mara hockte auf einem Lebewesen! Es musste ein Lebewesen sein, denn etwas kontrollierte spürbar die Bewegungen unter ihr. Das eigentlich Schreckliche war aber nicht die Gewissheit, auf dem Rücken eines gigantischen Lebewesens zu reiten. Das eigentlich Schreckliche war: Dieses Lebewesen hatte ganz offensichtlich kein Ende!

Um Mara herum erstreckte sich weit und breit nichts als der glitschige, schwarze und schuppige Körper eines Monstrums von gigantischen Ausmaßen. Eine Schuppenplatte alleine hatte in etwa die Größe einer Straßenkreuzung, und so weit sie blicken konnte, sah sie nichts anderes als eine Schuppe neben der nächsten.

Mara versuchte, sich einen irgendwie drachenartigen Kopf vorzustellen, der so groß war, dass er ihre Heimatstadt mit einem Biss verschlucken konnte, und scheiterte.

Hoppla. Dass sie sich etwas nicht vorstellen konnte, war bisher erst ein einziges Mal vorgekommen, und zwar als ihr Mathelehrer einmal davon gesprochen hatte, dass man unendlich weiterzählen konnte und nie an ein Ende gelangen würde. Der Gedanke, dass etwas kein Ende hatte, war für Mara sehr verwirrend gewesen. Sie hasste es, Dinge nicht zu Ende denken und als erledigt irgendwo in ihrem Hirn ablegen zu können. Aber Mara verdrängte das Bild ihres gähnend leeren Karteikastens mit der Aufschrift Zu Ende gedachte Gedanken. Denn plötzlich spürte sie, wie eiskaltes Wasser ihre Füße umspülte! Monsterland ging wieder unter!

Sie reagierte sofort und stolperte eher los, als dass sie rannte. Bloß weg vom Wasser, bergauf!

Doch leider tauchte das Monster schneller, als Mara rennen konnte. Sie war sowieso schon nicht die Beste im Laufen und außerdem so sehr geschwächt, dass ihre Knie mehrmals nachgaben und sie ständig stolperte. Doch immer wieder rappelte Mara sich auf und rannte keuchend weiter – weg von den schmatzenden Wellen, immer weiter über den gigantischen Körper des Monsters.

Wäre Mara so schnell gerast wie ihr Verstand, sie wäre vermutlich sogar über das Wasser gelaufen. Ihr Kopf war übervoll mit Bildern, die alle wild durcheinanderwuselten. So als würde sie in einem Whirlpool voller Fotos schwimmen und irgendwer hätte die Blubberfunktion auf tausend gestellt.

Und über all dem schwebte das Wort, das sie jetzt seit Tagen begleitete und ihr ganzes Leben verändert hatte.

Spákona.

Sie war eine Seherin. Die letzte Seherin vielleicht und angeblich die letzte Hoffnung für die ganze Welt! Wie das schon klang …

Das hörte sich schon sehr nach diesen typischen Sonntagnachmittags-Filmen an, in denen irgendwelche Kinderstars namens Kevin perfekt gestylt gegen irgendeinen austauschbaren Alt-Filmstar kämpften, der laufend HarrHarrHarr machte und dabei seinen gesamten Plan ausplauderte. Und immer explodierte am Ende eine alte Fabrik, ein Schloss oder ein Berg – je nachdem, wo der Bösewicht diesmal sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte – HarrHarrHa… Bumm! Und die Welt war gerettet.

Und da passierte es. Mara musste lachen: Sie hatte nämlich gerade festgestellt, wie viel sie mit diesen Weltenrettern gemeinsam hatte, und die Antwort ging weit, weit über die Null hinaus bis ganz tief ins Minus! Aus Maras Hals, der sich inzwischen anfühlte wie eine Regenrinne voller Nagelfeilen, purzelte stoßweise und schmerzhaft ein höchst albernes Kichern hervor.

Doch dann fiel sie ein weiteres Mal der Länge nach hin und hatte einfach nicht mehr die Kraft aufzustehen. Zitternd und kichernd wartete sie nun darauf, dass das Meer sie, Mara Lorbeer, Heldin, Weltretterin und Spákona, verschluckte und ihr Verstand tat das einzig Richtige: Er knipste Maras Hirn aus und riss das Mädchen in eine tiefe Ohnmacht.

Mara öffnete die Augen und sah Wolken, die über einen tiefblauen Himmel zogen. Sie versuchte, sich zu bewegen, aber etwas hielt sie fest umklammert.

Sie blickte noch mal auf die Wolken und den blauen Himmel und spürte, dass irgendetwas nicht zusammenpasste. Verwirrt schloss sie die Augen wieder und hielt sie einen Moment geschlossen.

Ich liege nicht auf dem Rücken, dachte Mara. Das spüre ich ganz genau. Es fühlt sich eher so an, als würde ich irgendwie … hängen.

Langsam öffnete sie nun die Augen und endlich passte das, was sie sah, auch zu dem, was sie fühlte: Etwas trug sie über den Wolken durch die Luft und das Blaue da unten war kein Himmel, sondern Wasser.

Sie versuchte, den Kopf zu drehen, um zu sehen, was sie so eisern festhielt, schaffte es und war sofort so unglaublich baff, wie man baffer gar nicht sein konnte.

Sie steckte in den Krallen eines riesigen Vogels, der sie behutsam durch die Luft trug. Mara glaubte, den kräftigen, gelben Schnabel eines Adlers irgendwo über sich zu erkennen und auch die Krallen sahen irgendwie adlerartig aus. Die riesigen Schwingen waren reglos ausgebreitet wie die Flügel eines Segelflugzeugs und trotz des tosenden Windes fühlte es sich irgendwie still und friedlich an.

Also entschied sich Mara vorerst gegen eine weitere Ohnmacht und blickte stattdessen noch einmal nach unten. Im Wasser schwamm nämlich etwas, von dem sie wusste, dass sie gerade noch darauf herumgelegen hatte. Ja, Mara sah auf das Monstrum hinab, das sie erst vor dem Ertrinken gerettet und danach durch seinen Tauchgang fast wieder ersäuft hatte. Und sie sah es in seiner gesamten imposanten Größe.

Sogar die Form des Kopfes konnte Mara schemenhaft erkennen, obwohl er sich wie der Rest des gewaltigen Leibes bereits unterhalb der Wasseroberfläche befand. Und es hatte Beine. Viele Beine. Und ein großes Maul. Ein sehr, sehr großes …


Diese letzte Erkenntnis war für Mara Grund genug, sich dann doch für eine weitere Ohnmacht zu entscheiden, und sie war sich selbst dafür sehr dankbar.

Mara erwachte, doch sie hielt die Augen geschlossen und hatte nur einen Gedanken: Wenn ich die Augen aufmache, möchte ich im Büro vom Professor auf dem Boden liegen. Wenn ich die Augen aufmache, möchte ich im Büro vom Professor auf dem Boden liegen. Wenn ich …

Da kam ihr eine Szene aus dem Vorspann der Simpsons in den Sinn, in der Bart Simpson zur Strafe jedes Mal etwas anderes zigfach an die Tafel schreiben musste, und sie fühlte sich sowohl albern als auch irgendwie besser. Immerhin konnte sie schon wieder an die Simpsons denken und diese Erkenntnis gab ihr Halt.

Mara öffnete die Augen.

Vor ihr ragte der Bug eines Schiffes in die Höhe und auf dem Schiff stand regungslos ein Mann mit wildem Bart. Über seinem Kopf schwang er den abgetrennten Kopf eines Ochsen an einem Seil. Hinter ihm stand ein weiterer Mann, der ein Messer gezückt hatte und ebenso regungslos verharrte.

Mara schrie auf.

»Beruhige dich, Mara Lorbeer«, sagte die vertraute Stimme von Professor Weissinger. »Es ist alles okay, hörst du? Mara? Bleib erst einmal ruhig liegen.«

Doch ganz im Gegensatz zu Professor Weissingers Wunsch setzte sich Mara mit einem Ruck auf und starrte auf das Boot mit den zwei Männern. Es war nur eine getöpferte Miniatur aus bemaltem Ton.

Mara war direkt neben dem Ding auf den Boden gefallen, und als sie die Augen geöffnet hatte, war ihr der wenige Zentimeter von ihren Augen entfernte Bug des Schiffes gigantisch vorgekommen. In Wirklichkeit war das gesamte Kunstwerk nicht größer als ein Schnellkochtopf.

Mara spürte, dass sie weder nass noch ihre Kleidung zerschlissen war. Auch ihre Schuhe trug sie noch an den Füßen.

Sie sah sich um und blickte in die sorgenvollen Augen des Professors. »Was ist bloß los mit dir? Das ist jetzt das zweite Mal, dass du in meinem Beisein umgekippt bist. Du musst zu einem Arzt.«

»Nein!«, rief Mara und sprang auf, um im selben Moment die Augen zu verdrehen und wieder auf die Knie zu sacken.

Sofort war Professor Weissinger zur Stelle und hielt sie an den Schultern fest. »Was heißt hier ›Nein‹? Dir geht es nicht gut und du machst mir Angst. Du warst bestimmt fünf Sekunden bewusstlos! Was meinst du denn, was deine Mutter mir erzählt, wenn …«

Nur fünf Sekunden, dachte Mara. Ich war nur fünf Sekunden weg!? Ihre Gedanken wollten losrasen, doch dafür hatte sie jetzt keine Zeit.

»Bitte, Professor, rufen Sie keinen Arzt!«, flehte sie. »Und meine Mutter muss gar nichts davon mitbekommen, dass ich hier bin! Sie darf überhaupt nichts davon wissen! Bitte!«

Professor Weissinger blickte Mara lange mit seinen hellen Augen an. Schließlich brummte er: »Was soll ich denn tun, wenn du mich so anschaust. Also gut.« Mara atmete erleichtert auf. »Aber wenn du mir noch ein drittes Mal umkippst, rufe ich sofort einen Arzt! Ein Mädchen in deinem Alter klappt normalerweise nicht dauernd zusammen. Das macht man erst, wenn man so alt ist wie ich.« Er überlegte kurz. »Oder viel älter.«

Er half Mara, sich hinzusetzen, und reichte ihr einen Pappbecher mit zimmerwarmem Wasser, das entweder niemals gesprudelt hatte oder es in den letzten Tagen einfach aufgegeben hatte, weil eh keiner zusah.

»Hier, trink das. Und dann erwarte ich, dass du mir endlich erzählst, was hier eigentlich los ist!«, sagte Professor Weissinger, und es klang nicht unfreundlich, aber sehr bestimmt.

Mara stellte den Pappbecher auf die einzige freie Ecke des Schreibtischs, nahm all ihren Mut zusammen und sagte schließlich: »Ich weiß, wer der Mann auf dem Bild ist.«

»Das ist zwar noch kein Grund, einfach umzukippen, aber trotz allem sehr interessant«, sagte der Professor. »Woher kennst du denn das Bild?«

»Gar nicht«, antwortete Mara. »Das Bild habe ich noch nie gesehen, aber ich weiß, dass der Mann darauf Loki ist. Ich habe ihn erkannt.«

Der Professor hob die Augenbrauen und Mara war sich völlig sicher, dass er ihr kein Wort glauben würde. Doch er sagte nur: »Tatsächlich? Respekt. Das schafft so mancher Wissenschaftler nicht auf den ersten Blick. Woran hast du ihn denn erkannt?«

»An seinen Augen. Das ist nämlich das Einzige, was der Maler an dem Bild richtig gemacht hat. Alles andere ist falsch.«

»Ach was. Na, das ist ja interessant.« Ein leichtes Lächeln umspielte die Lippen des Professors.

Doch Mara fuhr stur fort: »Loki hat keine Mütze auf, sondern ganz lange blonde Haare, die er auf der Seite zusammengeknotet hat. Über dem rechten Ohr. Und er trägt auch keine bunten Klamotten mit roten Streifen wie auf dem Bild, sondern ein dunkelrotes Kleid oder so was Ähnliches. Auf jeden Fall geht es ihm bis zu den Knien, und er hat einen Gürtel, an dem ein Dolch hängt. Er sieht aus wie ein Wikinger, obwohl er keinen Helm aufhat.«

Mara bemerkte mit einer gewissen Genugtuung, dass das Lächeln auf Professor Weissingers Gesicht verschwand und dafür das Sofakissen zurückgekehrt war. »Außerdem stand er auf einem Steg an einem Fluss und er hatte ein Fischernetz dabei. Das soll wohl dieses Gitter da auf dem Bild bedeuten, auf dem er steht. Obwohl das Netz auch anders ausgesehen hat: Die Maschen waren viel enger und es war auch insgesamt viel größer und schwerer. Aber er hat damit rumgemacht, als würde er es irgendwem verkaufen wollen, und er ist komisch hin und her getanzt. Er war wohl ziemlich stolz drauf. Er hat es nämlich selbst erfunden. Das hat er mir gesagt, bevor er vor dem Wagen abgehauen ist, der anscheinend von Ziegenböcken gezogen wurde. Oder so was Ähnlichem. Loki ist auf jeden Fall als Fisch geflüchtet und der Steg ist zusammengeklappt. Danach wäre ich zweimal fast ertrunken, aber nur fast.«

»Nur fast. Ah«, tönte es aus dem Professor. Und dann noch: »Äh … dann ist ja gut.«

Stille trat ein.

Mara realisierte, dass sie, abgesehen von der flammenden Rede vor dem Zweig, selten so lange am Stück geredet hatte. Wenn sie vor ihrer Klasse ein Referat halten musste, bekam sie oft nicht einmal einen zusammenhängenden Satz heraus. Und jetzt hatte sie so schnell gesprochen, dass ihr Mund kaum den Worten hinterhergekommen war.

Sie schaute den Professor an.

Sein Gesichtsausdruck hatte sich inzwischen geändert. Das Sofakissen war verschwunden. An dessen Stelle war der skeptische Blick eines Wissenschaftlers getreten, der gerade etwas aus dem Boden ausgegraben hat und nun überprüft, ob es sich um einen Römerhelm oder eine Coladose handelt. Mit einem Gefühl wachsender Unruhe stellte Mara fest, dass die Tendenz in Richtung Coladose ging.

»Nun gut, dann fangen wir doch mal an«, sagte der Professor etwas zu plötzlich, griff nach einem Buch, blätterte darin, fand, was er gesucht hatte, drehte sich wieder zu Mara herum und sprach in bestem Wissenschaftler-Tonfall: »Ein Haarknoten, sagst du? Bitte beschreib ihn genauer!«

»Na ja, wie ein Haarknoten eben aussieht. Nur halt über dem Ohr. Und aus einem Zopf gemacht.« Sie überlegte. »Es sah aus, als hätte er einen Zopf geflochten und dann einen richtigen Knoten reingemacht. Zumindest war da kein Haargummi oder eine Spange. Das Ganze hielt irgendwie von alleine direkt über dem Ohr.«

Der Professor blickte in sein Buch und flüsterte etwas. Mara war sich nicht sicher, ob sie es richtig verstanden hatte.

»Schwedenknoten?«, fragte sie.

Der Professor blickte auf. »Wie? Nein, nicht Schweden, sondern Sueben. Su-e-ben-knoten. Der sieht so aus.«

Nun hielt ihr der Professor die Fotografie eines Totenschädels mit rostroten Haaren entgegen, die tatsächlich exakt so geknotet waren wie die von Loki.

»Ja, genau so hat es ausgesehen, aber was ist denn ein Sueben?«, wollte Mara wissen.

»Suebe, ohne ›n‹. Nun, der hier auf dem Bild ist zum Beispiel einer«, antwortete der Professor. »Oder das, was von ihm übriggeblieben ist, nachdem ihm Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christus der Schädel eingeschlagen wurde, man ihn danach auch noch geköpft und anschließend im Moor versenkt hat. Die Säuren im Moor haben ihn aber konserviert wie eine ägyptische Mumie und darum trägt der Schädel noch seine Haare. Und ein Suebenknoten ist, wie der Name schon sagt, der Haarknoten, den man nach der germanischen Stammesgruppe der Sueben oder Sweben benannt hat. Von ihnen leitet sich auch der Name des Volkstammes der Schwaben ab.«


Mara begann, auf einem kleinen Zettel herumzumalen, und hoffte, dass Professor Weissinger so vielleicht bemerken würde, dass sie im Moment nur begrenzt an schwäbischen Volksstämmen interessiert war. Doch der sprach einfach weiter: »Die Sueben werden zum ersten Mal vor mehr als 2000 Jahren vom römischen Kaiser Julius Cäsar schriftlich erwähnt. Den kennst du vielleicht aus den Asterix-Comics. Wir nehmen heute an, dass auch andere Stämme solch einen Knoten getragen haben, aber ein römischer Historiker mit Namen Tacitus hat diese Art der Haartracht vor allem im Zusammenhang mit den Sueben im Jahr 98 nach Christus beschrieben.«

Okay, dachte Mara. Das hört sich doch alles schon mal ziemlich alt und lange her an. Passt doch irgendwie ganz gut zu einem germanischen Gott, oder?

Doch da fuhr der Professor seufzend fort: »Es tut mir also leid, dir sagen zu müssen, was das für deinen Traum bedeutet, Mara Lorbeer. Wenn du wirklich einen Mann mit einem Suebenknoten gesehen hast, dann war das ganz sicher nicht der alte Loki.«

Mara hatte plötzlich das Gefühl, als würden die Bücherstapel über ihr zusammenstürzen. Ihr Herz schlug pochend hinauf bis in den Hals.

»Das kann nicht sein!«, platzte es aus ihr heraus. Es klang gepresst, weil die Worte durch den gleichen Hals nach draußen mussten, der von ihrem wild klopfenden Herzen verstopft war. »Der Mann war Loki, und wenn der komische Dutt so heißt, wie Sie sagen, dann hatte Loki den am Kopf! Weil es Loki war! Auf einem ollen Steg auf einem blöden Fluss! Mit einem doofen Fischernetz! Und mit mir daneben!«

Mara war verzweifelt. Wütend. Auf den Professor. Ging es ihm etwa darum, ihr zu beweisen, dass sie nicht recht hatte? Was war denn das für ein Wissenschaftler, wenn er alles erst mal kaputtreden musste? Doch Mara war nicht die Einzige, die die Geduld verlor.

»An dieser Stelle scheint uns die Diskussion wohl ein wenig zu entgleiten, und du vergreifst dich auch im Ton, wenn ich das mal sagen darf!«, fuhr der Professor sie an. »Ich kann nichts dafür, wenn du Dinge träumst, die nicht dem Stand der Wissenschaft entsprechen. Noch einmal: Der Mann kann niemals Loki gewesen sein, denn mit dem Suebenknoten bist du mal eben ein paar hundert Jahre zu früh. Es gibt überhaupt keinen Nachweis aus dieser Zeit, dass damals schon irgendwer an Loki geglaubt haben könnte. Hier!«

Der Professor knallte ein sehr stark gebrauchtes Buch so auf den Schreibtisch, dass Mara von dem Knall zusammenzuckte. Zielsicher schlug er eine Doppelseite auf. Darauf war eine Steintafel abgebildet, auf der die grobe Zeichnung eines Gesichts zu erkennen war.

»Hier! Das ist Loki! Auf einem Stein aus Dänemark, 1000 Jahre nach Christi Geburt! Kein Suebenknoten! Und warum auch, denn Tacitus beschreibt den Suebenknoten ganze 900 Jahre zuvor! Und da bezieht er sich auch noch auf viel ältere Berichte! 900 Jahre später lief keiner mehr mit einem Suebenknoten herum. Nicht einmal dann, wenn er einen Hang zu längst vergangenen Modeerscheinungen hatte! Loki wird nirgends mit einem Suebenknoten abgebildet – ganz egal, wie trotzig du jetzt sagst, dass du das aber genau so gesehen hast!«

»Ich hab’s aber so gesehen«, sagte Mara trotzig.

Professor Weissinger wurde laut: »Das darf doch nicht wahr sein! Du bist ja starrköpfiger als alle meine Studenten zusammen! Weißt du was? Es spielt sowieso überhaupt keine Rolle, welche Frisur du dem alten Loki an die Rübe dichtest, denn wir wollen hier mal eines festhalten: Du kannst Loki nicht gesehen haben, und sag jetzt nicht habichaba – denn das hast du nicht! Loki ist eine mythische Figur aus den germanischen Göttersagen! Entstanden irgendwo zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert nach Christus. Und darum fischt dieser Halbgott ganz sicher nicht neunhundert Jahre zuvor verkleidet als suebischer Fischer irgendwo im Trüben rum!«

Der Professor kam jetzt richtig in Fahrt. Er sprang auf und nutzte die eineinhalb Meter zwischen seinem Stuhl und dem nächsten Bücherstapel, um aufgeregt hin und her zu laufen und zu sich selbst zu murmeln: »Kommt hier rein, erzählt mir, sie hat Loki gesehen, und wirft mal eben einfach so die Jahrhunderte durcheinander. Ja, wo kommen wir denn da hin, wenn sich jeder seinen Loki so zusammenbauen darf, wie er gerade möchte! Das hier ist ernsthafte Wissenschaft und kein Götter-Lego!«

»Aber«, sagte Mara und sprach gar nicht erst weiter, denn der Professor würde ihr sowieso gleich wieder ins Wort fallen. Wie recht sie doch hatte.

»Und wenn du aberst bis du schwarz wirst, macht es das alles nicht richtiger, zum Teufel noch mal!« Er tigerte in seinem kleinen Büro hin und her, wie man hier nur tigern konnte, wenn man wusste, wohin man den Fuß setzen durfte. Das Ganze wirkte dann zwar weniger tigerhaft als vielmehr storchengleich, aber das war dem Professor gerade ziemlich egal. »Ich habe keine Ahnung, was du gesehen hast, kleine Frau, und zugegeben: Ich weiß auch nicht, wo du das alles aufgeschnappt hast, aber dafür gibt es viele Erklärungen. Für Loki mit einem Suebenknoten gibt es aber nun mal weniger als null! Du hast dir da irgendwas in deinem Kopf zusammengebraut und durcheinandergebracht! Woher du all diese Mythen kennst, weiß ich nicht, aber dazu gibt es ja Bücher, Fernsehen und Internet!«

Professor Weissingers Gesicht war noch ein wenig röter geworden und er atmete auch etwas tiefer nach diesem Vortrag. Anscheinend wurde ihm erst jetzt wieder bewusst, dass er nicht vor seinen Studenten stand, sondern vor einem vierzehnjährigen Mädchen.

Und diesem Mädchen stiegen jetzt die Tränen in die Augen. Sie konnte doch auch nichts dafür und hatte zu keiner Sekunde darum gebeten, Visionen über germanische Götter zu haben. Mara hatte sich ganz andere Dinge gewünscht: dass sie sich unsichtbar machen könnte, wenn Larissa sie mal wieder auf dem Kieker hatte. Oder dass sich an ihrer Zimmertür ein dicker Pfannkuchen befände, durch den sich Mama erst einmal fressen musste, bevor sie hereinplatzte. Oder dass ihr Papa mal wieder anrufen würde. Was auch immer, auf jeden Fall wollte sie ganz sicher nie eine Seherin sein! Wenn überhaupt, dann das Gegenteil, denn Mara sah auch so schon viel zu viel, verdammt noch mal!

Warme Tränen liefen über ihre Wangen, als sie ganz leise sagte: »Ich schwöre, dass ich nicht lüge.«

Und plötzlich war es sehr still in dem kleinen Büro und man hörte nichts als das leise Schniefen eines vierzehnjährigen Mädchens.

Der Professor schaute zu, wie sie das Glas mit dem staubigen Wasser abstellte und sich dann wortlos umdrehte, um den Raum zu verlassen.

Umständlich stand er auf und sprach mit sanfter Stimme: »Ähm … es tut mir leid, ich wollte nicht … ich wollte dich nicht enttäuschen, aber was soll ich tun? Es passt einfach nichts zusammen. Vielleicht hast du all das tatsächlich irgendwo aufgeschnappt und durcheinandergebracht. In einem Buch vielleicht mit alten Göttersagen oder in einer Zeitschrift. Oder vielleicht hast du was im Fernsehen gesehen und bist eingeschlafen … oder …« Professor Weissinger legte die Hand auf Maras Schulter und fragte leise: »Willst du wirklich schon gehen?«

Mara nickte. Der Professor seufzte. Dann holte er seinen Schlüsselbund vom Tisch, musterte Mara dabei mit wachen Augen und sprach in sehr ruhigem Ton: »Liebe Mara Lorbeer. Ich gebe hiermit gerne zu, dass ich keine Erklärung dafür habe, wie du auf diese ganzen Dinge kommst. Und ich gebe auch zu, dass du mich ganz schön überrumpelt hast. Aber ich bin Wissenschaftler. Und ich glaube nun mal, dass es viele Erklärungen gibt, wie du darauf gekommen sein könntest. Es mag ja sein, dass du wirklich glaubst, das alles gesehen oder von mir aus erlebt zu haben, aber das ist nun mal völlig unmöglich. Bitte fang jetzt nicht wieder an zu weinen, ich meine es wirklich gar nicht böse.«

Was dachte sich dieser Professor eigentlich? Mara hatte gar nicht vorgehabt zu weinen! Doch sie sagte nichts, sondern hörte weiter zu, als er fortfuhr: »Schau mal, wenn man so will, ist deine Geschichte sogar noch unwahrscheinlicher als eine Zeitreise in die Vergangenheit, und selbst das ist nach dem momentanen Stand der Wissenschaft nicht möglich. Aber nehmen wir mal an, du wärst wirklich in der Zeit zurückgereist, dann ergibt es trotzdem keinen Sinn – denn du erzählst ja nichts, was irgendwann einmal wirklich passiert ist! Du behauptest, du siehst Gestalten und Situationen aus den alten Sagen rund um die germanische Götterwelt. Das ist, als würdest du mir erzählen, dass du gesehen hast, wie Aschenputtel den goldenen Schuh verlor. Und dann beschreibst du mir Aschenputtel aber nicht als Prinzessin oder Bauernmagd, sondern wie einen Steinzeitmenschen, verstehst du? So wie du Loki auf eine Art und Weise beschreibst, die absolut nicht zu der Zeit passt, in der er gelebt hat. Ach, was red ich denn da, er hat eben nie gelebt! Du machst mich ganz wirr im Kopf!« Professor Weissinger holte tief Luft und ließ sie dann besonders langsam entweichen. Erst dann setzte er in ruhigerem Ton nach: »Du musst doch verstehen, dass das für mich als Wissenschaftler wirklich schwierig ist.«

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Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
364 s. 41 illüstrasyon
ISBN:
9783964260406
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