Kitabı oku: «Kreative Leibtherapie», sayfa 8
2.5 Das ungelebte Leben
Viktor von Weizsäcker begründete die anthropologische Medizin, eine kleine, aber rege Strömung neben dem Mainstream der ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten Medizin. Seine Grundhaltungen und Theorien sind in weiten Bereichen mit der Leibphänomenologie deckungsgleich oder ähnlich, auch wenn er Begrifflichkeiten der Leiblichkeit nicht verwendet und sich nur am Rande auf die phänomenologische Tradition bezieht. Bekannt wurde er durch seine Forderung nach der „Wiedereinführung des Subjekts” in die Biologie (Weizsäcker 1997b, S. 83) und durch Sätze wie: „Es gibt keine Krankheiten, es gibt nur kranke Menschen.” (zitiert nach Hanses 1996, S. 94) oder seinen berühmten ersten Satz des Vorwortes zu seinem „Gestaltkreis”: „Um Lebendes zu erforschen, muss man sich am Leben beteiligen.” (1997b, S. 83)
Als besonders wertvoll für die Praxis der Kreativen Leibtherapie erwiesen sich Weizsäckers Überlegungen zum biografischen Prozess und dessen Zusammenhang mit dem Krankheitsgeschehen. Weizsäcker meint, dass „Krankheiten an Wendepunkten biografischer Krisen stehen oder in die schleichende Krise eines ganzen Lebens eingeflochten sind” (1986a, S. 329). Mit dieser Aussage verallgemeinert er meiner Meinung nach unzulässig (man kann sich ein Bein brechen, weil man stürzt, ohne dass dies Ausdruck einer biografischen Krise ist), aber er wendet sich damit zumindest gegen die Abtrennung des Körpers und der Medizin von der Persönlichkeit und der persönlichen Entwicklung. In der Biografie sieht er „so etwas wie einen gemeinsamen Boden für den körperlichen, seelischen und geistigen Anteil der menschlichen Person.” (a.a.O.) Zentraler Begriff für sein Konzept der Biographik wurde der Begriff des „ungelebten Lebens”, den ich wegen seiner ihm innewohnenden sprachlichen und bildhaften Kraft sehr wertschätze. Der Begriff wurde schon vor ihm in der Belletristik mehrfach verwandt und von Karl Jaspers in die Psychopathologie eingeführt. Weizsäcker nutzt ihn systematisch, um sein Krankheitsverständnis auszuführen. Das ungelebte Leben ist nicht faktisch und als solches nicht im Sinne des naturwissenschaftlichen Denkens erfahrbar, messbar, beschreibbar – aber nichtsdestoweniger von großer Wirksamkeit, denn es ist Teil des Prozesses der Leiblichkeit.
„Die unrealisierten Möglichkeiten, das ungelebte Leben ist die Kraft, die das Leben vorwärtstreibt, zu sich, und das heißt: über sich hinaus.” (Weizsäcker 1988, S. 248) Aus Krankheitsgeschichten, oder besser: Geschichten von Kranken, entwirft Weizsäcker Bilder von Menschen, die Bedürfnisse und Wünsche, Gefühle und Hoffnungen nicht ausgelebt haben. Diese Lebensregungen blieben ungelebt und werden lebendig in Erkrankungen. Der Begriff des ungelebten Lebens geht über die aus der Psychoanalyse bekannte Verdrängung hinaus.
„So wie Weizsäcker das Ungelebte in seinen Wirksamkeiten zu umschreiben versucht, besteht es für ihn aber keineswegs nur aus der Möglichkeit der Unterdrückung lebendiger Impulse und vitaler Interessen. Es ist für ihn genauso ein Nicht-Wahrnehmen von Möglichkeiten und eine ,Nicht’-Gestaltung eigener Lebensgeschichte.” (Hanses 1996, S. 102)
In seiner „Pathosophie” führt Viktor von Weizsäcker mehrere Beispiele an, wie Ungelebtes bei Patientinnen und Patienten zu Krankheiten führen kann (erotische Kränkung, unterdrückte Wut usw.). In der Begründung seiner Lehre der Wirksamkeit der Biografie für die Entstehung von Krankheiten („Biographik”) verabsolutiert er allerdings: „Die Krankheit soll, und zwar ausschließend, als Wirksamkeit des Ungelebten und als Verwirklichung des Unmöglichen eingesehen werden.” (S. 249) Die „Behauptung, dass nicht das Gelebte, sondern das Ungelebte allein wirksam ist”, teile ich ganz entschieden nicht. Selbstverständlich kann es andere Ursachen von Krankheiten geben und selbstverständlich kann chronischer Druck infolge von Traumata durch Krieg oder andere Gewalt, können Verachtung und Erfahrungen von Leere zu Krankheiten führen. Krankheiten fest und ausschließlich mit biografischen „Ursachen” zu verknüpfen, ist aber der Nährboden für die Fülle von Schuldgefühlen, denen wir bei Menschen begegnen, die z. B. an Krebs oder anderen schweren Erkrankungen leiden (Baer, Frick-Baer 2011). In der individuellen therapeutischen Begleitung biografischen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, ist etwas anderes, als Krankheiten und psychosoziale „Ursachen” in „Wenn-dann-Verbindungen” zu verknüpfen.
Doch als richtig und fruchtbar beziehe ich von Viktor von Weizsäckers Ansatz in die Kreative Leibtherapie ein, dass in all den biografischen Erfahrungen nicht nur das gelebte, sondern auch das ungelebte Leben sich in Leiden niederschlagen kann. Die Geburt eines Kindes kann das Leben verändern, die Unmöglichkeit, ein Kind zu bekommen, auch.
Im Leben bleibt immer vieles ungelebt. Jede Entscheidung, z. B. für eine Berufsausbildung oder eine geliebte Person, schließt andere aus. Jeder Entscheidung liegt eine Wahlmöglichkeit zugrunde – und jede Entscheidung engt weitere Wahlmöglichkeiten ein. Solche Entscheidungen verringern die Menge lebbaren Lebens, sind aber kein Ende der Wahlmöglichkeit, kein Ausschluss der Offenheit. Die dem Menschen zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeiten sind auch Möglichkeiten lebbaren Lebens: „Die Fülle ungelebten Lebens übertrifft in unvorstellbarem Maße das kleine Stück des wirklich Gelebten und Erlebten.” (Weizsäcker 1997b, S. 277)
Viele Menschen kennen Wendepunkte. Solche Wendepunkte können Entscheidungen für Sackgassen sein, Verzicht auf eine Liebe oder einen beruflichen Traum. Wendepunkte können aber auch in Paulus-Situationen bestehen, in Erweckungen, in denen Altes über Bord geworfen und Ungelebtes lebendig wird. Therapie ist ebenfalls ein Wendepunkt, wird zumindest als Wendepunkt gesucht, in dem und durch den ungelebtes Leben lebendig werden kann.
In unserer therapeutischen Arbeit hat sich der Ansatz Albert Zachers (Zacher 1988), die Modalitäten, in denen Leben ungelebt bleibt, zu differenzieren, als hilfreich und weiterführend erwiesen. Er unterscheidet zwischen Verzichten, Verwerfen, Versäumen und Verpassen (1988, S. 68ff). Diese Begrifflichkeiten werden nicht mit allen Varianten der Alltagssprache deckungsgleich verstanden, sondern mit ihnen werden unterschiedliche Aspekte ungelebten Lebens definiert. In der therapeutischen Arbeit nutzen wir die Bezeichnungen der unterschiedlichen Modalitäten vor allem als resonanzfördernde Begriffe, die von den Klient/innen unterschiedlich gefüllt werden.
Menschen verzichten, wenn sie etwas unterlassen, das sie tun könnten. Ein Verzicht ist meist damit verbunden, dass einem Menschen das Unterlassen schwer fällt. Verzicht kann auch ein Erziehungsleitspruch sein und als Tugend ein Leben bestimmen. Auch das Verwerfen ist eine aktive Handlung. Man verwirft Möglichkeiten, die unattraktiv sind, die man zwar erwägt, die aber aufgrund vielleicht persönlicher, vielleicht finanzieller oder anderer Gegebenheiten ungeeignet für das weitere Leben erscheinen. Das Versäumen und das Verpassen ähneln sich, weil es bei beiden darum geht, dass eine Gelegenheit vorbeigeht, die, hätte man sie ergriffen, das Leben zumindest in Teilbereichen anders gestaltet hätte. Der Unterschied besteht in den Möglichkeiten des Zugriffs. Das Versäumen beinhaltet eine aktive Haltung, man hat zu lange gezögert, zu lange überlegt und dann war die Gelegenheit vorbei. Etwas zu verpassen, geschieht zumeist eher passiv, wenn keine subjektive Möglichkeit besteht. Man kann den Zug verpassen, weil das Auto auf dem Weg zum Bahnhof im Stau stecken geblieben ist. Dies war keine Folge der inneren Entscheidung, sondern eine durch äußere Umstände verpasste Gelegenheit.
Otto Bollnow unterscheidet etwas anders: „Nur das Versäumte kann man nachholen, ja die Möglichkeit des Nachholens ist nicht an einen bestimmten Augenblick gekoppelt, sondern ist jederzeit möglich. Das Verpasste dagegen ist unwiederbringlich dahin. Es gibt in diesem Sinne verpasste Gelegenheiten. Diese kann der Mensch nicht wieder heraufholen, er kann nur hoffen, dass sich eine ähnliche Gelegenheit später noch einmal bieten wird. Aber das steht nicht in seiner Macht.” (Bollnow 1963, S. 230)
In der therapeutischen Arbeit wurde und wird deutlich, dass der Begriff des ungelebten Lebens und die Vorstellung, dass Ungelebtes leben möchte, für viele Klient/innen sehr fruchtbar ist. Auch die differenzierenden Begriffe Zachers können bei angemessener Begleitung intensive Prozesse der Veränderung in Gang setzen. Die Konkretisierung der Art und Weise, wie Leben ungelebt blieb, hilft ihnen (und den Therapeut/innen), leibliche Haltungen, Verhaltensweisen und Umgebungen, aus denen heraus zu viel aus dem Leben gedrängt wurde, so zu verändern, dass sie in ihrem zukünftigen Leben größere Wahlmöglichkeiten ergreifen können.
Aufgreifen möchte ich noch einen Gedanken von Thomas Fuchs zum ungelebten Leben. Er beschreibt ein Phänomen, dem wir in der therapeutischen Arbeit häufig begegnen: dass Menschen ihre lebendigen Impulse der Leiblichkeit nicht entfalten können, dass etwas „zwischen” ihnen und „dem Leben” steht: „Doch es gibt noch eine andere, schwer erkennbare Form des Ungelebten. Vielen Menschen wird erst spät klar, dass sie große Teile ihres Lebens gelebt haben, ohne sie wirklich zu erleben – dass sie einfach an ihnen vorbei gegangen waren ohne Achtsamkeit und tiefere Anteilnahme, so als wäre eine Glasscheibe zwischen ihnen und dem Leben.” (Fuchs 2008b, S. 226) Die kreativen Möglichkeiten der Kreativen Leibtherapie und die vielfältigen Begegnungserfahrungen zwischen Klient/innen und Therapeut/innen können hier neue Verbindungen zwischen Person und Leben eröffnen.
Alfred Zacher nennt noch weitere Möglichkeiten, in denen Ungelebtes entstehen kann und die ich für bedeutsam halte. Das Verwerfen, Versäumen, Verpassen und Verzichten setzt eine konkrete Möglichkeit voraus. Der Junge aber, der ohne Vater aufgewachsen ist, hat weder auf den Vater verzichtet noch ihn verworfen, auch keine Gelegenheit, mit einem Vater zu leben, versäumt oder gar verpasst. Mit einem Vater aufzuwachsen, war für ihn eine „leere Möglichkeit”. Der Begriff „leere Möglichkeit”, den Zacher von Ludwig Binswanger übernimmt, beschreibt Möglichkeiten, die real und konkret nicht gegeben waren, die aber in der Regel als fantasierte Möglichkeiten im Klienten oder der Klientin lebendig sind. Auch wenn der zitierte Junge keine reale Möglichkeit hatte, mit einem Vater groß zu werden, kannte er diese Möglichkeit doch von anderen Kindern. Er fantasierte sie, träumte von ihr – die „leere Möglichkeit” wurde so für ihn ein „imaginiertes ungelebtes Leben”, das in seinem Erleben dennoch lebendig war. In solchen Fällen ist es in der Therapie nicht sinnvoll, die besonderen Modalitäten, wie Leben ungelebt bleibt, zu untersuchen und gegebenenfalls zu verändern, sondern es gilt, eine differenzierte Haltung zu den geträumten Möglichkeiten ungelebten Lebens zu entwickeln.
Ein junger Mann mit massiven Leereerfahrungen improvisierte am Klavier. Mit zwei Fingern probierte er suchend die einen oder anderen Töne und Tonfolgen aus. Dann wurden die Töne vereinzelter, die Pausen zwischen den Tönen wurden länger, die Leere trat in den Vordergrund. Dann entwickelten sich kräftige tiefe Töne in einem marschierend wirkenden Rhythmus, allmählich lauter werdend und energisch ...
Er erzählte, dass er als Junge, wenn er allein und einsam war, oft davon geträumt hatte, als Soldat der Fremdenlegion durch den Dschungel zu marschieren und Menschen zu retten. Er war in seinen Träumen Unteroffizier und Teil einer „verschworenen Truppe”, die viele Abenteuer durchlebte und in der jeder jedem half.
Auf der einen Seite äußern sich im Erträumten und im Vorgang des Erträumens ein Lebenswille und eine Kraft, die nutzbar und jeder Unterstützung wert sind. Auf der anderen Seite enthält die erträumte Möglichkeit auch die „leere Möglichkeit”, also das, was im Leben real nicht vorhanden war. Um sich der ersehnten Wirksamkeit, Verbundenheit und Zugehörigkeit nicht nur in den Träumen zu nähern, galt es, konkrete Schritte im Hier und Jetzt zu entwickeln.
2.6 Person: Leiblichkeit und Exzentrizität
Thomas Fuchs hat das phänomenologische Verständnis der Leiblichkeit ausgeweitet zu einer Anthropologie (= Menschenkunde), indem er unter Bezugnahme auf Hellmuth Plessner eine leibphänomenologische Theorie der Person entwickelt hat. Der Begriff der Person geht philosophisch über die Leiblichkeit hinaus und schließt eine Kategorie ein, die noch nicht behandelt wurde, die Exzentrizität.
Die meisten Überlegungen zur Leiblichkeit, auf die ich mich bislang bezogen habe, betreffen das Spüren, Wahrnehmen und Erfahrungen im vorreflexiven Bereich: Ich spüre z. B., dass ich einen anderen Menschen liebe; ich nehme mein Gefühl, meine Erregung, mein Herzklopfen, mein Hingezogensein wahr. Ich kann dies in Worte fassen und beschreiben, doch dieses Erleben ist vorhanden, auch ohne oder bevor ich es formuliere oder darüber nachdenke. Es ist präreflexiv.
Mit dem Nachdenken über meine Verliebtheit durchbreche ich die ausschließliche Perspektive aus mir, aus meinem Erleben heraus. Ich nehme eine zusätzliche Position ein, die exzentrische Position. Ich betrachte mich aus einer Perspektive außerhalb (ex) von mir und reflektiere über den Menschen, der verliebt ist. „Exzentrizität bedeutet die Rückbeziehung eines leiblichen Erlebens auf das erlebende Subjekt.” (Fuchs 2000a, S. 265) Plessner sieht in dieser Fähigkeit, Abstand zu seinem erlebenden Zentrum zu nehmen, eine Besonderheit menschlicher Existenz. „Exzentrische Positionalität versucht die Sonderstellung des Menschen als eines Lebewesens zu fassen. Leben im Sinne von Belebt-Sein besagt Eigenständigkeit im Verhältnis zu dem Milieu, dem der belebte Körper angehört.” (Plessner 2003, S. 390)
Die Exzentrizität führt zum Innehalten (dem wir schon bei der Leibqualität der Zeitlichkeit begegnet sind). Aus der bloßen Leiblichkeit heraus entsteht mein Impuls, meine Liebe der geliebten Person zu zeigen, sie anzuschauen, anzusprechen, in den Arm zu nehmen usw. Doch die Exzentrizität lädt dazu ein, davor bzw. dabei innezuhalten: Ich überlege vielleicht, ob ich wirklich verliebt bin, ob ich es wagen kann, meine Liebe zu offenbaren, ob dies der richtige Zeitpunkt ist usw. „Erst mit der Möglichkeit des Innehaltens vor der Aktion entsteht die Möglichkeit und die Not menschlicher Freiheit.” (Fuchs 2000a, S. 286)
Wenn ich über mein Verliebtsein nachdenke, kommt dieser Aspekt zum Verliebtsein hinzu. Beide Aspekte vollziehen sich gleichzeitig und ineinander verwoben. Mag der eine oder andere der beiden in einem Moment in den Vordergrund treten – alle leiblichen Regungen enthalten das Potential der Exzentrizität und umgekehrt: „Die Exzentrizität geht in alle wahrnehmenden, vorstellenden, fühlenden und handelnden Vollzüge mit ein als ein ‚Innesein‘.” (Fuchs 2000a, S. 273) Exzentrizität ist folglich bei weitem nicht nur ein Aspekt des Kognitiven, sondern kann alle Aspekte der Leiblichkeit umfassen. Ein Mensch kann innehalten aus Furcht vor den Folgen seiner Liebe oder aus moralischen Erwägungen. Seine Erregung kann so hoch sein, dass sie den Fluss seiner unmittelbaren Leiblichkeit blockiert usw. Die Exzentrizität kann leibliche Qualitäten enthalten, aber solche in der besonderen Weise des Heraustretens oder Innehaltens aus der unmittelbaren Leiblichkeit.
Exzentrizität ist also keineswegs mit den in Kapitel 2.1 beschriebenen Spaltungen gleichzusetzen. Das Heraustreten aus der unmittelbaren Leiblichkeit kann zu Abspaltungen des Erlebens führen, muss es aber nicht. Eine Abspaltung beinhaltet ein Unverbundensein, Exzentrizität ist eine andere Haltung des Erlebens innerhalb eines Verbundenseins.
Das Verständnis der Exzentrizität ist in der Kreativen Leibtherapie diagnostisch sehr wertvoll. Zum einen leiden manche Menschen darunter, dass ihnen die Fähigkeit der Exzentrizität abhanden gekommen ist. Dem begegnen wir Therapeut/innen oft bei Menschen mit Demenz oder Klient/innen mit geistigen Behinderungen, manchmal auch bei Persönlichkeitsstörungen. Andere stecken in der Exzentrizität „fest”. Viele Impulse der Lebendigkeit werden geschwächt oder gar begraben unter moralischen oder „vernünftigen” Erwägungen, Selbstreflektion tritt an Stelle der unmittelbaren Leiblichkeit.
Die Doppelungen zwischen unmittelbarer Leiblichkeit und Exzentrizität machen die Person aus. Zur Person gehört einerseits die unmittelbare Leiblichkeit: „Personen gehören zu den Wesen, die eine ‚Innenseite‘ haben, das heißt, die ‚erleben‘.” (Spaemann 2006, S. 57) Und andererseits die Fähigkeit zur Exzentrizität: „Personen sind Wesen, die nicht einfach sind, was sie sind, sondern die sich zu sich selbst verhalten können.” (Fuchs 2003, S. 136)
Grafik 6

Wenn wir dieses Verständnis von Person ernst nehmen, hat das Konsequenzen für die Therapie. Therapie darf sich dementsprechend nicht nur auf die unmittelbare Leiblichkeit und ebenfalls nicht nur auf die exzentrische Positionierung des Menschen beziehen, sondern auf beide Aspekte der Person. Sicherlich gibt es Leiden der Menschen, welches vorrangig im Bereich der Exzentrizität angesiedelt werden kann: Verzerrungen und Einschränkungen des Denkens über sich und die damit verbundenen Verhaltensmuster. Dazu haben die kognitive Psychologie und Verhaltenspsychologie sowie -therapie zahlreiche Beiträge geliefert. Die Bibliotheken sind voll davon – zu kurz kamen und kommen dagegen Untersuchungen der leiblichen Aspekte der Person und vor allem der Verschränkungen von Leiblichkeit und Exzentrizität.
Gedanklich können wir Leiblichkeit und Exzentrizität trennen und z. B. die Liebe vom Denken über die Liebe oder das reflektorische Selbstbewusstsein vom Spüren der leiblichen Regungen. Doch solche Konstrukte tun auf Dauer dem Verständnis des Menschen und damit auch dem ihres Leidens Gewalt an. „‚Person‘ heißt die lebende, erlebende und selbstbewusste Einheit, die wir als Menschen jeweils sind.” (Fuchs 2000a, S. 274) Das Bewusstsein des Menschen und sein „Geist” treten nicht zu seiner Leiblichkeit hinzu oder sind ihr gar übergeordnet, sondern „durchdringen (sie) fortwährend” (a.a.O.) und zeigen sich auch im Bewusstsein.
Daraus folgt: Therapie, die die Leiblichkeit würdigt, ist notwendig, um die Personen und Persönlichkeit des Menschen in all ihren Aspekten zu würdigen. Kreative Leibtherapie meint und bezieht sich auf alle Aspekte der Person. Die etwas stärkere Betonung des Primärleiblichen in diesen Ausführungen ist dem Nachholbedarf in der therapeutischen Theoriebildung und Praxis geschuldet und Ausdruck der Gegenbewegung gegen die Einseitigkeiten kognitiver, konstruktivistischer und behavioristischer Therapiekonzepte.
Noch einmal: Die Begründung des leibtherapeutischen Konzeptes liegt in dem Verwobensein von primärer Leiblichkeit und Exzentrizität. „Leib und Person stehen in einer dialektischen Beziehung: Personales Selbstbewusstsein basiert einerseits auf der Ursubjektivität des Leibes, auf dem leiblichen Selbst; andererseits hebt es die primäre Zentralperspektive des Leibes auf zu Gunsten einer allgemeinen, den Anderen mit einbeziehenden Perspektive.” (Fuchs 2000b, S. 64) Wer einen der beiden Aspekte aus dieser dialektischen Beziehung herauslöst, amputiert einen Teil der Menschlichkeit. Der Mensch ist beides, sein Leid betrifft immer auch sein Erleben, und er bedarf deshalb einer therapeutischen Hilfe, die auf einem Verständnis der Leiblichkeit beruht und das Erleben der Klient/innen theoretisch und praktisch einbezieht.
2.7 Person: Lebenswelt und Selbstbewusstsein
Das Wort „Selbstbewusstsein” kann zu einer Täuschung verleiten. Es meint das Bewusstsein, das ein Mensch von sich selbst hat – doch das impliziert nicht, wie oft angenommen, dass das Selbstbewusstsein nur aus dem Menschen selbst heraus entsteht. Unsere therapeutischen Erfahrungen belegen das Gegenteil. Zum Beispiel kommen Menschen mit Erfahrungen sexueller Gewalt selten ausdrücklich wegen ihrer traumatischen Erfahrungen in die therapeutische Behandlung, sondern zumeist wegen ihres zu geringen Selbstbewusstseins, beschrieb meine Frau Gabriele Frick-Baer ihre langjährigen Erfahrungen als Traumatherapeutin (2009). Die Erfahrung sexueller Gewalt ist eine Beziehungserfahrung, ein Erleben gewalttätiger zwischenleiblicher Interaktion. Diese soziale Erfahrung mündet in eine scheinbar individuelle Eigenschaft: das Selbstbewusstsein. Die Leibphänomenologie hat solche auch in anderen Kontexten anzutreffende Zusammenhänge zwischen dem Selbstbewusstsein und Erfahrungen der Lebenswelt untersucht, die einer näheren Betrachtung wert sind.
Beginnen wir damit, uns einige Begrifflichkeiten genauer anzuschauen. Selbstbewusstsein ist der Sammelbegriff für die Vorstellungen eines Menschen über sich und gleichzeitig die Haltung, die ein Mensch gegenüber anderen einnimmt („Sie tritt mit Selbstbewusstsein auf.”). Selbstbewusstsein ist nicht nur Ausdruck der unmittelbaren Leiblichkeit, sondern – wie das Wort „Bewusstsein” sagt – geht darüber hinaus.
Ich habe im vorherigen Abschnitt die Exzentrizität als das Heraustreten aus der unmittelbaren Leiblichkeit, als Schritt zur Person beschrieben. Unmittelbare Leiblichkeit und Exzentrizität machen zusammen die Person aus. In beiden personalen Aspekten sind Begegnung und Beziehung enthalten: Zur unmittelbaren Leiblichkeit gehört das Voneinander-Spüren, was sich in Resonanzen, gemeinsamen Atmosphären, unwillkürlichen Aktionen und Reaktionen des Körpererlebens wie in der sexuellen Begegnung und anderem mehr äußert. Dies wurde als Zwischenleiblichkeit in Kapitel 2.2.9 beschrieben. Über die präreflexive Zwischenleiblichkeit hinaus ist auch das Bewusstsein mit der Lebenswelt eines Menschen verbunden. Es wird von anderen Menschen beeinflusst und strahlt in die Welt hinaus. Darüber hinaus hat auch die Exzentrizität hat eine soziale Komponente. Sie kann angestiftet oder erzwungen sein von anderen; in die exzentrische Positionierung fließen immer auch soziale und vor allem Begegnungserfahrungen mit ein. Wird die leibliche Begegnung als Zwischenleiblichkeit bezeichnet, so wird der darüber hinausgehende Austausch zwischen Personen als Interpersonalität bezeichnet.
Zur Interpersonalität gehört eine ganz besondere Qualität, die entscheidend dafür ist, dass und wie sich Selbstbewusstsein entwickeln kann: Menschen können sich in andere hineinversetzen und sind in der Lage, sich auch aus der Perspektive der anderen zu sehen. Dieser Prozess beginnt etwa im dritten Lebensmonat mit dem Zeigen. Kinder zeigen auf einen Gegenstand und folgen mit dem Blick dem zeigenden Finger der Mutter. Daraus lernen sie, auf die Intentionalität der Bewegung der Mutter zu schließen, auf ihre Absichten und die Bedeutung ihres Handelns. Der gemeinsame Bezug auf etwas Drittes ist der Anfang der Entwicklung der Fähigkeit, andere Menschen, ihre Beweggründe und Absichten zu verstehen.
Ein 8 Monate altes Kind wird müde. Die Mutter zeigt auf sein Bett. Das Kind folgt dem Blick und entnimmt daraus, dass die Mutter es ins Bett stecken möchte. Es schmiegt sich an die Mutter (oder es meckert und wehrt sich)...
Diese Entwicklung setzt sich mit der Erfahrung des „Nein” der anderen fort, vor allem nachdem Kinder gelernt haben, zu laufen, und sich in gefährliche Situationen begeben können. Die Kinder nehmen das Nein wahr, und sie identifizieren sich spielerisch mit den Nein-sagenden Erwachsenen. Das Nein der Eltern wird im Spiel aufgegriffen und der Puppe oder dem Teddy gegenüber geäußert. Durch solche und andere Erfahrungen erwerben Kinder spielerisch die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Meist ist dieser Lernprozess bis zum zwölften Lebensjahr abgeschlossen. Der Sozial-Anthropologe Michael Tomasello sieht in dieser Kompetenz die Haupterklärung dafür, dass Menschen anders einander verstehen und vor allem voneinander lernen können als Primaten. Ob diese Gewichtung im Vergleich Menschen und Schimpansen angemessen ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Nachvollziehbar ist, dass die Fähigkeit zur Identifikation mit anderen ein wichtiger Bestandteil menschlicher Entwicklung ist und die Persönlichkeitsentwicklung prägt und fördert. Interpersonalität enthält also über die Zwischenleiblichkeit und den Austausch exzentrischer Positionierungen hinaus die Komponente spielerischer Identifikation.
Wir nutzen deshalb die Fähigkeiten der Identifikation in der Kreativen Leibtherapie. Sie ist vor allem wichtig für die Entwicklung des Selbstbewusstseins. Denn Menschen übernehmen nicht nur etwas von denen, mit denen sie sich identifizieren: Sie lehnen auch ab, vergleichen, bewerten, entwickeln Eigenes. Kinder erfahren die anderen in der spielerischen Identifikation als ihnen ähnlich und gleichzeitig als fremde, unterschiedliche Wesen. Weil die anderen ihnen ähnlich sind, können sie sich in sie hineinversetzen, und weil sie unterschiedlich sind, enthält die spielerische Identifikation für die Kinder einen Reiz, etwas Neues zu wagen. Die Kinder werden andererseits von anderen Menschen gespiegelt und sehen sich so in den Augen der anderen und in deren Bewertungen. Sie spüren ihre Grenzen am Widerstand der anderen und reiben sich an dem Anderssein (diese Erfahrungen fließen ein in das Modell der Tridentität, s. Big Ten, Kap. 4.9). Der leiblichen Eigenerfahrung wird die Erfahrung mit den anderen und die Erfahrung des Blicks der anderen aus deren Perspektive hinzugefügt. „In dieser internalisierten und fortdauernden Wechselbeziehung konstituiert sich und besteht das Selbstbewusstsein.” (Fuchs 2000a, S. 292)
Selbstbewusstsein ist also keine Eigenschaft, die angeboren ist oder im Menschen aus ihm selbst heraus entsteht. Selbstbewusstsein ist Ergebnis sozialer Erfahrung. Wenn Menschen nicht die Fähigkeit erwerben, sich in andere hineinzuversetzen, oder diese Fähigkeit durch Gewalt- und Leere-Erfahrungen verloren haben, werden sie nur eingeschränkt soziale Lernerfahrungen machen können und große Probleme in ihren sozialen Beziehungen und in ihrem Selbstbewusstsein haben. Im anderen Extrem gibt es zahlreiche Menschen, die gezwungen wurden, ausschließlich die Perspektive und Haltung anderer zu ihrer eigenen zu machen. Sie verlieren damit ihre Meinhaftigkeit und Subjektivität und so auch ihre Einzigartigkeit, die in ihrem Leibsein begründet ist.
Die erste Konsequenz besteht darin, dass Kreative Leibtherapie dazu beitragen muss, beide Aspekte des Selbst zu integrieren: sowohl das Selbst, das als Leib-Selbst aus dem Spüren des leiblichen Eigenraums entstanden ist, als auch das Selbstbild, das primär aus Erfahrungen der Interpersonalität, z. B. von Identifikationen mit anderen oder Spiegelungen durch andere (und die kritische Auseinandersetzung damit) genährt wurde.
Kreative Leibtherapeut/innen bemühen sich in diesem Sinne um das Selbstbewusstsein ihrer Klient/innen. Sie setzen im therapeutischen Prozess bei den einzelnen Personen Schwerpunkte auf den Bereich, in dem es individuell ein Zuviel oder ein Zuwenig gibt. „Die Entwicklung der Person wird erst vollständig, wenn sie den körperlichen und rollenhaften Außenleib in den gespürten Leib reintegriert und so ‚Ideal und Leben‘, ‚Schein und Sein‘ miteinander versöhnt. Für diese Integration steht traditionell das Herz als Organ des Selbst (...); ein Organ, das als leise, aber leiblich spürbare Stimme kundgibt, wo es mich hinzieht, was mich abstößt, mir Unbehagen bereitet, wo ich mit mir im Reinen oder Uneins bin. Erst das gefühlte Leib-Selbst vermag dem außenorientierten Selbstbild eine authentische Basis zu geben und so das autonome Selbst zu begründen.” (Fuchs 2000a, S. 295/6)
Die zweite Folgerung aus dem Gesagten besteht darin, dass es keine Person ohne zwischenleibliche und ohne soziale Erfahrung gibt. Deswegen wohnt auch jedem Leiden wie auch jedem Heilen ein Beziehungsaspekt inne. Jedes Leiden ist zumindest auch aus Beziehungserfahrungen entstanden, und deswegen muss therapeutische Begleitung immer den Beziehungsaspekt beachten und thematisieren. Gerade weil Therapie ein Beziehungsangebot ist, kann Therapie heilend wirken.
Die Konsequenz für die Kreative Leibtherapie liegt darin, dass bei allen Phänomenen, unter denen Klient/innen leiden und die als scheinbar individuelle Eigenschaften, Deformierungen oder Verhängnisse vorgestellt werden, versucht werden sollte, die zwischenleibliche und interpersonale Entstehungsgeschichte solcher Phänomene zu erkunden und sie zum Thema der therapeutischen Begleitung zu machen. Das anfangs erwähnte geringe Selbstbewusstsein einer Frau mit der Erfahrung sexueller Gewalt ist keine individuelle Eigenschaft oder „Störung”. Diese Frau wurde durch die traumatische Erfahrung gestört und verstört, und die Verringerung ihres Selbstbewusstseins ist ein Produkt dieser Erfahrung.
Die therapeutische Begleitung enthält eine Schnittmenge zu den beschriebenen Qualitäten der Interpersonalität: Sie ist selber Beziehung und birgt daher die Chance, für die Klient/innen neue zwischenleibliche und interpersonale Erfahrungen zu machen.
Im musikalischen Dialog zwischen einer traumatisierten Klientin und ihrer Therapeutin können Erlebenserfahrungen des Trostes anklingen, die die Klientin nach der Erfahrung sexueller Gewalt vermisst hat. Jedes therapeutische Gespräch, jeder Blickkontakt, jedes dialogische Malen ist ein Angebot, neue Beziehungserfahrungen zu erleben.
Die therapeutische Erfahrung von Interpersonalität kann Selbstbewusstsein verändern und die Wahlmöglichkeiten innerhalb der sozialen Interaktionen der Klient/innen erweitern. Dies wird möglich durch den Doppelcharakter der zwischenleiblichen und interpersonellen Erfahrungen in der therapeutischen Bezie-hung: In ihr werden verletzende Beziehungserfahrungen wieder lebendig und es können gleichzeitig neue und verändernde Erfahrungen gemacht werden. Das ist der Grund, warum therapeutische Beziehung heilend wirken kann. Deswegen sagen wir: Kreative Leibtherapie ist Beziehungstherapie.
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