Kitabı oku: «Endstation Salzhaff», sayfa 2

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Kapitel 3
Chili con Carne

Dr. Brandenburg saß mit seiner Frau Anna im Wohnzimmer beim Abendbrot. Eine App schickte die gewünschte Musik für den Hintergrund auf das Soundsystem.

»Erstaunlich, was die kleinen Dinger so leisten«, sagte er vermischt mit Schmatzgeräuschen bei vollem Mund.

»Was für Dinger?«, entgegnete seine Frau.

»Na, die Lautsprecher da!«, mampfte er zurück.

»Woher soll ich wissen, was du meinst?«

»Wir reden die ganze Zeit nix und hören Musik. Gerade eben Leonard Cohen »You want it darker.« Die Bässe, unglaubliche Wiedergabe. Du hast eben sogar erstaunt innegehalten, als er sang »I’m ready my lord.« Da ist es doch klar, was ich meine!«

»Das hättest du wohl gern?«

»Was?«

»Dass ich immer sage ›hier my lord und da my lord und I’m ready my lord‹?«

»Quatsch, ich bin einfach begeistert.«

»Warum nicht einfach mal von mir? Oder von meinem tollen Essen, was ich meinem Lord bereitet habe?«, gab sie spitz zurück.

»Du hast recht, Anna.«

Er sah sie an und fand wie oft ganz kleine Details an ihr, die er lange nicht wahrgenommen hatte. »Meine Sensibilität ist mal wieder runtergefahren«, stellte er in sich gekehrt fest. »Ich bin in letzter Zeit zu oft einfach zu schnell und unüberlegt mit dem, was ich sage und mit dem, was ich nicht sage. Vieles muss gesagt werden! Zum Beispiel, dass ich jetzt gerade genieße, dass wir hier zusammen sind. Ich weiß bloß schon wieder nicht, ob es der richtige Zeitpunkt ist, das zu sagen.«

»Mein lieber Karsten, dafür kann es keinen falschen Zeitpunkt geben«, gab sie mit warmer Stimme zurück und beide ließen ein Glas Rotwein klingen. Dann wechselte sie das Thema mit einer Frage nach seinem Freund Torte.

»Sag mal, Torsten Torte Tengler, du sagtest neulich, dass er mit seiner Frau auch viel Kajak fährt. Vielleicht könnten wir mal gemeinsam mit ihnen etwas unternehmen?«

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Ich musste gerade so an flache und tiefe Wasser denken.«

»Die haben einen Zweier und einen Einer«, entgegnete er.

»Einen Dreier würde ich auch nicht wollen«, sagte Anna.

»Wie?«

»Keinen Dreier!«, rief ihm seine Frau zu.

»Na, sag ich doch, einen Zweier.«

»Schreibt man Kayak oder Kajak?«, fragte sie ernst.

»Was?«

»Na, mit Ypsilon oder mit Jott?«

»Weiß ich nicht, hört sich doch gleich an. Wahrscheinlich geht beides«, rief er in der Küche in den offenen Gewürzschrank, weil ihm das Angebot auf dem Tisch nicht reichte. Dann ging er zurück. Anna hatte inzwischen noch einige Teelichter verteilt und nach endlosen Knipsversuchen mit dem nie richtig funktionierenden Anzünder entflammt.

Leonard Cohen war derweil in einer unglücklich gemixten Playlist von Wincent Weiß abgelöst worden: »Ey, da müsste Musik sein« rief oder sang er einige Male. Das Soundsystem hatte nicht mehr viel zu leisten, Bässe konnte BRB in dem Titel nicht ausmachen. Ja, es müsste Musik sein, dachte BRB. Beide kamen zur Ruhe. Die letzten Happen ließen sie sich wortlos auf den Zungen zergehen. Die Kerzen schickten kleine Licht- und Schattenspiele an die Wände, weil sich ihr Licht an getönten Gläsern brach und verspielte. Die von Heinz Bochmann gemalte Silhouette des Wismarer Hafens bekam eine besondere Wärme.

»Lass uns mal den morgigen Tag besprechen«, sagte Anna.

»Morgen ist Sonntag«, antwortete er.

»Ja doch, ich meine natürlich Montag, wenn du es genau wissen willst. Ich kann nicht gut in den Sonntag gehen, wenn ich nicht weiß, wie der Montag wird!« Beide merkten in diesem Moment, wie sehr ihr Leben durchgeplant war, wie sehr man an Zeiten und Terminen hing, ja, wie sehr man von ihnen abhängig war.

»Ich muss ins Amtsgericht.«

»Nach Rostock?«

»Ja, Zochstraße. Dort einen Parkplatz zu finden, wird wieder ein Problem. Vier Angeklagte, zwei Straftaten in unterschiedlicher Beteiligung, Körperverletzung, alle wohl mehr oder weniger alkoholisiert. Berechnung der Blutalkoholwerte nach Trinkmengenangaben. Keine Laborwerte. Zehn Zeugen. Das wird ein langer Tag.«

»Musst du dich vorbereiten?«

»Nein, ich hatte die Akte nicht. Es muss ohnehin alles auf den Tisch, was für den Prozess wichtig ist. Ich werde fragen und fragen und nochmals fragen, um alle Grundlagen für mein Gutachten zusammenzubekommen.«

»Wann geht’s los?«

»Um neun Uhr.«

»Ok, ich habe Sprechstunde ab acht Uhr und dann den ganzen Tag.«

So ließen beide den Abend ausklingen. Der Sonntag dazwischen war kein Thema und versprach Entspannung.

Kapitel 4
Amtsgericht Rostock

Am Montag fuhr Dr. Brandenburg zum Rostocker Amtsgericht. Die Sonne stand noch tief. Der Himmel war klar. Das Auto parkte er auf dem Kundenparkplatz eines Supermarktes. Das Risiko, die dort ausgeschilderten zwei Stunden zu überschreiten, nahm er in Kauf. Das moderne Gebäude, dicht an der Unterwarnow, hatte etwas Steriles. Nicht zu vergleichen mit dem historischen Fürstenhof in Wismar. Dort beeindruckten schwere, alte Holztüren, hölzerne Vertäfelungen und eben das Flair und der Charme eines alten Hauses. Er nahm die Treppen, denn sitzen musste er vermutlich an diesem Tag noch lange genug. Also zwei Stufen auf einmal und einmal schön durchgepustet. So kam er im zweiten Obergeschoss an. Neben den Türen zu den Verhandlungssälen hingen die Terminrollen. Er vergewisserte sich kurz, ob sein Termin eingetragen war und nahm in dem großzügigen Wartebereich Platz. Er war wie immer recht früh. Als zwanghaft pünktlicher Mensch ging das nicht anders. Er nahm sich Literatur aus dem Aktenkoffer, um die Wartezeit zu überbrücken. Endlich über Lautsprecher der dumpfe Aufruf der Strafsache, zu der er geladen war. Spätestens jetzt wurde klar, wer von den weiteren Personen im Wartebereich zu diesem Termin gehörte. Langsam bewegte man sich in den Saal. Die Sitzordnung war immer die gleiche. Angeklagte und Verteidiger nahmen den linken Flügel ein. Staatsanwalt und Sachverständige saßen rechts. Hinten quer Sitzreihen für das »Publikum.« Die Verhandlungen sind öffentlich, wenn die Öffentlichkeit nicht auf Beschluss der Kammer ausgeschlossen wird.

Die Sitzung begann pünktlich. Feststellen der Anwesenheit. Verlesen der Anklage. Die mit Spannung erwartete Frage des Richters an jeden einzelnen, ob er sich zum Tatvorwurf äußern oder von seinem Schweigerecht Gebrauch machen wird. Erleichterung, nachdem alle Angeklagten erklärten, sich äußern zu wollen. Das würde den Prozessverlauf zwar zeitlich nicht unbedingt beschleunigen, aber am Ende die Urteilsfindung und für Dr. Brandenburg die Gutachtenerstattung erleichtern, weil mehr Informationen und sogenannte Anknüpfungstatsachen zu erwarten waren. Für ihn, als vom Gericht geladenen Sachverständigen, ging es um eine Schuldfähigkeitsbegutachtung, da die Straftaten unter erheblichem Alkoholeinfluss begangen worden sein sollten.

Man lehnte sich zurück und verfolgte aufmerksam die beginnende Vernehmung durch den Richter. Danach ging das Fragerecht an die Vertreterin der Staatsanwaltschaft, an die Verteidiger und zuletzt an den Sachverständigen. Um alle Angeklagten im Grundsatz gleich zu behandeln, hatte sich ein Fragenkatalog bewährt, um bestimmte, grundsätzliche Fragerichtungen abzuarbeiten. Von dem wich Brandenburg nur ab, wenn die Individualität des Angeklagten dies erforderte. Am Ende musste jeder sein individuelles Gutachten bekommen. Man konnte natürlich nicht aus einem Gesamteindruck ein Gutachten für alle erstatten. So verging Stunde um Stunde, unterbrochen von kleinen Lüftungspausen, einer Mittagspause und gelegentlichen Ermahnungen des Richters an einzelne Zuschauer, weil sie durch Tuscheln oder Kichern störten. Nach der Mittagspause nahm eine Jugendgruppe Platz, die den Anfang des Verfahrens nicht mitbekommen hatte und denen auch niemand etwas erklärt zu haben schien. Dementsprechend hielten Aufmerksamkeit und Disziplin nicht lange. Am Rande, dicht an den Fenstern, saß eine schlanker Mann mittleren Alters. Dunkles, kurzes, offenbar frisiertes Haar, gut gekleidet. Seine Gesichtszüge verrieten unbedingte Aufmerksamkeit und eine harte Prägung. Der Blick ruhig und fest. Er hielt die gesamte Zeit des ersten Verhandlungstages durch und machte sich Notizen. Er grenzte sich durch seine Sitzposition und seine Ruhe deutlich vom übrigen Publikum ab. Er saß so, dass Dr. Brandenburg sich deutlich nach rechts hätte drehen müssen, um ihn zu sehen. Das gab ihm die Möglichkeit, Dr. Brandenburg zu beobachten, ohne, dass dieser es merkte. Nachdem die Verhandlung gegen 16:30 Uhr unterbrochen und die Fortsetzungstermine bekannt gegeben wurden, erhoben sich alle, schuffelten ihre Papiere und sonstigen Unterlagen zusammen und füllten ihre Taschen, in denen auch die zerknüllten Roben der Verteidiger landeten. Kurze Wortwechsel, Gemurmel, ein schneller Griff zum liegen gelassenen Kugelschreiber, das Klacken von Verschlüssen, ein Lachen, ein ›Tschüss‹ und ein ›Bis dann‹ und Brandenburg zog seinen Aktenkoffer vom Tisch, um zu gehen.

»Herr Dr. Brandenburg«, rief es hart und gleichzeitig fragend hinter ihm. Er drehte sich zu der Stimme.

»Ja?«

»Mein Name ist Karmann. Ich bin freier Journalist und habe den Prozess verfolgt. Darf ich Sie einiges fragen?«

»Wenn Sie den Prozesstag aufmerksam verfolgt haben, dann wissen Sie all das, was man als Öffentlichkeit bisher dazu wissen kann.«

Der Journalist lächelte und setzte nach. »Mir geht es natürlich um Ihren Eindruck. Es scheint doch so, dass die Angeklagten genau wussten, was sie taten. Was braucht es da eine Begutachtung der Schuldfähigkeit?«

Brandenburg stutzte einen Moment.

»Sie erwarten doch nicht im Ernst, dass ich Ihnen ein Vorabstatement gebe? Im Übrigen ist die Beweisaufnahme längst nicht abgeschlossen.«

»Ich erwarte natürlich gar nichts«, sprach er ihn weiter an, »aber die Verhandlung ist unterbrochen und da könnten wir doch reden. Keine Ihrer Äußerungen könnte im Prozess Verwendung finden, weil wir jetzt außerhalb des Protokolls sind.«

»Sagen Sie mir doch bitte, seit wann Sie als Journalist tätig sind«, fragte Brandenburg nach.

»Was tut das zur Sache?«

»Das tut eine Menge dazu«, nahm er die Wortwahl seiner Frage auf. Der Journalist hob erstaunt seinen Blick.

»Die Frage werden Sie mir nicht beantworten können, Herr Karmann, weil Sie sehr wahrscheinlich kein Journalist sind.«

Karmann wich zurück. Seine Überraschung konnte er nicht verbergen. Damit hatte er nicht gerechnet.

»Kein professioneller Journalist rechnet sich auch nur im Entferntesten aus, von einem Sachverständigen vor Erstattung seines Gutachtens ein Statement zu bekommen. Das würde kein Sachverständiger geben und kein Journalist versuchen. Journalisten können sich innerhalb solch grundsätzlicher Dinge bewegen. Zum Zweiten stört mich Ihre Kamera, die Sie da um den Hals tragen.«

»Also, ich bitte Sie! Was erlauben Sie sich?«

»Ich erlaube mir, Ihnen jetzt den Rücken zu kehren. Wenn Sie wieder mal überzeugend als Journalist auftreten wollen, dann lassen Sie die kleine Kompaktkamera zu Hause. Ich kenne keinen echten Journalisten, der nicht mit einer High-End-Spiegelreflex arbeitet, auf die er schwört«, rief Doktor Brandenburg dem verdutzt zurückbleibenden Herrn noch zu, als er mit wehenden Schößen den Gerichtssaal verließ. Wie zum Gruß hob er seine Hand, jedoch ohne dabei zurückzusehen. Gleichzeitig kam es BRB so vor, als wenn er diesen angeblichen Journalisten schon mal gesehen hätte. Es fiel ihm jedoch dazu nichts ein, sodass er den Gedanken verwarf.

Der Mann, der sich als Herr Karman vorgestellt hatte, bekam seine Gelassenheit langsam wieder. Ein kaum wahrnehmbares Lächeln huschte über sein Gesicht. Er nahm die Kamera, schaute sie an, verdrehte die Augen und schob sie in seine Manteltasche. Dort landeten auch Kugelschreiber und Notizblock. Als er gehen wollte, schaute eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle Strafrecht in den Raum. »Sie sind der letzte? Ich würde gern abschließen.« »Schon gut, bin schon weg«, entgegnete er. Mit einem leichten Kopfnicken schob er sich an der Mitarbeiterin vorbei, nahm die Treppenstufen hinab zum Ausgang, ignorierte die Blicke des Wachdienstes, drückte die Haustür auf und stand vor dem Haus. Ein Windstoß wehte den offen gelassenen Mantel auf. Er wandte sich nach links Richtung Neue Werderstraße. Dort hatte er sein Fahrrad abgestellt. Damit radelte er zur B 105 runter, überquerte sie und nahm Kurs auf den Alten Fritz. Das Braugasthaus lud mit einem Außenbereich ein. Kaum, dass er sich sortiert und gesetzt hatte, fragte eine freundliche, junge Frau mit lustigen Augen, was sie ihm bringen könne.

»Einen Kaffee bitte.«

»Wir haben Cappuccino, Caffè Latte, Caffè Crema, einfachen Filterkaffee oder einen Espresso.«

Von dieser Kaffeeflut überfordert, zeigte sein Blick die erste Verlegenheit und Unsicherheit des Tages. »Äh … einen Filterkaffee bitte.«

Kapitel 5
Die »versenkbare« Mühle von Kröpelin

Wer von Kühlungsborn oder Wismar kommend durch die eingehügelte Kleinstadt Kröpelin fährt, erlebt einige hundert Meter nach dem Markt ein wahres Wunder. Die von Ferne schon in Fahrtrichtung über den Hausdächern sichtbare alte Mühle beginnt zu sinken. Sie verschwindet und bleibt verschwunden. Wer einfach so weiterfährt, wird sie nicht wiedersehen. Damit sie nicht auch noch in Vergessenheit gerät, kümmert sich ein rühriger Verein. Er bietet nicht nur die Möglichkeit, sie zu besuchen, sondern auch Ausstellungen, Führungen und Vortragsabende. Die Chefsekretärin des Institutes für Rechtsmedizin reichte eine E-Mail an den Professor weiter. Der Förderverein Kröpeliner Mühle fragte wieder einmal, ob kurzfristig ein Vortrag über die Aufgaben der Rechtsmedizin realisiert werden könnte. Licht und Ton wären kein Problem. Handmikrofon oder Headset. Beamer, Projektionsfläche, perfekte Technik in einem zwar kleinen, aber liebevoll restaurierten Raum. Der Chef wischte den Zettel zur Seite, rief die Sekretärin an, sie solle das den Mitarbeitern anheimstellen. Er selbst möchte das nicht machen, wolle aber auch niemanden verpflichten, gegebenenfalls nur wissen, wer wann mit welcher Vorbereitung dort auftritt.

Die Anfrage landete hausintern auf den Bildschirmen der ärztlichen Mitarbeiter. Weder für die Chemiker noch die Biologin kam das Thema in Frage.

Doktor Brandenburg, der sich hin und wieder gern auf eine Bühne stellte, bekundete sein Interesse, zumal er die Mühle und ihr Team bereits von einer früheren Veranstaltung kannte. Eine jüngere Kollegin und er waren für derartige Auftritte seit Jahren eingespielt. Sie gab die flippige Moderne und er den verstaubten Traditionalisten. So battelten sie sich auf lustige Weise durch die oft dunklen Themen des Faches und das mit Erfolg, zuletzt mit dem Thema »Rechtsmedizin zwischen Klischee und Realität«.

BRB bekam den Zuschlag vom Chef. »Machen Sie das irgendwie und vielleicht können Sie ja eine Vorlesung anpassen, damit das nicht so viel Vorbereitungszeit kostet. Und sehen Sie bitte zu, dass Sie sich thematisch von dem ersten Vortrag absetzen.« Mit diesen Worten drehte sich der Chef schon weg, sodass die Bahn frei war. Seine Kollegin stand kurzfristig leider nicht zur Verfügung. So musste BRB allein zusehen, wie er das gestaltete. ›Da braucht es nicht viel Vorbereitung. Da reicht der Griff in die Schublade.‹ Mit diesen Gedanken machte er sich gleich an die Arbeit und tickerte sich auf seinem Rechner durch das Archiv der Vorlesungen, verschob eine PowerPoint in den Ordner öffentliche Vorträge, benannte sie um und überlegte sich, wie er das Thema für ein öffentliches Publikum strukturieren könnte. Rechtsmedizin im Allgemeinen. Medizinische und juristische Fachbegriffe raus, Fotos raus, die vermutlich nicht für alle Augen und alle Seelen geeignet sind. Im Besonderen müsste er einen Schwerpunkt setzen. Vielleicht »Tod im Wasser«. Die Ostseenähe und die gerade jetzt immer wieder berichteten Badetoten würden vermutlich ohnehin vom Publikum hinterfragt werden. Neben dem klassischen Ertrinken mit seinen Stadien würde er dem plötzlichen natürlichen Tod im Wasser Aufmerksamkeit schenken. Das Ganze natürlich mit einem positiven Blick auf alles Schöne im und am Wasser. In dieser Art würde er in den nächsten Tagen eine Präsentation zusammenstellen.

Es kam der Tag. Alles war perfekt vorbereitet. Kurz vor 20 Uhr parkte BRB sein Auto dicht an der Mühle, ging hinein, begrüßte die Veranstalter und sortierte sich. Der Raum füllte sich allmählich. Die meisten kamen erst fünf bis zehn Minuten vor Beginn und verteilten sich irgendwie an den Tischen, die jeweils von vier Stühlen umstellt waren. Dann war es soweit. Dr. Brandenburg wurde kurz anmoderiert, ging an das Rednerpult, bedankte sich für die Einladung und wurde schnell mit seiner Aufgabe allein gelassen. Nach einigen Minuten war er warmgelaufen. Medizinische Themen einzudeutschen war er von den vielen Gerichtsverhandlungen gewohnt. Er war im Flow, bis sich etwa zehn Minuten vor Schluss an einem der hinteren Tische, dicht am Eingang, eine Hand hob und ein dazugehöriger junger Mann mit rot gelocktem Haar aufstand. Ohne zu fragen und ohne sich vorzustellen rief er Brandenburg in einer beinahe kindlichen Tonlage zu: »Sie haben das Thema verfehlt! Es ging doch vorhin auch um Wasserleichen hier. Warum zeigen Sie die nicht. Dafür bin ich extra von weit hergekommen!«

Ein Raunen ging durch den Raum. Einige schüttelten den Kopf.

»Ich werde keine derartigen Bilder zeigen«, entgegnete Brandenburg. »Das wäre kein schöner Anblick. Ich bemühe mich, das Thema informativ zu gestalten, sodass es für niemanden unangenehm wird. Allen kann ich es offenbar nicht recht machen.«

Während einige Besucher klatschten, stieß sich der junge Mann von seinem Stuhl ab, sodass der umkippte und verließ unter lautem Geschimpfe die Mühle. Der Vortrag kam zum Ende, kurzer Beifall, einige kamen nach vorn und stellten Fragen. Andere schoben sich langsam durch den Ausgang. BRB sammelte seine Unterlagen zusammen und erzählte noch einen Moment mit den Vertretern des Mühlenvereins.

Es war spät geworden. Sein Auto konnte er gerade noch im Schein der Türbeleuchtung erkennen. Es regnete leicht. Schnell lud er alles ein und schwang sich hinter das Steuer. Die Wegbeleuchtung wurde abgeschaltet, für ihn zu schnell. Nun musste er auf seine Scheinwerfer vertrauen und zur Straße hinunterrollen.

Kapitel 6
Gesucht

Kommissar Tenglers Büro verströmte den Muff alter Dienstzimmer, den sie im Laufe der Zeit bekommen und behalten. Die Ausstattung war spärlich. Der Rechner am Arbeitsplatz wurde über verstaubte Kabel versorgt, die irgendwo hinter dem Tisch allein gelassen und lange nicht mehr gesehen worden waren. Neben dem Telefon ein Bild von ihm und seinem Sohn, der seinen pubertär getriggerten Unwillen gegenüber solcher Fotoposen deutlich machte. An der Wand gegenüber ein altes Schwarz-Weiß-Foto vom Brandenburger Dom, aufgenommen offenbar von einem Boot auf einem Arm der Havel, die sich durch die Stadt verzweigt.

Das Klingeln von Kommissar Tenglers Telefon an diesem Montag morgen blieb ungehört.

»Wo ist Tengler?«, rief Kommissarin Semlock über den Flur, hoffend, dass er selbst oder irgendjemand anders reagiert. »Er soll zu mir«, setzte sie nach. Doch es blieb stumm. Das bemerkte sie erst nach einigen Minuten, hob erstaunt ihren Kopf aus der frühmorgendlichen Geschäftigkeit und ging zu ihren Kollegen. »Hat ihn jemand gesehen?«

»Wen?«

»Na, Tengler! Ich brauche ihn!«

Vieldeutige Blicke, aber keine zweckdienlichen Hinweise.

»Habe ihn heute auch noch nicht gesehen«, entgegnete jemand.

»Ich auch nicht«, kam es aus einer anderen Ecke.

›Vielleicht ist er krank‹, dachte Kommissarin Semlock und rief im Sekretariat an. »Moin, Semlock, hat sich Kommissar Tengler krankgemeldet?«

»Wer?«

»Mein Gott!«, rief sie ungeduldig, »nuschel ich etwa? Der eine fragt WEN, der andere WER. Ich meine Herrn Oberkommissar Torsten Tengler, nicht erst seit gestern hier! Seine Freunde nennen ihn wohl Torte! Hat ihn jemand mit einem Käffchen zu sich genommen? Vielleicht noch mit Schlagsahne? Ich sehe und höre ihn nicht und kann ihn nicht finden, obwohl ich ihn suche!«

»Tut mir leid, Frau Semlock«, entgegnete die Sekretärin betont ruhig, weil sie die Ungeduld der Kommissarin spürte. »Wir können da ausnahmsweise nicht helfen. Lassen Sie doch mal den Tag erwachsen werden und dann wird er sich schon unter Angabe einer plausiblen Erklärung einfinden.«

Kerstin Semlock sackte zusammen und legte auf. ›Erstmal nichts zu machen‹, dachte sie. Diese Situation passte so gar nicht in ihren gewohnte Geradeauskurs, der am frühen Vormittag bereits festlag. Als erste Sachbearbeiterin gab es für sie nur wenige Schritte zur Seite. Sie war auf ihre Ziele orientiert und ließ sich dabei nicht gern aus dem Takt bringen. Das machte sie noch attraktiver, obwohl da nach allgemeiner Männermeinung nicht viel nachzuholen war. Sie war gut vernetzt mit Schlüsselpositionen in der Staatsanwaltschaft, der Rechtsmedizin und des Landeskriminalamtes. Ein auch bei Computerpannen funktionierendes Netzwerk, das sie sich über die Jahre erarbeitet hatte und auf das sie sich verlassen konnte. Ihre Gedanken sammelten sich langsam wieder und begaben sich nur noch einmal vorsichtig auf den Weg zu ihrer Tochter. ›Oje, oje, ich hatte versprochen, sie heute früh anzurufen.‹ Katharina Semlock hatte in Rostock Medizin studiert. Der berufliche Kontakt ihrer Mutter mit Dr. Brandenburg brachte genug Suggestion mit sich, um während des 4. Studienjahres in der Rechtsmedizin das Wahlfach »Ärztliche Leichenschau« und im Praktischen Jahr dort das Wahltertial zu absolvieren.

»Hi, Mom«, sagte Katharina.

»Entschuldige, ich wollte dich gleich früh anrufen, aber mich hat hier heute einiges aus der Bahn geworfen.«

»Alles gut«, beruhigte Katharina ihre Mutter. »Ich liege eh zu Hause rum. Mir war nicht so an der Mütz.«

»Was ist mit dir? Bist du krank?«

»Nix Schlimmes. Ich hab Hals. Geht schon.«

»Ich rufe dich an, weil du das wolltest, jedenfalls gestern noch.«

»Ja, es ist irgendwie alles doof. Ich muss immer an Papa denken, so kurz vor seinem Geburtstag. Es ist so unfair, so ungerecht. Andere fressen sich fett und saufen sich die Leber dick und trällern sich durchs Leben und er, der immer alles in Maßen hielt, hier nicht zu viel und da nicht zu doll, der kriegt seinen Herzkasper und bleibt liegen.«

»Katharina, es ist nun vier Jahre her …«

»Willst du mich damit beruhigen?«, weinte sie plötzlich in das Telefon. »Sag was!«

»Ich kann nur sagen, dass ich dich jetzt gern im Arm hätte. Erinnerst du dich an den Abend im vorigen Jahr, als du mich in Reutershagen besucht hast und wir so schön gemütlich erzählt haben? Das wünsche ich mir öfter.«

»Ja, natürlich erinnere ich mich. Das war, als ihr diesen Fall mit dem toten Geocacher hattet. Ich war gerade im Wahltertial in der Rechtsmedizin.«

»Genau, aber Gedanken an dich, mein liebes Töchterchen, bringen mir eher Gedanken an das Leben. Wie läuft es denn so mit deinem Torben? Warum ist er jetzt nicht bei dir und hilft dir wegzuschieben, was dich bedrückt?«

»Der muss arbeiten.« Kleine Pause.

»Dieser Zustandsbericht fällt ja recht kurz aus. Muss ich mir Sorgen machen?«

»Um den?«

»Nun komm schon, Katharina, dein Torben wäre ein Tor, wenn er dich nicht halten würde und ein Tor ist er nicht, auch wenn er so ähnlich heißt. Aber ich glaube, ich lasse das Thema. Kathi, ruf mich bitte, wenn du mich brauchst und überhaupt auch sonst, wenn es dir einfällt, ja?«

»Ist gut, Mom.«

»Bis bald.«

»Tschüss.«

Kerstin Semlock lehnte sich zurück und atmete tief durch. ›Es ist immer alles auf einmal. Wenn es irgendwo hakt, klemmt es woanders auch. Ich muss jetzt den Tengler klar machen.‹ »Hat jemand seine Telefonnummer?«

»Wessen?« rief es aus einer offenstehenden Zimmertür.

›WEN, WER, WESSEN‹, dachte sie mit einem jedoch nur noch innerlich hörbaren Aufbegehren.

»Die von Tengler bitte schön!«

»Ja, sicher, die steht im Dienstplan Frau Kommissär. Das ist gar nicht mal so schwer«, antwortete Kommissar Kollberg aus einer Ecke.

»Dann bitte mal her damit. Ich muss ihn anrufen und fragen, was los ist.« Sie nahm auf irgendeiner Schreibtischecke Platz, kümmerte sich nicht, zu wem die gehörte und wählte seine Nummer. Sie schwenkte ihr Haar zur Seite, um den Hörer dicht ans rechte Ohr zu halten. Nach endlos wiederholtem Ruf eine monotone Stimme: »Gesprächspartner ist zurzeit persönlich nicht erreichbar. Bitte hinterlassen Sie … « Sie legte auf. ›Shit.‹

»Wo arbeitet seine Frau?«, rief sie wieder in die Räume. Keine Antwort. »Warum weiß das keiner?«, rief sie, dabei etwas betroffen merkend, wie wenig sie selbst über ihre Kollegen wusste. Würde sie jemand anders suchen, stünde sie ähnlich hilflos da. Sie ging ins Sekretariat und verlangte Auskunft.

»Frau Semlock, jetzt beruhigen Sie sich bitte. Ich schicke eben diese E-Mail noch ab und dann sehe ich nach, was wir haben, ja?«

»Sie wissen, ich schätze Sie über alles«, höfelte Frau Semlock der Sekretärin zu, »aber ich habe ein blödes Gefühl im Bauch und ich weiß, ich bin aufgedreht, aber ich bitte Sie, mir zu helfen.«

»Das klingt doch schon viel besser«, antwortete die Sekretärin aus ihrem gepflegten Dress hinter einem schwarzen Schreibtisch. Sie machte ihr Mousepad frei, klickte sich in ein internes Laufwerk und rief die Personaldaten der Mitarbeiter auf.

»Da haben wir ihn ja. Torsten Tengler. Ganz schönes Foto von ihm«, lächelte sie in den Bildschirm hinein. »Hier steht’s. Angehörige: Frau Tamara Tengler, gleiche Wohnanschrift, erreichbar unter …«

»Ich danke Ihnen sehr.« Kerstin Semlock nahm den Zettel mit der abgeschriebenen Handynummer von Tamara Tengler und eilte zurück in ihr Dienstzimmer. Sie wählte die Nummer und hoffte, nach jedem neuen Klingelton endlich ein erlösendes »Tengler« oder »Ja, bitte« zu hören. Ersteres geschah.

»Tengler« hörte sie eine entspannte, helle Stimme sagen.

»Hier ist Frau Semlock, eine Kollegin Ihres Mannes.«

»Hallo, Frau Semlock. Ich weiß, mein Mann hat Sie oft erwähnt. Was führt Sie in die Leitung?«

»Ich vermisse Ihren Mann, Frau Tengler. Damit Sie mich nicht falsch verstehen, er ist heute nicht zum Dienst erschienen. Ich wollte mich nur erkundigen, ob er vielleicht krank ist?«

»Oh, das überrascht mich«, antwortete Tamara Tengler.

»Wie kann es Sie überraschen? Waren Sie beide heute Morgen nicht zusammen?«

»Nein, ich bin am Wochenende zu meiner Freundin nach Berlin gefahren. Mein Mann blieb in Rostock. Ich bin noch in Berlin und habe heute einen Termin auf der Museumsinsel.«

»Darf ich fragen, was Sie beruflich machen?«

»Sicher, ich konzipiere Heizungs- und Lüftungssysteme für Großbauten.«

»Toll, das hört sich interessant an. Meinen Respekt. Das hört sich auch familienfreundlich an, wahrscheinlich keine Dienste?«

»Genau, im Grunde haben Sie recht. Wir würden nur im Havariefall und wenn es wirklich pressiert mal einen außerordentlichen Lokaltermin wahrnehmen. So zum Beispiel heute.«

»Ah ja, ok, aber zurück zu Ihrem Mann. Hatte er am Wochenende etwas Besonderes vor?« »Er wollte paddeln. Er wollte mit seinem Kajak aufs Wasser. Das macht er manchmal auch allein, wenn ich nicht da bin. Dieses Wochenende hatte sich angeboten. Wir haben zuletzt Freitagabend miteinander telefoniert, aber nicht darüber gesprochen, wohin er fahren wollte.« »Wie kann ich ihn erreichen, Frau Tengler? Übers Handy habe ich es schon versucht.«

»Tja, ich weiß da auch nicht weiter. Er ist eigentlich nie krank oder so, höchstens mal ein Männerschnupfen, aber deswegen würde er nicht zu Hause bleiben. Fragen Sie doch mal Dr. Brandenburg. Vielleicht hatten die beiden Kontakt. Neulich waren sie zusammen im Kino. Kann ja sein, dass er etwas weiß. Also, ich mache mir da erstmal keine großen Sorgen. Das wird sich bestimmt aufklären. Ich rufe nachher mal seinen Sohn an, vielleicht erfahre ich etwas, ok?«

»Alles klar, ich danke Ihnen.«

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