Kitabı oku: «Endstation Salzhaff», sayfa 3

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Kapitel 7
Die Rechtsmedizin

1958 löste sich in Rostock die Gerichtliche Medizin aus der Pathologie und wurde zu einer eigenen Struktureinheit, zu einem Institut, zunächst in der Gertrudenstraße. 1964 zog das Institut in die Friedrich-Engels-Straße, heute St.-Georg-Straße, in das ehemalige Internat der Arbeiterund Bauern-Fakultät. Dort sitzt sie noch heute, seit der Wende umbenannt in Rechtsmedizin. Die alte graue Villa wirkt zwischen dem Studentenwohnheim und dem roten, wuchtigen Backsteingebäude, welches zu DDR-Zeiten die SED-Bezirksleitung beherbergte, danach das Gesundheitsamt und jetzt die Stadtkämmerei, wie ein Implantat. Das Hofgebäude bleibt verdeckt, ein hässlicher Betonbau, der Ende der 70er-Jahre in den Hof des Studentenwohnheimes gesetzt wurde, um Nachrichtentechnik aufzunehmen – man ahnt, um welche Art von Nachrichten und um welche Art von Technik es dort ging. Wer nun noch wusste, dass sich die Chemisch-Toxikologische Abteilung des Institutes in der Rungestraße neben der alten U-Haft befand, für den bestätigte sich endgültig durch diese baulichen Nachbarschaften ein Generalverdacht gegenüber allen, die in der Gerichtsmedizin arbeiteten. Mit dieser Corona aus Vorbehalten hatte sich der junge Dr. Karsten Brandenburg auch auseinanderzusetzen, als er 1980 nach dem Medizinstudium dort die Weiterbildung zum Facharzt begann. Der Kern des Faches hielt ihn jedoch gefangen und lies ihn nicht mehr los. Der Muff des alten Gemäuers erzeugte immer irgendwie beides: Abwehr und Anziehung. Letzteres überwog fast 40 Jahre. Seine Kollegen nannten ihn BRB: Das Autokennzeichen für die Stadt und den Landkreis Brandenburg an der Havel, seine Heimatstadt und kurioser Weise auch sein Nachname. BRB hatte sich in seinen drehbaren Dienstsessel eingepasst und merkte ein ums andere Mal, dass sein Körper so nach und nach, mit dem Älterwerden die Ideallinien verließ und der Sesselform immer ähnlicher wurde. Der Sessel war so bequem, dass der Körper keinerlei Energie aufwenden musste, um sich darin zu halten. Das wiederum ließ den Zeiger der Waage zwar langsam aber dafür beständig weiter nach rechts auslenken. Einhalt gebot lediglich ein Tag, der mit Obduktionen ausgefüllt war, denn da hieß es im Stehen präparieren und diktieren, den ganzen Tag, und zuweilen nähen und schwer heben. Einsätze zu einem Tatort, ein Konsil in der Klinik oder eine Vorlesung waren weitere willkommene Abwechslungen, die jedoch für die Rekonstruktion der Ideallinie nicht ausreichten. In der Freizeit etwas Sport, aber nicht zu viel und so entwickelte sich bei ungestörtem Appetit und gelegentlich einem Fläschchen Bier der beschriebene Zustand.

Ein Tag im Institut nahm seinen Lauf. Am Nachmittag war ein Ethikkonsil auf der neurologischen Intensivstation im Zentrum für Nervenheilkunde Rostock-Gehlsdorf anberaumt worden. Es ging um eine 83-jährige, korpulente Frau, die mit einem Schlaganfall aufgenommen wurde. Auf Station trafen außerdem ein Internist und ein Chirurg ein, dazu noch der Krankenhausseelsorger und eine Juristin von der Stabsstelle Recht. Die Patientin hatte eine Patientenverfügung unterschrieben, die von den Angehörigen vorgelegt worden war. Es ging darum, ob der in der Verfügung formulierte Zustand eingetreten sei. Die Stationsärztin stellte die Patientin vor. Gegenwärtiger Status, bisherige Therapie und weitere Möglichkeiten sowie die Prognose wurden in der Runde diskutiert. Auf der Rückfahrt von Gehlsdorf zur St.-Georg-Straße meldete sich Kommissarin Semlock, die BRB im Auto über seine Freisprechanlage empfing. Sie durchbrach mit ihrem Anruf die bassigen Drums im Intro von Amy Winehouse’ YOU KNOW I’M NO GOOD.

»Oh, Du bist gerade unterwegs«, tönte es plötzlich im harten Kontrast zu der Musik, von der sich BRB eigentlich zum Institut begleiten lassen wollte.

»Hört man das?«

»Irgendwie schon. Es sei denn, Dein PC hat eben den Blinker gesetzt und vom vierten in den dritten Gang geschaltet.« Beide lachten herzlich.

»Was gibt es denn Frau Kommissär?«

»Kommissär? Das habe ich doch heute schon einmal gehört.« Kerstin Semlock dachte kurz nach. »Ach ja, der Kollberg hat mich so angesprochen und einen Reim draufgesetzt. Ich glaube, der dreht langsam frei. Mannomann…«

»Nun lass mal«, fiel ihr BRB ins Wort. »Ab und an ein bisschen lustig muss doch erlaubt sein und ist nicht gleich psychopathologisch oder psychiatrisch. Da, wo ich gerade herkomme ist das schon anders.«

»Klär mich auf.«

»Ethikkonsil in Gehlsdorf.«

»Ah, ich verstehe. Der Doktor gibt sich mal wieder klinisch. Gut fürs Ego, oder?«

»Was kann ich denn Gutes für dich tun?«, fragte BRB nach.

»Für mich fällt mir da überhaupt nichts ein, aber vielleicht für deinen Freund Tengler.«

»Der kann eigentlich ganz gut für sich allein sorgen.«

»Ja, wenn ich darüber Gewissheit hätte, wäre mir wohler.«

»Was soll das denn nun heißen?«

»Er ist weg.«

»Wie weg?«

»Er ist heute nicht zum Dienst gekommen. Übers Smartphone kann ich ihn nicht erreichen. Seine Frau ist in Berlin, die habe ich angerufen, sie hat ihn am Freitagabend zuletzt gesehen und gehört. Sie will noch seinen Sohn fragen. Ansonsten wusste sie nur, dass er am Wochenende mit seinem Kajak loswollte, wahrscheinlich Sonnabend. Weißt du, was mit ihm sein könnte? Hattet ihr Kontakt?«

»Nein, ich weiß nur, dass das völlig ungewöhnlich ist. Einfach warten würde ich nicht.«

»Ok, sehe ich auch so. Dann schicke ich einen Streifenwagen zu seiner Wohnung.«

»Mach das. Ich bin nachher im Institut. Halte mich bitte auf dem Laufenden.«

Amy Winehouse verschaffte sich wieder Gehör, BRB schaltete sie jedoch weg. Zuviel ging ihm gleich durch den Kopf. Er verließ das Gelände am Osthafen und bog auf die B105, um über die Vorpommernbrücke zu fahren. Danach gleich links über die Warnowstraße und die Steintorkreuzung zum Institut. Er winkelte seinen Wagen auf dem Hof in eine Parklücke, wand sich aus dem Auto und ging hastig ins Haus. Zuerst ins Sekretariat. »Bin wieder da«, rief er in den Raum. »Hier die Parkkarte zurück.« Er protokollierte die Rückgabe und fragte, ob jemand etwas von Kommissar Tengler gehört habe.

»Nein, heute noch nicht«, gab die Sekretärin zurück. »Die suchen ihn und können ihn bisher nicht finden!«

»Ach Du meine Güte. Was soll mit dem denn sein?«

»Werden wir hoffentlich bald erfahren. Falls Frau Semlock hier anruft, bitte gleich zu mir durchstellen, ja?«

»Klar doch«, versicherte sie ihm mit einem Lächeln.

Kapitel 8
Vermisst

»Zu Hause ist er nicht, Kajak und Auto sind auch weg. Smartphoneortung negativ, muss abgeschaltet sein!« Diese kurz vorgebrachte Bilanz brach aus Kommissarin Semlock heraus, als sie BRB kurz vor Feierabend dieses ersten Tages der Woche anrief.

»Die Sonnabend-Zeitung steckt im Kasten! Sein Sohn weiß nichts, sagt seine Frau. Die ist noch in Berlin, wird langsam unruhig und kommt heute Abend nach Hause. Der Sohn hat ihn vor vier Wochen zuletzt gesprochen. Im Polizeibericht vom Wochenende nichts, was mit Tengler zu tun haben könnte. Auch die Wasserpolizei ohne Hinweise. Die Notaufnahmen blocken mal wieder. Da brauchen wir mindestens ein schriftliches Auskunftsersuchen der Staatsanwaltschaft oder einen Gerichtsbeschluss, bevor die uns etwas sagen.«

BRB reagierte nicht.

»Nun sag was, Doc! Was sollen wir machen? Mir bleibt nichts, als ihn und seinen Pkw in die Fahndung zu geben!?«

»Ja, äh, Du triffst mich so, dass ich auch nicht weiß, was ich sagen soll.«

»Du bist doch sonst um keinen Spruch verlegen«, konterte sie.

»Hör auf, das scheint hier ein Vorgang zu werden, wie ihr immer sagt. Da ist Schluss mit lustig. Torte Tengler ist mein Freund. Ich will gern alles Mögliche beitragen, um die Sache zu klären. Soweit ich weiß, ist er nicht so krank, dass er irgendwo liegen bleiben würde. Ich meine einen Zuckerschock oder andere Stoffwechselentgleisungen. Mit Herz und Lunge hatte er noch nie Probleme. Andererseits steht es nicht jedem auf die Stirn geschrieben. Betrunken haben dürfte er sich auch nicht. Passt nicht zu ihm, die Gelegenheit, in der seine Frau auf Tour ist, dafür zu nutzen. Er ist eigentlich fit. Wenn Kajak und Auto weg sind, läuten bei mir die Alarmglocken, Kerstin. Durchsucht unbedingt die Wohnung. Vielleicht gibt es Hinweise auf die Route, die er paddeln wollte. Dann fragt die potenziellen Einsatzstellen für Kajak-Touristen ab. Flussbad am Rostocker Mühlendamm, Zingst, Prerow, Bodstedt, Barhöft, Boiensdorf, Rerik usw. Das wären ja nur die nahe gelegenen Paddelreviere. Er kann natürlich sonst wohin gefahren sein. Trebel, Peene, Warnow, Mildenitz. Geht alles!«

»Wie gut, dass wir jetzt wissen, wie Polizeiarbeit funktioniert!«

»Was willst du? Du fragst mich und ich sage dir schnell und unüberlegt, was mir spontan einfällt!«

»Schon gut, Doc, weiß ich ja zu schätzen. Wir rufen uns beide an, wenn es etwas Neues gibt.« Beide legten auf und sanken zurück, beinahe synchron, als hätten sie sich abgestimmt.

BRB rief zu Hause an: »Stell dir vor, Torsten Tengler wird vermisst. Er kam heute nicht zum Dienst. Die Polizei hat bereits alle Register gezogen. Auch seine Frau findet keine Erklärung. Er ist weg und dazu sein Auto und sein Kajak.«

»Oh, Torsten, Auto und Kajak zusammen. Das hört sich nicht gut an. Wann kommst du nach Hause?«

»Pünktlich. Ich kann da ohnehin nicht helfen. Wir müssen abwarten und hoffen, dass das ein gutes Ende nimmt. Bis nachher.«

Die Fahndung lief auf Hochtouren. Torsten Tengler meldete sich nicht. In seinem Dienstzimmer ließ eine Pflanze die Blätter hängen, als wäre sie schon in Trauer. Die Reinigungskraft nahm sich ein Herz, versorgte sie mit frischem Nass und ruckelte den Topf etwas zurecht. ›Dein Herrchen wird schon bald wiederkommen‹.

Der Tag verging jedoch, ohne dass sich diese Prophezeiung erfüllte.

Es wurde Dienstag. »Meine Herren und meine Dame, das Team bitte zu mir«, rief Kerstin Semlock mal wieder über den Flur. Jeder wusste, worum es gehen würde und war schnell zur Stelle.

»Jetzt haben wir drei dabei«, beeilte sich Kollberg zu sagen.

»Kollberg, Sie haben ausnahmsweise recht. Wir haben jetzt drei Vermisstenfälle. Ich gebe zu, dass mich und Sie vermutlich auch, der letzte besonders trifft. Wir sind wohl alle etwas ratlos. Was haben die ersten Ermittlungen zu unserem Kollegen ergeben?«

»Im Grunde nichts«, antwortete die zweite weibliche Kollegin, Annika Strehlow. »In den Krankenhäusern der Umgebung ist er nicht aufgenommen worden. Sein Auto haben wir auch noch nicht. Verkehrsunfälle scheiden aus. Die möglichen Einsatzstellen für Kajaks bieten nur Momentaufnahmen. Keine Zeugen. Vor allem kein Kajak. Wir sollten die Bevölkerung über die Presse und über das Radio um Hilfe bitten. Seine Frau sagte, er hat ein rotes See-Kajak, einen Einer. Den genauen Typ konnte sie nicht nennen, irgendein amerikanisches Model, preisliche Mittelklasse. Sie wusste nur, dass es sehr schwer ist. Habe mich im Netz erkundigt. Als Material kommt am ehesten PE in Betracht. Die teureren haben Glasfasern und Carbon in der Verarbeitung und werden dadurch leichter.« »Was heißt PE?«

»PE bedeutet Polyethylen, ein sehr robustes Material.«

»Sehr gut, Annika. Ein rotes Kajak fällt doch auf. Kann das sinken?«

»PE ist etwas leichter als Wasser, aber nicht viel. Es würde vollgelaufen vielleicht gerade noch schwimmen, aber nicht mehr groß aus dem Wasser ragen, sodass es aus der Ferne schwer zu orten sein sollte.«

»Ok, wir setzen den Fokus weiter auf das Boot und auf sein Auto. Das Auto werden wir eher finden. Dehnt die Suche nach Westen aus, Richtung Poel. Wer weiß, welches Ziel er sich vorgenommen hat. Ach ja, fanden sich in der Wohnung Notizen, Seekarten oder irgendetwas Zweckdienliches?«

»Nein, keine Seekarten, keine Notizen«, kam es aus der Runde. »Was hat die Smartphone-Ortung ergeben?«

»Kein Signal, muss abgeschaltet sein.«

»Moment mal, als er losfuhr, wird er sein Ding doch angehabt haben. Ihr müsst rückwärts suchen. Jetzt geht es vielleicht nicht, weil es nass ist.«

In diesem Moment stürmte ein Mitarbeiter aus dem Bereich »Organisierte Kriminalität« herein. »Entschuldigung, ich wollte nur Bescheid sagen. Sie haben das Auto! Ein beigefarbener Skoda Octavia Scout mit seinem Kennzeichen.«

»Entschuldigung gern angenommen, raus damit, wo ist es?«

»Steht auf einem Wohnmobilparkplatz vor Boiensdorfer Werder. Ich muss zurück, nur, dass Sie Bescheid wissen.«

»Danke dafür! Na, also, es geht vorwärts. Ich will den Heli. Der soll das Salzhaff und die Umgebung der Halbinsel Wustrow und der Insel Poel absuchen. Haffseitig und seeseitig, bitte. Gleichzeitig soll der Wasserschutz die Gegend abfahren und mit denen da oben kooperieren. Den Aufruf an die Bevölkerung heben wir uns auf. Übrigens – Boiensdorfer Werder – ist das nicht die Stelle, wo Doc Brandenburg damals die alte Frau mit dem Handwagen traf, als er mit seiner Frau und seinen Enkeln dort war? Brandenburg ist damals auch Kajak gefahren. Da war doch was.«

»Ja«, sprang ihr Annika bei.

»Damals lief die Sache am Grundlosen Moor zwischen Hohenfelde und Retschow.«

»Hey, dein Gedächtnis möchte ich haben.« Mit Bewunderung und fast mütterlichem Stolz sah Kerstin Semlock zu ihrer jungen Kollegin Annika Strehlow herüber. Ihre Blicke trafen sich kurz, um sich gepaart mit einem Lächeln gleich wieder zu trennen.

Die Suchaktionen liefen an. Ein Team von Ermittlern und Kriminaltechnikern fuhr sofort über Neubukow, Rakow und Pepelow nach Boiensdorf. Die Straße senkte sich im Ort und in der Linkskurve bog das Einsatzfahrzeug rechts ab. Noch vor Boiensdorfer Werder stießen sie auf einen Wohnmobilstellplatz mit kleiner Infrastruktur: Kiosk, Toilettenhäuschen, Entsorgung von Grau- und Schwarzwasser, Parkautomaten, Schranke und einige locker verteilt stehende Camper. Der Stellplatz war durch eine hohe Baumgruppe vom Ufer des Salzhaffs abgetrennt. Von dem gesuchten Pkw keine Spur. Zwischen zwei Wohnwagen kam ihnen ein Mädchen entgegengelaufen. »Suchen Sie die Polizei? Die sind weitergefahren. Da ist noch ein Parkplatz.« Sie wies in Richtung Boiensdorfer Werder.

»Dankeschön« riefen die Beamten zurück und setzten sich wieder in Bewegung. Nach 500 Metern fand sich tatsächlich ein weiteres Parkplatzschild. Sie bogen nach rechts in eine unscheinbare Auffahrt und sahen sofort den unter Bäumen abgestellten Skoda. Daneben ein Streifenwagen, dessen Besatzung froh über die Ablösung war und sich entfernen wollte.

»Moment«, rief Kerstin Semlock. »Wann habt ihr den Wagen festgestellt? Habt ihr etwas verändert? Gab es in der Zwischenzeit Personenbewegungen? Wie können wir euch wieder erreichen? Den Bericht bitte direkt morgen auf meinen Tisch!«

Damit entließ sie die beiden Polizeiobermeister und wandte sich dem Fahrzeug zu. Ein ruhiges Bild. Die Türen und Fenster waren verschlossen. Keine Beschädigungen. Die Sichtblende des Kofferraums vorgezogen. Montierte Dachträger. Soweit man durch die Scheiben sehen konnte, auf der Rückbank eine dunkle Jacke. Davor im Fußraum ein Zurrgurt mit der Aufschrift Paddelcenter. Die Handbremse gelöst, offenbar eingelegter zweiter Gang. In der Mittelkonsole ein Kugelschreiber und die Karte eines Wertstoffhofes. Ein am Sonnabendabend um 22:00 Uhr abgelaufener Parkschein an der Innenseite der Frontscheibe. Kein Strafzettel. Auf den ersten Blick nichts Ungewöhnliches. Kommissarin Semlock blickte zu Kriminaltechniker Gernot Stahl. Nach Übersichtsaufnahmen und Nahaufnahmen vom Fahrzeug nahm er von den Türgriffen Fingerabdrücke. Dann öffnete er routiniert das Fahrzeug. Sie ging derweil auf die Uferzone zu und ließ ihren Blick schweifen. Vor ihr lag das Salzhaff. Das Wasser war ruhig. Am Spülsaum aufgeschwemmtes Seegras oder Tang in graubraunen, beinahe gebirgig geformten Haufen, leicht muffig riechend. Der Strandsand fein. Einige kleinere Steinpackungen ragten wie halbherzig gelegte Buhnen wenige Meter senkrecht zur Uferlinie in das Wasser hinein. Rechts in der Ferne die Konturen des Ostseebades Rerik. Gerade rüber die Halbinsel Wustrow mit ihrem hohen Baumbestand. Sie blickte etwas weiter nach links. Ein Schwanenpärchen zog in Richtung des Schilfgürtels von der Halbinsel Boiensdorfer Werder. Weit draußen eine Boje, deren Bedeutung sie nicht erkennen konnte. In der Ferne halb links der Horizont unruhig. ›Ist das Land oder Ostseewelle oder was‹, dachte sie. Alles machte einen friedlichen Eindruck. Richtung Pepelow übten einige Surfer und Kiter. Am Ufer Familien mit Kindern, die offenbar zu den wenigen Autos gehörten, die sich noch auf dem Parkplatz befanden, vielleicht auch zu den zwei Wohnmobilen. Sie ging zurück zum Auto von Torsten Tengler und wies ihre Kollegen an, die Personen im näheren Umfeld festzustellen und zu dem Skoda Octavia zu befragen. Gernot Stahl hatte inzwischen die Fahrertür geöffnet. Das Wageninnere blieb unauffällig. Im Kofferraum fand sich unter der Abdeckung eine Kunststoffkiste mit Ersatzgurten, einem kleinen Pfadfinderkompass, einer gefalteten Not-Toilette für Kajakfahrer und ein paar dünnen Arbeitshandschuhen.

»Gernot, hast du die Karte dabei? Was ist das da drüben für eine Unruhe am Horizont, links neben Halbinsel Wustrow?«

Gernot Stahl klappte sein Smartphone aus und ließ sich die Gegend anzeigen. »Wir sind hier an der Markierung. Das da drüben müsste dieser lange schmale Sandhaken sein, der von der Halbinsel ausgeht. Der verläuft fast genau in Nord-Süd-Richtung und hat am Ende so ein kleines Schwänzchen, hier als Kieler Ort bezeichnet. Zwischen dem Sandhaken und der kompakten Halbinsel liegt eine Bucht. Die Kroy. Sie hat Anschluss an das Salzhaff.«

»Schön ermittelt, Gernot. Gut, einer von euch wird das Auto kurzschließen oder sonstwie starten und zur DEKRA nach Rostock bringen. Die sollen aber noch nichts damit machen.« Sie wandte sich wieder dem weiten Blick über das Haff zu. Es blieb stumm und verriet nichts über Torsten Tengler.

Am späten Nachmittag rief Kommissarin Semlock Staatsanwältin Franziska Kernbach an, um über die bisherigen Ermittlungen zu berichten.

»Es wird Zeit, dass Sie sich melden. Ich habe Ihren Anruf früher erwartet und nicht erst, wenn ich schon im Mantel stehe.«

»Nun mal langsam, wir sind eben erst aus Boiensdorf zurück. Dort steht der Pkw von Kommissar Tengler auf einem Parkplatz am Haff. Bisher keine Hinweise, was mit ihm sein könnte. Sicher scheint nur, dass er mit dem Kajak rausgefahren ist. Wir brauchen den Heli und die Wasserschutzpolizei, um die Gegend abzusuchen, die Tengler im Rahmen einer Tagestour erreichen konnte.«

»Ok, da gehe ich mit. Veranlassen Sie das. Vergessen Sie in Ihrem Eifer bei der Tengler-Suche nicht die anderen beiden Fälle! Gibt es da schon etwas Neues?«

»Nein, noch nicht«, antwortete Kerstin Semlock. »Wir prüfen in jedem Fall eventuelle Zusammenhänge. Vordergründig tut sich da nichts auf, aber manchmal gibt es ja auch Hintergründe.«

»Sie sind ja heute so tiefgründig, Frau Semlock!«

»Nur heute?« Kerstin Semlock wusste, dass es wieder zu einem Wortscharmützel kommen könnte.

»Ich würde Ihre Neigung, mal vordergründig, mal hintergründig oder mal tiefgründig zu sein, besser nachvollziehen können«, legte die Staatsanwältin vor.

»Da müssten wir uns besser kennenlernen«, entgegnete Kerstin Semlock.

»Ich glaube, wir versteigen uns jetzt, Frau Kommissar.«

»Glaube ich auch. Dann mal einen schönen Tag noch. Melde mich morgen wieder.«

Kapitel 9
Hello again

Am gleichen Dienstagnachmittag machte sich Dr. Brandenburg auf, um die mit seiner Frau besprochenen Einkäufe zu erledigen. Gegen 18:00 Uhr bog er mit seinem Auto von Rostock kommend kurz vor Sievershagen zum Ostseepark ab. Er verließ den kleinen Kreisverkehr nach links, um möglichst dicht vor dem Eingang zu parken. Auf dem Einkaufszettel stand unter Butter, Wurst und Käse ein Speicherstick, den er sich kaufen wollte. Auf dem sollten Vorlesungen und öffentliche Vorträge als Sicherheitskopie Platz finden. Er stieg aus dem Auto. Das rechte Knie knackte wie immer, blieb jedoch schmerzlos, sodass er dieses kleine Signal nur als freundlichen Hinweis betrachtete. Dann schlenderte er zur Drehtür, folgte dem viel zu langsamen Lauf dieser Konstruktion, bis sie ihn in das Gebäude ließ. Auf dem breiten Flur angekommen, ging er sofort nach links in den Elektromarkt. Die übliche Geräuschkulisse. Die Regale waren mal wieder umgestellt worden, sodass er Mühe hatte, sich zu orientieren. ›Hier müsste es sein.‹ Er wollte einen Mann in blauer, verwaschener Jeanskleidung umgehen, als dieser sich ihm in den Weg stellte.

»Entschuldigung, dürfte ich mal bitte …«, fragte Dr. Brandenburg mit einer üblichen Floskel.

»Herr Doktor, warum so eilig?«

Dr. Brandenburg schaute ihn überrascht und fragend an. »Bitte? Kennen wir uns?«

»Wir haben schon einige Zeit miteinander verbracht«, entgegnete die Person.

Dr. Brandenburg wich verwundert zurück. Ein großer, schlanker, kräftiger Mann. Kurzes, gepflegtes Haar, feste Gesichtszüge.

Ein kleines Mädchen rief ihm zu »Papa komm jetzt!«

»Ich stehe auf dem Schlauch, wie man so sagt. Helfen Sie mir mal. Ich weiß nicht, wo ich Sie hinstecken soll.« Der Mann genoss die Unsicherheit von Dr. Brandenburg.

»Vielleicht hilft es Ihnen, wenn ich sage, dass ich mir gerade eine Spiegelreflexkamera aussuche?«

»Oh«, rief Dr. Brandenburg als Ausdruck wirklicher Überraschung. »Amtsgericht Rostock vor ein paar Tagen.«

Sein Gegenüber grinste zu breit, um es noch sympathisch zu finden.

»Ich war dort wohl etwas zu heftig in meiner Reaktion«, versuchte Dr. Brandenburg abzumildern.

»Nein, nein. Eigentlich ganz entsprechend meiner Erwartung.«

»Ich verstehe nicht. Ich sage Ihnen auf den Kopf zu, dass Sie kein Journalist sind, das auch noch ziemlich barsch, entferne mich nahezu grußlos, eher mit einer Gestik der Verachtung und Sie haben das erwartet?«

»Sicher. Ich weiß selbst, dass ich kein Journalist bin und natürlich werde ich mir nicht eine teure Spiegelreflex kaufen, nur weil unser Zusammentreffen mit Ihrer Empfehlung dazu so endete.«

Die komplizierte, aber wohl gesetzte Wortwahl ließ Dr. Brandenburg aufhorchen.

»Dann frage ich Sie jetzt direkt, wer Sie sind«, gab er mit wieder gewonnener Sicherheit zurück.

»Dann überlegen Sie mal. Es ist ein paar Jahre her und das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.«

Mit diesen fast wie eine Drohung wirkenden und beinahe scharf gesprochenen Worten folgte der Mann dem ungeduldigen Zerren seiner kleinen Tochter, drehte sich weg, hob die Hand wie zum Gruß und ging, ohne dabei zurückzusehen, als wolle er die Szene neulich im Amtsgericht spiegeln.

BRB blieb verblüfft und irritiert zurück.

Seine Gedanken kreisten. Er sah sein inneres Eventregister durch. Die ihn umgebenden Kunden, ihr Kommen und Gehen, ihr Suchen nach einem Mitarbeiter des Marktes, ihr Fragen und Erzählen nahm er nicht mehr war.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Er reagierte nicht gleich.

»Suchen Sie etwas Bestimmtes?«

»Ach, Entschuldigung, ich war in Gedanken. Ich suche einen Speicherstick.«

»Sie stehen davor.«

»Ja, manchmal sieht man den Wald …«

»… vor lauter Bäumen nicht«, ergänzte der Mitarbeiter.

»Sie sagen es … vielen Dank.«

BRB suchte sich sein Speichermedium in der gewünschten Größe. Dann glitten seine Gedanken wieder zu der Begegnung, die ihn weiter beschäftigte. Er begab sich kopfschüttelnd langsam zur Kasse, ohne aus dem Rätselmodus herauszukommen.

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