Kitabı oku: «Grundloses Moor», sayfa 2

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Kapitel 4
Kammerhof

Falk und Mirko versuchten, sich klar im Kopf zu machen und begossen ein ums andere Mal ihre Gesichter mit kaltem Wasser.

»So sauber hast du lange nich’ ausgesehen«, krakeelte Mirko. »Vielleicht noch die Krawatte um den Hals?«

»Ich dreh dir deinen Hals gleich um, du Knaller. Lass den Schlips in Ruhe. Der soll noch von unserm Alten sein.«

»Mir doch egal«, nölte Mirko zurück und schleuderte das seidige Band mit dem altmodischen Karomuster Richtung Fenster, wo es auf dem Heizkörperventil hängen blieb.

Das sogenannte Wohnzimmer war übersät mit leeren Flaschen, Konservendosen, aus denen lediglich schmutzige Löffel ragten, und angeschimmelten Essensresten auf verdreckten Tellern. Auf dem Couchtisch korrespondierte ein überfüllter Aschenbecher mit zwei braunschwarz verfärbten Kaffeetassen. Zwischen Radio, Fernseher und Steckdose neben der Tür hingen girlandenartig Elektrokabel. Die Tapeten, die Vorhänge, die Lampenschale über dem Tisch waren vom Zigarettenrauch vergilbt.

»Komm jetzt, ich will los«, herrschte Mirko seinen Bruder an.

»Wir ham noch Zeit, Mann. Das schaffen wir dicke.«

Beide nahmen noch ein paar kräftige Schlucke Bier, zogen die Wohnungstür leise zu und tappten vorsichtig die Treppen hinunter, als wäre dies schon der erste Teil der zu erledigenden Aufgabe, die sie noch nicht kannten. Sie überquerten die Nienhäger Chaussee, gingen Richtung Thünenhof und dann vor zur Randstraße. Nun blieben nur noch einige hundert Meter, bis links die Kläranlage in Sicht kam.

»Walkenhagen is ungenau«, sagte Falk. »Dat kann sonst wo hier sein.«

»Lass gut sein«, entgegnete Mirko. Er schaute auf die Uhr: zehn vor elf.

»Wir stehen jetzt ziemlich im Dunkeln. Da vorne wird es heller. Wir können im Moment besser sehen als die«, analysierte Falk.

»Wieso dat denn? Wenn’s bei denen heller is, können die doch besser gucken!«

»Setzen, fünf!«, fuhr Falk fort. »Die gucken vom Hellen ins Dunkel schlechter als wir umgekehrt.«

»An dir is irgendwas verloren gegangen«, stellte Mirko anerkennend fest.

Beide gingen langsam weiter und näherten sich der Kurve vor dem Anstieg zur Jet-Tankstelle und zum Fahrradladen. Vor Beginn der bewachsenen Lärmschutzwand blendete plötzlich von rechts ein Scheinwerferpaar die Brüder, die wie angewurzelt stehen blieben. Der Wagen stand auf dem schmalen Anliegerweg und war durch den Blendeffekt nicht auszumachen. Die Kontur eines großen, kräftigen Mannes schob sich in den Lichtkegel. Falk und Mirko waren erleuchtet, als ob sie die Hauptrolle in einem Theaterstück spielen sollten, und rührten sich nicht. Die Sprechrolle übernahm ihr Gegenüber. »Okay, ihr seid pünktlich gekommen. Nun könnt ihr wieder gehen!«

Die beiden schauten sich fragend an.

»Wir wollten nur sehen, ob ihr funktioniert. Morgen das Gleiche, dann aber keine Übung.«

»Wieder hier?«, fragte Falk scheu.

»Sagte ich doch, das Gleiche.« Damit stieg der unheimliche Geselle zurück in den Wagen. Der rollte langsam vor zur Straße, bog nach rechts und verschwand.

Die beiden standen wie begossene Pudel und ratlos wie bestellt und nicht abgeholt nebeneinander. Falk erlangte zuerst seine Fassung zurück. »Dat is wat Ernstes, du. Dat is viel Geld für wat Großes. Dat machen wir. So eine Gelegenheit würde sich keener entgehen lassen. Dat is dat ganz große Geschäft und wir sind dabei«, monologisierte er vor sich hin, dabei andächtig den Blick zu den Sternen gehoben.

»Du machst mir Angst.« Mirko musterte seinen Bruder scheu.

Kapitel 5
Grundloses Moor

Feiner Niesel perlte von den Dächern der verschlafenen Kleinstadt, die, umgeben von Feld und Wald, Fremde ins Schwärmen brachte und Einheimische all das Schöne nicht mehr sehen ließ, weil es sie täglich umgab. Dazu die Ostseenähe. Heiligendamm, Kühlungsborn und Rostock waren auch nicht weit. So hatte Bad Doberan nach dem Mauerfall punkten und sich wenigstens zu bestimmten Tageszeiten eine gewisse Quirligkeit bewahren können. Mit ihrem Einkommen auszukommen, war für viele hier dennoch eine Herausforderung.

Die Herbstnebel legten sich schwer wie eine Schleppe auf alles, was menschlichen Ursprungs war. Hannes Köster stemmte sich gegen den großen Trend, wegzugehen. Die wenigen noch über die Schulzeit mit dem Ort verbundenen Jugendlichen waren sich zumeist einig, dass ihre Zukunft eine andere Überschrift bekommen sollte. Waren es die Eltern und Großeltern, die ihn seit Kindertagen umsorgten, oder hielt ihn das Vertraute in seiner Umgebung? Oder eben alles zusammen? Wie immer gab es auf schwere Fragen keine leichten Antworten. Vielleicht hatte auch der Tischlermeister, der mit seinem Vater gut bekannt war, den Ausschlag gegeben. Hannes hatte sich entschieden, zu bleiben und eine Tischlerlehre zu beginnen. Die Fahrten zur zwanzig Kilometer entfernten Berufsschule »in die Stadt«, wie man sagte, würden ohnehin viel Neues bringen. Das würde ihm als erste vorsichtige Loslösung von zu Hause genügen. Und bisher ging diese Rechnung auf. Sein Lebensrhythmus brachte ihm zwar keine Sensationen, aber dafür auch keine Entfremdung von dem, was ihn so viele Jahre umgeben und geprägt hatte.

Der heutige Tag schien ihm ideal. Die Eltern waren für eine Woche zu einer Städtereise in die Eifel gefahren, sollten aber morgen wieder zu Hause eintreffen. Der Nachmittag frei. Er war allein und niemand würde ihn etwas fragen, worauf er nicht antworten wollte. Gegen die Feuchte des herbstlichen Tages halfen eine dunkle Regenjacke mit Kapuze und wasserdichte Schuhe, die er sich vom ersten selbst verdienten Geld geleistet hatte. Wer billig kauft, kauft zweimal. Diese und andere Lebensregeln waren tief eingeprägt. So legte er Wert auf gutes Zeug, was dann eben zu pflegen und zu hegen war. Er nahm sich eine Taschenlampe, unnötig zu erwähnen, dass es ein Markenprodukt war, griff sich das Smartphone, ging zur Tür, steckte dabei seinen Schlüsselbund in die linke Hosentasche und machte auf dem Absatz kehrt, um noch einen Kugelschreiber zu fassen, der auf dem Schränkchen im Flur herumlag. Nun hatte er alles, stieg auf sein Fahrrad und fuhr zum Alexandrinenplatz, von dort Richtung Bahnhof, über die Eisenbahnschienen den Berg zum Moorbad hoch, weiter bis Hohenfelde und dann rechts Richtung Retschow. Die Tour war ihm willkommen, eine schöne Trainingsrunde, denn der Radweg und die Straße stiegen immer leicht an und seine von Holzstaub gemarterten Lungen freuten sich über Frischluft. Hinter Hohenfelde wurde es einsam, die Straße schmal und gewunden, zum Teil wie ein Hohlweg, der oben angekommen, mit einem weiten Blick übers Land belohnte. Sein Ziel war das Grundlose Moor. Viele wussten nichts von seiner Existenz, von diesem einzigartigen Biotop, gleich rechts in einer von Hochwald umgebenen Senke. Kurz hinter der Waldkante rechts ein abgehender Weg. Die Zufahrt durch eine Schranke versperrt. Er winkelte sich und sein Fahrrad an der Schranke vorbei, schob noch ein paar Meter, entschied sich dann aber, das Gefährt abzustellen. Mehrere Bäume, die ein von Nordwest eindrückender Sturm irgendwann umgestürzt hatte, zwangen ihn durch das angrenzende Dickicht. Ein Weiterfahren war unmöglich. Hannes Köster bog Gesträuch zur Seite, stieg über Stämme und kämpfte sich zurück auf den in die Senke hinunterführenden Weg. Es ging steil bergab. Auf dem Uferweg des Grundlosen Moores angekommen, lief er nach links. Das nasskalte Wetter ließ seine Konturen schnell mit denen des Baumbestandes verschmelzen. Der Boden war schwer und weich, mit Laub bedeckt. Die guten Schuhe taten ihren Dienst. Ein mäßiger Wind wogte durch die Baumwipfel, die sich synchron und in bäumischer Einigkeit bewegten. Ein auf- und abschwellendes Rauschen nahm Besitz von ihm. So brachte es zugleich meditative Ruhe und ein unheimliches Gefühl. Hannes Köster lief einer Richtung nach, die ihm das Display seines Smartphones vorgab. Noch 170 Meter. 150. 120. Wie ein Countdown war die Annäherung an das Ziel programmiert. Noch zehn Meter. Hannes drehte sich und war nur umfangen von dem Grau des Waldes und dessen Stimmen. Ach ja, der Hinweis. Er tickerte sich zurück zur Beschreibung des Zieles und decryptierte ihn. Willst Du es erblicken, krümm den Rücken! Damit war klar, dass er nicht an den Baumstämmen hinauf suchen musste, sondern am Boden. Die abzulaufende Luftlinie war zu einem Punkt geschrumpft. Hier musste es irgendwo sein. Er ging vorsichtig einige Meter nach links, hockte sich in das Unterholz und ließ seinen Blick schweifen. Neben einem schon lange liegenden, vergessenen Baum, dessen Wurzelteller hoch aufragte und dessen Stamm zahllose Käferwohnungen wie in einer Reihenhaussiedlung bot, lagen zwei zum Teil von Laub bedeckte Brettchen, wie sorgsam nebeneinander gelegt. Das war kein Zufall.

Er wollte sie soeben anheben, als das Unterholz hinter ihm knackte und das Laub mit seinem Rascheln eiligen Schritten nachgab. Es war zu spät. Als er sich den Geräuschen zuwandte, spürte er schon einen dumpfen Schlag, der seinen Hals von vorn traf und seine Sinne auf eine ferne Reise schickte, die im Dunkel endete. Die in der Überraschung verdrehte Körperhaltung verlor ihre Spannung. Sein Körper erschlaffte und schmiegte sich an den Waldboden. Die Schritte einer Person, deren Annäherung er zu spät bemerkt hatte, entfernten sich von seinem Körper ebenso wie das Leben. Sie hatten es ihm genommen, ansatzlos, respektlos. Wie viel von unserem Leben wird darauf verwendet, neues Leben zu geben und zu bewahren? Wie viel Menschsein ist nötig, um einen Menschen zu formen? All das wie wegradiert, ausgeknipst. Jahre voller Hingebung, Liebe und Sorge gegen einen Schlag, nicht länger als ein Mausklick.

Kapitel 6
BRB im Einsatz

Doktor Karsten Brandenburg, seine Freunde und Kollegen nannten ihn einfach »BRB«, war im dreißigsten Dienstjahr Rechtsmediziner und nicht mehr so aufgeregt wie in den frühen Achtzigern, wenn es zu einem Einsatz ging: an einen Tatort, zur Polizeidienststelle oder in ein Krankenhaus. Er hatte es nie bereut, Rechtsmediziner geworden zu sein. Er hatte sich mit seinem Beruf identifiziert. Das war seine Hingabe, seine Erschöpfung und sein Quell. Am Beginn erlebte er Rechtsmedizin jedoch wie eine Invasion, die sein Innerstes erreichte. Sie schlug wie eine Brandung der schrecklichsten Bilder und Gerüche gegen einen viel zu weichen Wall seiner bis dato behüteten Biologie. Er hatte mal eine Famulatur in der Gerichtsmedizin gemacht, wie es damals hieß. Die Siebziger- und Achtzigerjahre waren noch keine Hochglanzzeiten. Die Laborarbeit wurde oft von Idealismus und Improvisationsgabe getragen. Heute gibt es alles fertig. Gebrauchslösungen müssen nicht erst zusammenpipettiert werden. Einmalbestecke und computergesteuerte Analytik gestalten die Arbeit effizienter. Damals wurde die Musik sozusagen noch von Hand gemacht. Im Sektionssaal ganz ähnlich. Es gab ein Sektionsteam, vormittags in Rostock und nachmittags auf Außentour nach Teterow, Güstrow, Wismar, Grevesmühlen, Schönberg. Ihm gefiel das Wir-Gefühl dieser Truppe, das Praktische, das Handfeste. Dazu kam der Mix aus Morphologie, Toxikologie, Genetik, Psychiatrie, Tatortarbeit und Gerichtsverhandlungen. Die Jahre brachten ihm eine Balance in einer fein austarierten Distanz zwischen der nötigen Nähe, um arbeiten zu können, und der nötigen Ferne, um nichts mit nach Hause zu nehmen. Diese Balance zu halten, war eine immer neu zu erbringende Leistung. Bei jedem Fall war es anders, mal fiel es leichter, mal schwerer. Mal ging es an die »Substanz«, mal gewann er auch dazu und verpackte sich einen Erfolg so, dass er von ihm zehren konnte.

Brandenburg war soeben nach Hause gekommen, nach Bad Doberan, und wollte sich eigentlich um Haus und Hof kümmern. Winterreifen, Frostschutz, Außenwasserhahn ablassen, Hecke schneiden, all solche Sachen, die man im Spätherbst auf der Agenda hatte. Da klingelte das Telefon. Während er seinen linken Arm in seine Dienstklamotten fädelte, diente der rechte zum Telefonieren, zum schnellen Zurechtlegen eines Bissens und eines Schluckes Kaffee, den er sich gerade gebrüht hatte. Türkisch und »schwarz wie meine Seele« bestellte er ihn sonst. Sein Dienstkoffer stand schon im Auto bereit und er war es nach wenigen Minuten auch.

Er fuhr, wie ihm am Telefon beschrieben, von Bad Doberan über Hohenfelde in Richtung Retschow. Ziel war der östliche Uferweg des Grundlosen Moores, wie Brandenburg wusste, ein Verlandungsmoor, welches in der letzten Eiszeit entstanden war. Kurz hinter Hohenfelde löste sich im Scheinwerferlicht eine Gestalt mit reflektierender Warnweste und erhobener Kelle vom Fahrbahnrand. Er hielt und öffnete die Seitenscheibe.

»Polizeiobermeister Katuschewski. Doktor Brandenburg?«

»Yep.«

»Der Ereignisort ist schlecht zu finden. Ich fahre vor, folgen Sie mir bitte!«

»Yep.«

An der Kreuzung, links die Straße nach Ivendorf, ging es rechts auf einen welligen, ausgefahrenen Waldweg, der die Federwege seines höhergelegten Allradlers langsam ausreizte. Der Polizist stoppte. »Von hier sind’s 200 Meter Uferweg. Sehen Sie da hinten die Lichter? Haben Sie eine Lampe dabei?«

»Yep.« Dieses etwas kesse »Yep« hatte er von seiner ältesten Enkelin, die langsam aber sicher einen eigenen Kommunikationsstil entwickelte, dessen flinke Frische er liebte. Brandenburg stieg aus. Jacke zu, Mütze, Handschuhe, Dienstkoffer, und dann stiefelte er über den laubbedeckten Weg und traf an einer Absperrung auf eine Gruppe Kriminaltechniker in weißen Overalls. Er notierte sich die Ankunftszeit: 18:45 Uhr.

»Moin, Doc«, rief einer aus dem Dunkel, »immer die Gleichen.«

Gelächter aus dem Umkreis. Lichtkegel aus irgendwelchen Funzeln huschten durch den Wald. Nasse Kälte kroch schon jetzt in die Socken und versprach, es sich dort gut gehen zu lassen.

»Wie weit seid ihr?«, rief Brandenburg in die Runde. »Was liegt an?«

Einer der Männer outete sich als Untersuchungsführer und fasste den bisherigen Kenntnisstand zusammen. »Heute gegen 16:20 Uhr haben Pilzsammler etwas gefunden, was nicht in den Korb passte.«

Wieder Gelächter. Man hatte sich einen Jargon angewöhnt, der nicht für jedes Ohr bestimmt war. Brandenburg kannte das. Es war für ihn in Ordnung. Das gab es in jeder Berufsgruppe und jeder wusste natürlich, dass man sich offiziell und gar im Kontakt mit Angehörigen oder im Termin anders ausdrücken würde.

Der Kriminalbeamte fuhr fort: »Von der Straße aus gibt es zwei Zuwege. Den einen sind wir alle eben gekommen. Der andere geht weiter oben hinter der Waldkante von der Straße ab. Da steht ein scheinbar herrenloses Fahrrad. Die Pilzsammler haben uns darauf hingewiesen, sonst wäre das nicht aufgefallen, ist von hier nicht einsehbar. Wenn sich in der nächsten Stunde keiner findet und das hier ein Tatort werden sollte, machen wir aus dem Fahrrad eine Spur, kleben das ab und nehmen es mit. Von hier aus gesehen, gleich rechts neben dem Weg, dicht bei einem entwurzelten Baum liegt eine männliche Leiche im Unterholz. Zwischen dem Körper und dem Moorgebiet verläuft der Uferweg. Die Körperhaltung etwas verdreht, fast wie eine stabile Seitenlage. Der Oberköper liegt auf der rechten Seite, der rechte Arm darunter nach hinten gestreckt. Die Knie- und Hüftgelenke leicht angewinkelt, dabei das rechte Bein stärker und unter dem linken Bein nach vorn ragend. Die Kleidung witterungsgerecht, kaum verschmutzt. Es sieht nicht so aus, als wäre er im Moor gewesen. Kein Schaumpilz. Die Kapuze der dunklen Regenjacke nach hinten geschoben, mit Antragungen wie von Blut. Bluttypische Anhaftungen auch am behaarten Hinterkopf und am feuchten Laub darunter.«

»Ist die Identität klar?«

»Noch nicht. Wir haben noch nichts verändert. Bisher ist das nähere Umfeld fotografiert. Der Notarzt war hier, den haben die gleich gerufen und der hat den Tod festgestellt, aber keine eigentliche Leichenschau durchgeführt, weil es sich offenbar um einen gewaltsamen Tod handelt. Irgendwas am Hals. Dann wurden wir informiert und dann Sie. Mehr ist noch nicht gelaufen.«

»Okay«, entgegnete Brandenburg, »kann ich ran?«

»Im Prinzip schon, wir haben überlegt, ob wir mehr Licht holen sollen?«

»Die Taschenlampen sollten erst mal reichen. Ich gehe davon aus, dass der Auffindungsort ohnehin bei Tageslicht noch einmal aufgearbeitet wird?«

»Ja, anders geht’s nicht.«

»Wir machen jetzt gemeinsam die Leichenschau und entscheiden, was weiter hier und was morgen im Sektionssaal gemacht werden sollte.«

Doktor Brandenburg steckte mittlerweile in einem Overall mit Kopfschutz und streifte sich Gummihandschuhe über. Er näherte sich dem Leichnam auf einer deutlich heruntergetrampelten Route, die von Kriminaltechnikern freigegeben war. Zunächst versuchte er, vorsichtig die Ellenbogen- und die Kniegelenke des Toten zu bewegen, um sich schon jetzt einen Eindruck von der Leichenstarre zu verschaffen. Die war nur mittelgradig ausgeprägt, sodass die Arme und Beine nach kräftigem Druck nicht komplett in ihre Winkelstellung zurückfederten. Er drehte den Leichnam auf den Rücken und begann, die Oberbekleidung zu öffnen, ohne sie zu beschädigen. In der linken Innentasche der Jacke fand sich eine Geldbörse, darin zum Glück ein Personalausweis. Ein schneller Lichtbildvergleich ließ keine Zweifel aufkommen. Man konnte davon ausgehen, dass es sich bei dem Verstorbenen um einen Hannes Köster aus Bad Doberan handelte. Somit war die Identität geklärt. Das war ja schon mal was. Der Untersuchungsumfang bei unbekannten Toten war erfahrungsgemäß sehr groß. Nun würden die Ermittler natürlich schneller vorankommen.

Wie schwer es sein musste, Angehörigen mit dem nötigen Feingefühl zu sagen, dass etwas passiert war. Er mochte nicht in die Rolle desjenigen schlüpfen, dem das zukam. Das Rauschen des Windes und der Ruf eines Waldkauzes verdrängten diese Gedanken und riefen ihn zurück. Er öffnete alle Kleidungsstücke so, dass die Körperoberfläche und die Körperöffnungen einsehbar waren. Die Kriminaltechniker leuchteten ihm und dokumentierten den Fortgang der Untersuchung. Brandenburgs Rücken schmerzte bald, weil er seine gebückte Haltung beibehalten musste. Die Totenflecke in den tiefliegenden Körperabschnitten waren lagegerecht ausgeprägt und auf mittleren Fingerkuppendruck abblassend. Er fluchte kurz auf, als der rechte Gummihandschuh an einem Zweig hängen blieb und zerriss. Er bat um einen neuen und begann Kösters Kopf zu inspizieren. Kräftiges Betasten der Schädeldachknochen ergaben keine widernatürliche Beweglichkeit. Auch das Gesicht wirkte intakt, die Haut unverletzt. Die Augenbindehäute rechts mit etwas vermehrter Blutgefäßzeichnung. Keine Einblutungen. Die Schleimhaut des Mundvorhofes und der Wangen ohne Einblutungen, insbesondere entlang der Zahnreihen. Die Zähne fest. Das Lippenbändchen intakt. In der Mundhöhle wenig blutiger Schaum. Sonst keine ortsfremden Inhalte. Die Ohrmuscheln intakt. Die Gehörgangsöffnungen frei. Die Halswirbelsäule fest, die Halshaut vorn jedoch mit unregelmäßig geformten Hautverfärbungen. Auffällig auch, dass die Konturen des Kehlkopfes weich eindrückbar waren. Das Kehlkopfskelett, soweit unter diesen Bedingungen beurteilbar, wirkte mobilisiert. Alle anderen Körperabschnitte unauffällig, insbesondere die Handflächen, Handrückseiten, Fingernagelkanten und Unterarmstreckseiten ohne Verletzungen. Messung der Körperkerntemperatur: 31 Grad Celsius, Umgebungstemperatur: zehn Grad Celsius, Messzeit: 24. Oktober, 19 Uhr. »Mehr möchte ich jetzt hier nicht machen. Die Todesursache kann mit der nötigen Sicherheit erst im Ergebnis der Obduktion bestimmt werden. Es sieht so aus, als ob es eine massive stumpfe Gewalt gegen den Hals von vorn gab. Der Kehlkopf ist weich, vielleicht gebrochen. Das müssen wir präparieren. Die Halshaut ist verletzt. Wenn wir morgen obduzieren, wird sie dort mehr eingetrocknet und kontrastreicher verfärbt sein, wo Hautschichten verletzt wurden. Die Hautbefunde sind dann bestimmt deutlicher ausgeprägt. Kein Anhalt für andere Arten von Gewalt. Kein Anhalt für Gegenwehr. Das muss sehr schnell gegangen sein. Die Kleidung ist weitgehend sauber und intakt. Sieht nach Fremdeinwirkung aus. Mir fällt nicht ein, wie er sich die Verletzungen anders zugezogen haben sollte. Ich würde das Ganze hier zu einem Tatort machen. Als Tatwerkzeug kommt ein schwerer Gegenstand infrage. Ein Knüppel vielleicht; möglich wäre aber auch ein Schlag oder ein Tritt. Falls Haut auf Haut getroffen sein sollte, wäre eine wechselseitige Behaftung mit Fremd-DNA zu erwarten. Einen Blutverlust nach außen sehe ich nicht. Irgendwer hat doch vorhin was von Blut am Kopf und am Laub erzählt?«

»Ja … nee, das war nur so ein Gedanke vom Notarzt.«

»Der hat ihn sich doch gar nicht gründlich angesehen«, entgegnete einer der Männer.

»Der muss die Befunde am Hals gesehen haben«, sagte Brandenburg. »Wie käme er sonst auf einen gewaltsamen Tod. Dazu muss er schon dicht herangegangen sein, sonst wäre ihm das nicht aufgefallen. Also ganz so schlecht war der nicht! Habt ihr sonst noch was gefunden?«

»Nein, noch nicht, wir haben aber auch bei der Dunkelheit noch nicht alles gründlich absuchen können. Machen wir morgen. Die Zuwege werden bis dahin gesperrt. Außerdem sollen die Hunde ran. Wir haben keine Zeugen.«

»Habt ihr den Bestatter informiert?«

»Der ist unterwegs.«

»Den Totenschein schreibe ich morgen im Saal«, rief Brandenburg. »Die Todeszeitschätzung auch morgen, wenn ich ihn gewogen habe. Das wird wohl so der frühe Nachmittag gewesen sein. Lasst uns aber jetzt und nicht erst morgen Abriebe von der Halshaut für molekulargenetische Untersuchungen anfertigen und die Fingernagelkanten nicht vergessen. Das muss jetzt. Und noch eins«, rief er dem Kriminaltechniker zu, »wenn ihr die Hände eintütet, bitte keine Plastiktüten, sondern Papier, damit die nicht schwitzen!«

»Alles klar, Doc.« Sie würden die Hände ohnehin gleich hier abkleben, damit auf dem Transport keine Spuren verloren gingen.

Brandenburg legte den Verstorbenen vorsichtig in seine ursprüngliche Lage zurück, als neben der rechten Hand ein flacher Gegenstand das Lampenlicht reflektierte. »Stopp mal, ich hab hier noch etwas! Bitte ein Foto. Er wies auf eine silbrig glänzende, kantige Kontur. Der Kriminaltechniker stellte eine Nummer daneben, fotografierte und Brandenburg strich das Laub vorsichtig zur Seite. »Ein Smartphone, scheinbar nicht beschädigt. Hätten wir fast nicht gesehen. Habt ihr eine Tüte? Dann her damit und rein damit!«

Brandenburg erhob sich, klappte seinen Dienstkoffer zu und stelzte vorsichtig aus dem sensiblen, inneren Bereich des Tatortes. Dann drehte er sich um: »Ach, noch etwas, meine Herren« und erinnerte an Columbo, dem auch immer noch eine letzte Frage einfiel. »Wie bezeichnet ihr den Auffindungsort? Ich brauche für die Todesbescheinigung eine genaue Ortsangabe. Einfach nur ›Grundloses Moor‹ reicht nicht.« Da fiel ihm ein, das er sich selbst helfen konnte. Er zückte sein Smartphone, ging zum Leichnam zurück und ließ sich die Geokoordinaten des Auffindungsortes anzeigen. »Danke, hat sich erledigt.«

Die Kriminaltechniker verabredeten dann das Prozedere für den kommenden Vormittag. Man würde sich aufteilen müssen. Zwei Leute in den Saal, der Rest in den Wald.

Brandenburg verabschiedete sich, bekam einen freundlichen Wink und dann ging er vorsichtig zurück zu seinem Auto. Der schwarze Wagen hob sich kaum vom Dunkel des Waldes ab, sodass er Mühe hatte, ihn zu sichten. Dort angekommen wurde er schon wieder von der eigenen und scheinbar unbeirrbaren Atmosphäre des Waldes eingefangen. Er stieg schnell ein und mit dem Zuklappen der Tür und dem Einschalten des Radios war diese Stimmung abgeschnitten.

Von der Straße näherten sich Scheinwerfer in unruhigen Bewegungen. Die Bestattungsfirma navigierte sich den Waldweg entlang. Er würde ihnen noch kurz Bescheid geben, dass der Verstorbene am nächsten Vormittag gegen neun Uhr im Institut sein sollte.

Brandenburg steuerte in Gedanken versunken seinen Wagen nach Hause. Wenig später empfing ihn die wohlige Wärme seines Hauses. Seine Ehefrau Anna war zu einer Freundin gefahren, die Kinder längst aus dem Haus, sodass er mit den Eindrücken vom Tatort allein war und in Ruhe alle Informationen Revue passieren lassen konnte.

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