Kitabı oku: «Grundloses Moor», sayfa 3

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Kapitel 7
Obduktion

Am nächsten Morgen brauchte er keine Anlaufzeit. Zum Frühstück kurz was abgebissen und ab zum Institut. Dort begann einer der zahllosen Morgen, die er in seiner langen Dienstzeit durchlebt hatte. Ganz gleich wie die Auftragslage war. Man wurde immer von diesem düsteren Gemäuer empfangen, von dieser alten Villa, die durch viele Umbauten zu einer »Struktureinheit« geworden war, wie es früher im Verwaltungsjargon hieß.

Auf dem Flur vermengt sich der Duft

von Dachstuhl und modriger Kellergruft,

hatte er mal gereimt. Die nie aus den Wänden heraussanierte Feuchtigkeit wurde mit jedem Atemzug eingesogen.

Vor uns sind zertretene Stufen,

die uns in die Tiefe rufen,

schrieb er damals weiter.

Selbst da,

wo einst der Holzwurm war, bleibt nur noch modrig seine Höhle.

Vom Wurm fehlt längstens Leib und Seele.

Es war sehr speziell und irgendwie ein Wunder, dass er es dort schon so viele Jahre aushielt. Die letzten Jahre hatten eine für ihn überraschende Entwicklung gebracht. Das enge, unerbittlich Geradlinige und damit oft blockierende frühere Regime des Hauses war einer Experimentierfreude und einem offensiven Arbeitsstil gewichen, natürlich verbunden mit der Forderung nach Übersicht, um die streng gebliebenen Basics immer wiederzufinden. Jeder neue Fall geriet in eine produktive Workshop-Atmosphäre und wurde in alle Wissenschaftsbereiche des Hauses getragen. Nach dem Prinzip »Universität«.

Die morgendliche Dienstberatung bekam die Geschehnisse der letzten Nacht auf den Tisch. Der Termin zur Obduktion wurde vom Chef bestätigt, das Team zusammengestellt. Schnell noch einen Kaffee und ab in den Saal. Dazu war eine Fahrt durch die Stadt notwendig. Seziert wurde im Gebäude der Pathologie. Der Sektionstechniker war schon seit ein oder zwei Stunden im Dienst und gerade dabei, den Verstorbenen vom Bestattungsunternehmer entgegenzunehmen. Übergabe der Papiere, Unterschriften, Terminabsprachen, ein Wink, ein Gruß. Das ging alles sehr schnell als Teil einer jahrelang gut funktionierenden Routine.

Im Saal versammelten sich die beiden Obduzenten, der Sektionstechniker, die Staatsanwältin und ein Kriminaltechniker, den die Kollegen nur »KT-Mann« nannten und der für seine Fototechnik einen kleinen Rollwagen benutzen konnte, der grün abgedeckt wurde.

»Frau Staatsanwältin, wir kennen uns ja noch gar nicht«, mit diesen Worten ging Doktor Brandenburg auf eine hoch gewachsene, junge Dame zu, die in grünem Kittel den Saal betreten hatte. Hochhackige Schuhe in schlappenden Gummigaloschen. Die Nasenöffnungen mit parfümiertem, klein gerissenem Papier zugestöpselt.

»Tut mir leid«, näselte sie, »aber ich bin nicht die Staatsanwältin, sondern die neue PJlerin.« Seit einigen Jahren durften Studierende einen Teil des Praktischen Jahres auch in Instituten für Pathologie und Rechtsmedizin ableisten, das sogenannte Wahltertial.

»Ah, dann habe ich gleich einen kleinen Maßnahmenkatalog aufzusagen. Erstens Stöpsel aus der Nase, zweitens vernünftiges Schuhwerk und drittens nach Erledigung wiederkommen!« – »Das geht ja wohl überhaupt nicht«, sinnierte er vor sich hin. ›Nasenstöpsel und dann diese Stelzen! Der werd ich Luft machen. Gutes Stichwort!‹ – »Bitte die Fenster zu, ich will nicht immer wieder erinnert werden, dass es draußen schöner ist als hier.«

Der neue Tag hatte mit wolkenlosem Himmel begonnen und verteilte eine spätherbstliche Frische in die Straßen der Stadt, die aber leider draußen bleiben musste. Die Studentin erschien wieder, etwas verwandelt und scheu, aber Brandenburg hieß sie nun herzlich willkommen und wünschte ihr interessante vier Monate. Er zeigte ihr, wo die Handschuhe lagen, sie möge sich ein Paar überziehen und sich bereithalten … jedenfalls dicht am Tisch bleiben. »Zuwendung ist die halbe Miete!«

Endlich kam auch die richtige Staatsanwältin. Frisch im Amt, Franziska Kernbach. Jung, dynamisch, erfolgsgewohnt, straffer, federnder Schritt, knapper Gruß, fordernder Rundumblick. Es konnte losgehen.

Zwischenzeitlich hatte der Sektionstechniker an eine altmodische, schwarze Kreidetafel das Aktenzeichen geschrieben sowie Körpergröße und Körpermasse: 180 Zentimeter, 82 Kilogramm.

Die beiden Werte notierte sich Doktor Brandenburg für die noch weiter einzugrenzende Todeszeitschätzung. Die am Tatort begonnene Leichenschau wurde fortgesetzt, die Kleidung vom Kriminaltechniker abgeklebt, um opferfremde Spuren zu asservieren und dem Verstorbenen dann abgenommen. »Beginn der rechtsmedizinischen Untersuchungen am 25. Oktober um 09:45 Uhr, somit 14:45 Stunden nach der Untersuchung am Tatort«, sagte der Rechtsmediziner laut. Die Körperoberfläche wurde gereinigt und noch einmal genauestens angesehen. Es galt zunächst, inzwischen eventuell sichtbar gewordene Hauteintrocknungen zu dokumentieren. »Haut vertrocknet nach dem Todeseintritt dort schneller, wo sie verletzt wurde, und die Entwicklung der damit verbundenen Farbänderungen braucht Zeit«, dozierte Doktor Brandenburg, um das Augenmerk der Umstehenden auf den Hauptbefund zu richten. »Auch wenn Hauteintrocknungen klein sind, können sie wichtige Hinweise geben, auf die Zahl der Gewalteinwirkungen, deren Art, Intensität und Richtung. Zu Lebzeiten entstandene Befunde haben zumeist eine dunkelrote bis schwarzrote Färbung, weil mehr oder weniger blutig durchsetzte Flüssigkeit ausgetreten und mit eingetrocknet ist.« Besonders interessant war natürlich die Halshaut. Dort fanden sich verwaschen abgegrenzte, unregelmäßig geformte, braunrote Hauteintrocknungen über den vormaligen Konturen des Kehlkopfes. Es war zu differenzieren zwischen einem möglichen Würgen, Drosseln, Schlagen oder Treten. Ebenso war zu bedenken, dass der Auffindungsort nicht der Tatort gewesen sein musste. Gab es also Hinweise auf ein Verbringen des Körpers? Die innere Leichenschau folgte dann der üblichen Routine. Die Halsorgane wurden in sogenannter Blutleere untersucht, um verletzungsbedingte Blutungen nicht durch präparationsbedingte Artefakte zu überlagern.

»Befund«, rief Brandenburg in den Raum, »und Foto!« Die Schildknorpelplatten des Kehlkopfes waren gebrochen und wie zusammengepresst. Das Zungenbein war gebrochen und ebenso der linke obere Schildknorpelfortsatz. Der Kehlkopfeingang war dadurch verlegt und nur noch schlitzförmig erhalten. Die Halshaut davor war deutlich unterblutet. Einblutungen fanden sich auch in der geraden Halsmuskulatur rechts. »Hier haben wir die Todesursache. KT? Foto!«, rief er erneut. »Die Legende für die Anlagenkarte erstellen wir lieber gemeinsam«, sagte der Arzt zum KT-Mann. »Oder kennt ihr euch mit den Knöchelchen hier aus? Und mit den Halsmuskeln?«

»Alles klar, Doc, machen wir.«

Die Obduktion folgte dann dem üblichen Schema. Die Organpakete aus dem Brust- und Bauchraum wurden präpariert. Bei Anschnitt großer Blutgefäßstämme entleerte sich viel flüssiges Blut. Die inneren Organe zeigten die für einen jungen Menschen zu erwartenden Farben und Formen und regelrechte Lagebeziehungen. Ein muskelkräftiges Herz mit den zarten Strukturen der sich verzweigenden Herzkranzarterien. Die Schnittflächen der Herzmuskulatur ohne Herdbefunde. Ein Herz, das noch viele Jahre funktioniert hätte. Die Lungen wirkten etwas überbläht, was dem Todesmechanismus zugeordnet wurde. Leber, Bauchspeicheldrüse, Milz und Nieren ohne Auffälligkeiten. Der Magen-Darm-Trakt ohne Hinweis auf Fremd- oder Giftstoffe. Die letzte Nahrungsaufnahme lag offenbar einige Stunden zurück. Das Schädeldach wurde eröffnet. Die weiche Hirnhaut blutreich. Die Schnittflächen von Groß- und Kleinhirn mit anatomisch regelrechten Strukturen. In der Zusammenschau jedenfalls keine krankhaften Veränderungen und keine weiteren Verletzungen. Über dem Arbeitstisch schwebte eine Glocke aus süßlichem Geruch, der mit nichts zu vergleichen war, was sich sonst in den Bibliotheken menschlicher Sinneswahrnehmungen finden ließ.

Nur flüchtig bemerkte Brandenburg, dass die neben ihm stehende Studentin etwas teilnahmslos vor sich hin schaute. Auch reagierte sie auf seinen Anruf nur noch verzögert. Und da passierte es: Es gelang gerade noch, ihren Körper aufzufangen. Sie gravitierte sich entlang der Arztschürze Brandenburgs. Zum Glück kein Aufschlag, nichts Ernstes.

»Kopf tief, Beine hoch, raus mit ihr, lasst sie nicht allein, gebt ihr was!« Es war nicht das erste Mal und es tat nicht weh. Das Sektionsteam kannte sich mit diesen kleinen Schwächen der Studierenden schon aus und wusste, was zu tun war.

Nach drei Stunden waren die Arbeiten im Sektionssaal beendet. Doktor Brandenburg und sein Team legten die Schutzkleidung ab, die Hände wurden gewaschen und desinfiziert.

»Gehen Sie doch bitte schon vor in den Besprechungsraum, wir kommen gleich nach«, rief er den Gästen zu, die daraufhin den Sektionssaal verließen. Dann wandte er sich seinen Kollegen zu: »Hört zu, wir lassen sie einen Moment warten, das macht nix. Zuerst bilden wir uns eine Meinung. Also, was haben wir? Sieht erst mal alles ganz gut aus. Identität, Todesursache und Kausalität sind klar. Ein Mix aus reflektorischer Depression der Herz- und Lungenfunktion und Sauerstoffmangel. Massive, stumpfe Gewalt gegen den Hals, am ehesten ein Schlag von einem Kampfsportler oder einem, der das trainiert hat. Die Verletzungen sind vital, also zu Lebzeiten entstanden. Kein Anhalt für Würgen oder Drosseln, keine Stauungsblutungen oberhalb der Halsbefunde. Todeszeitpunkt: Ich schätze, gestern am frühen Nachmittag, vielleicht fünf bis sieben Stunden vor der Leichenschau am Tatort, und die begann gestern um neunzehn Uhr. Dafür sprechen die Leichenveränderungen und die gemessene Temperatur. Wie gesagt, eine Schätzung, Plus-Minus-Spanne jedenfalls von zwei Stunden. Die Pilzsammler fanden ihn um sechzehn Uhr zwanzig, na, das passt doch. Ein Wahrscheinlichkeitsmaximum zwischen zwölf und vierzehn Uhr. Wer bekommt die Spuren? Die Abriebe von der Halshaut, von der Gesichtshaut und den Fingernagelschmutz würden wir schon gern für unser Labor behalten. Die Abklebungen gehen an die KT, das ist klar und gut so. Zu erwartende Spuren an einem Täter: Sieht mager aus. Was für mich offen bleibt, aber das ist ein Problem für die Ermittler, das ist das Motiv für die Tötung. Keine Zeugen, kein Tatverdächtiger, keine Idee. Alkoholgeruch habe ich bei der Sektion auch nicht wahrgenommen. Wir müssen der Staatsanwältin gleich sagen, dass wir dennoch unbedingt eine Blutalkoholbestimmung empfehlen.« Doktor Brandenburg bemerkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit monologisiert hatte. Eigentlich hieß es: »Wir bilden uns eine Meinung.«

Erst jetzt meldete sich schüchtern die wiederauferstandene Studentin: »Wäre nicht auch eine Giftanalyse sinnvoll? Selbst wenn wir keine Hinweise auf ein Verbringen der Leiche von einem Tatort zum Auffindungsort haben und die Befunde vital sind, sollten wir ausschließen können, dass zum Todeszeitpunkt Handlungsunfähigkeit bestand. Falls sich erweisen sollte, dass der Tathergang komplizierter war, als bisher angenommen, wäre das doch wichtig, oder?«

Brandenburg blickte auf und sie ihm kess entgegen. »Gut. Sehr gut. Spätestens jetzt sollte ich mir Ihren Namen merken. Wie war der doch gleich?«

»Ich bin Frau Semlock. Katharina Semlock.«

»Semlock? Sind Sie die Tochter … ähm, Ihrer Mutter?« Eine etwas verquere Frage, wurde er sich sogleich bewusst.

»Genau, meine Mutter ist die Polizistin.«

»Eine sehr gute«, ergänzte Brandenburg und schaute sie staunend an, weil er mit dieser Querbeziehung nicht gerechnet hatte, und erfreut, weil ihm diese Querbeziehung gefiel. »Ich kenne sie schon sehr lange.«

Katharina Semlock schmunzelte verlegen. Der unrühmliche Auftritt von heute morgen war also offenbar vergessen oder wenigstens nicht von Bedeutung für ihn. Sie war froh, dass sie so gut aus diesem Vormittag herauskam.

Das Team um Brandenburg ging nun in den Besprechungsraum. Der Vormittag wurde so zusammengefasst, wie vorab besprochen. Zur Todesursache wurde ein reflektorisches Geschehen als Folge eines kräftigen Schlages in den Vordergrund gestellt. Brandenburg gab den Gedanken der Studentin weiter, eine Giftanalyse zu beauftragen, zum Ausschluss einer Handlungsunfähigkeit.

Die Staatsanwältin willigte ein.

Sensibler war dagegen die Frage, wer die Spuren bekommen sollte. »Wir könnten Ihnen in wenigen Tagen sagen, ob sich an den Abrieben von der Halshaut, der Gesichtshaut und an den Händen, insbesondere im Fingernagelschmutz opferfremde DNA befindet. Vielleicht ein richtig schönes, sauberes Profil für die Datenbank.« Nachdem Doktor Brandenburg seine Rede mit einem charmanten Lächeln beendet hatte, hatte er den Auftrag dafür ebenfalls im Kasten. Dann kam er auf ein mögliches Motiv zu sprechen. »Was wisst ihr über Hannes Köster? Was wollte der da im Wald? Zum Pilze suchen war er sicher nicht unterwegs. Wie Rotkäppchen sah er auch nicht aus.«

»Wir wissen noch gar nichts«, entgegnete ein Kriminalbeamter. »Heute Nachmittag können wir vielleicht die Eltern befragen. Da müssen wir behutsam sein. Die sind natürlich erst mal völlig fertig. Wir haben unsere Psychologin gebeten, bei den ersten Gesprächen dabei zu sein, um sie gegebenenfalls aufzufangen. Hannes Köster war Azubi in Doberan, bei einem Tischlermeister. Soweit wir wissen: zuverlässig, sehr gründlich, wohnhaft bei den Eltern. Wir müssen uns auch sein Zimmer ansehen und sein Smartphone auswerten. Vielleicht bekommen wir so etwas wie ein Bewegungsprofil. Wenn er bei Facebook war oder sich in anderen Medien bewegt hat, bekommen wir vielleicht auch Hinweise auf seine letzten Kontakte. Er wird eine E-Mail-Adresse gehabt haben – das ganze Programm.«

»Übrigens, Doc«, mischte sich der KT-Mann ein, »das Smartphone.«

»Was ist damit? Ist es doch beschädigt?«

»Nein, sieht gut aus, aber …«

»Was, aber? Nun rücken Sie schon raus damit!« Brandenburgs Stimme bekam einen drängenden Unterton.

»Es lag unter seiner rechten Hand, wie Sie gut gesehen haben. Wie kommt es dahin?«

»Das kann Zufall sein. Der Leichnam ist bewegt worden, vielleicht ist es aus einer Tasche gerutscht?«

»Kann alles sein, sicher, für mich aber näherliegend, dass er das Gerät benutzt hat, vielleicht sogar unmittelbar, während er den Schlag abbekam.«

Brandenburg musste ihm recht geben. Dieser Umstand hätte gleich am Tatort besprochen werden müssen. »Das könnte auch erklären, warum er den Angreifer offenbar zu spät bemerkt hat«, entgegnete der Arzt. »Er hat wahrscheinlich konzentriert auf die Bildschirmanzeige geschaut und war noch dazu völlig ahnungslos. Er konnte mit dem Angreifer nicht rechnen, sonst hätte er sich anders verhalten. Keine Gegenwehr. Na, Ihre IT-Spezies werden doch wohl rauskriegen, was die letzten Aktionen auf dem Gerät waren.«

»So wird es sein. Das Gerät ist schon im LKA. Neues Zauberwort: IT Forensik.«

Brandenburg rollte mit den Augen. »Oh Mann, was sich heute nicht alles Forensik nennt. Kein Tag ohne Medical Detectives, CSI, Anwälte der Toten oder letzte Zeugen. Aber, wenn es was bringt, dann soll es so sein.«

»Wann ist mit dem Sektionsbericht zu rechnen?«, fragte die Staatsanwältin fordernd.

»Den Todeszeitpunkt können wir nur schätzen. Den Sektionsbericht bekommen Sie aber exakt zu dem Termin, den Sie sich wünschen.« Dabei sendete Brandenburg ihr ein Lächeln und ein Zwinkern über den Tisch, das keinem im Raum entging.

Sie beugte sich dieser Woge entgegen und sagte: »Gestern, Herr Doktor, besser noch vorgestern, verstehen Sie mich?«

Natürlich verstand er sie. Ihr Humor war wohl irgendwo draußen geblieben, genauso wie die frische Luft, nach der sich jetzt alle sehnten.

Kapitel 8
Hoher Besuch

Dr. Brandenburg fuhr wieder zurück in das Institutsgebäude der Rechtsmedizin. Erst einmal alles sacken lassen. Dann die üblichen Papiere: Aktenzeichen geben lassen, Eintrag in das Journal, Fotos auf den Server hochladen, bereinigen, ausrichten, umbenennen. Todesbescheinigung, Besprechungsnotiz, Leichenschaubericht, Formblätter ohne Ende. Was wurde wann und warum und wo mit wem besprochen? Dazu die Namen und Rufnummern. Untersuchungsanträge für das Spurenlabor und das chemisch-toxikologische Labor. Jeder Zettel wurde gescannt, alle möglichen Notizen im pdf-Format abgelegt, QM ließ grüßen, so täglich wie das berühmte Murmeltier. Es war zwar immer lästig, das alles klarzumachen, hatte aber den großen Vorteil, dass man sich dann zurücklehnen konnte und nichts Unerledigtes mit nach Hause nahm. Außerdem war damit eine nochmalige innere Zusammenfassung der wichtigsten Untersuchungen verbunden und manch ein guter Gedanke kam erst dann dazu.

›Wo steckt eigentlich mein eigenes Smartphone?‹, dachte er, nachdem er vom Mittagessen in der Mensa zurückgekehrt war. Er ertappte sich, wie sehr er sich an das Ding gewöhnt hatte, sonst würde er es jetzt auch nicht vermissen. Jackentasche, Hosentasche, nichts. Hastiger Blick über den Tisch, nichts. ›Also ruf ich mich selbst an.‹ Gedacht, getan. Es vibrierte unter einem Zettelstapel. Er nahm es in die Hand, wischte routiniert über das Sperrmuster und zog mit dem Finger vom oberen Rand des Displays nach unten. Eine Sammlung von Mitteilungen ging auf: E-Mails, die er später lesen wollte, die Erinnerung an eine Kalendernotiz: morgen Vormittag Vorlesung für das 9. Semester Medizin, morgen Nachmittag Amtsgericht Wismar, ein Alkoholtermin. Als Letztes eine englischsprachige Mitteilung: [LOG] Owner: Venter 65 found GC und dann eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen, die dem Code eines Geocaches entsprachen, den er vor sechs Monaten bei Glashagen angelegt hatte. Er blieb an dieser Nachricht hängen, ihm schoss das Blut in die Ohren. Eine Idee kreiste durch sein Hirn und ließ ihn nicht mehr los. ›Oh, shit!‹, sinnierte er, ›wenn das …‹ Ein leises Klopfen an seiner Zimmertür riss ihn aus seinen Gedanken. »Ja, bitte!«

»Karsten, draußen ist jemand, der dich sprechen möchte. Sie lässt sich nicht abwimmeln«, sagte die Sekretärin.

›Auch das noch! Ich kann jetzt nicht, ich will jetzt nicht. Und muss doch.‹ – »Kein Problem«, log er laut, »lass die Dame bitte einen Moment warten! Ich komme sofort.« Er stemmte sich aus dem Sessel, nahm sich einen kleinen Zettelblock, den nächstbesten Kuli, eine seiner Visitenkarten und ging in den Empfangsbereich des Institutes.

Dort traf er auf eine verschwitzte Matrone mit reichlich Handgepäck und einem überlangen, schwarzen Regenschirm, den sie zwischen ihren massigen Schenkeln hielt. »Guten Tag, mein Name ist Doktor Brandenburg. Sie möchten mich sprechen?«

»Ja, guten Tag, mein Name ist von Wenzlow. Können wir ungestört miteinander reden?«

Brandenburg lotste die Dame in den Seminarraum. Sie nahmen an den gegenüberliegenden Seiten eines Tisches Platz. »Bitte, jetzt sind wir ungestört.«

»Sehr schön«, entgegnete sie.

Der Arzt musterte ihr Gesicht. Auffälliges Make-up: knallrote Lippen und tiefschwarze Augenbrauen. Alles nicht unbedingt professionell aufgetragen, sondern ungeschickt wirkend. Langes, dunkles, leicht welliges Haar, eher ungepflegt.

»Wie gesagt, mein Name ist von Wenzlow.« Dabei betonte sie den Namen so, als ob sie ihn ihrem Gegenüber selbst einprägen und es nicht ihm überlassen wollte. »Ich gehöre zu den von Wenzlows, die seit Generationen in Westmecklenburg ansässig sind und in der Vergangenheit über einige doch beachtliche Besitztümer verfügten.« Dabei bohrte sich ihr psychiatrischer Blick in den seinen.

Brandenburg sagte sich: ›Nicht ausweichen, schau sie an und reiß Dich zusammen!‹ – »Verzeihen Sie, ich stamme nicht aus dieser Gegend und überblicke derzeit nicht die Adelsgeschlechter«, entgegnete er.

Seinen leise mitklingenden Spott formte Frau Wenzlow zu einem Kompliment und erzählte in gewähltem Ausdruck und nun leicht beklagendem Ton, dass leider nicht alle Nachkommen derer von Wenzlow sich dieser Historie als würdig erweisen.

»Das tut mir sehr leid, Frau von Wenzlow, aber was kann ich denn bei diesem von Ihnen offenbar sehr unglücklich empfundenen Status nun für Sie tun?«

»Ich verweise auf den sehr kurzen Polizeibericht im Netz, der gestern Abend veröffentlicht wurde. Wissen Sie, ich lebe schon lange in einem Dörfchen bei Schwerin und ein guter Freund von mir ist bei der Kripo dort. Hauptkommissar Thomas Berger meinte, ich könnte Sie vielleicht kurz dazu telefonisch befragen. Er hat mir aber auch gleich gesagt, dass Sie mir wegen der laufenden Ermittlungen sicherlich keine Auskunft erteilen würden. Deshalb dachte ich, ich fahre direkt zu Ihnen. Ich gebe zu, ich habe Thomas Berger etwas bedrängt, aber ich bin so aufgeregt, weil im Polizeibericht ja nur so wenig bekannt gegeben wurde …«, antwortete sie gehetzt.

Doktor Brandenburg war einigermaßen verblüfft, kannte er doch Hauptkommissar Berger nun auch schon ein paar Jahre. ›Wahrscheinlich hat sie sich nicht abwimmeln lassen‹, dachte er.

Die Frau fuhr ohne eine Reaktion abzuwarten fort: »… demnach habe man am Grundlosen Moor eine Leiche gefunden. Die Wälder dieser Gegend sind in der Blütezeit unseres Geschlechts in einem hervorragenden Zustand gewesen. So etwas hätte es damals nicht gegeben. Ich bin entsetzt und überlege mir, einige weitere Schritte zu gehen. Zudem habe ich allen Grund zu der Annahme, dass einige der von mir schon erwähnten, unrühmlichen Nachkommen unserer Linie dahinterstecken. Anders ist das nicht zu erklären.«

»Hochverehrte Frau von Wenzlow«, schraubte Brandenburg zurück, »ich habe allen Grund zu der Annahme, dass dieser Fall schnellstmöglich und mit aller Sorgfalt aufgeklärt wird. Sie haben natürlich die freibleibende Möglichkeit, den Polizeibericht bei der Polizei zu hinterfragen und ergänzende Angaben zu machen. Das würde ich Ihnen sogar ausdrücklich empfehlen. Meine ausgezeichneten Beziehungen dorthin bieten sich an, Sie zu avisieren.«

»Das würden Sie für mich tun?«

»Aber selbstverständlich. Ich schlage vor, dass wir diese fraglos sehr interessante Unterredung schnell beenden, damit ich dazu Gelegenheit habe.« Er stand auf und überströmte sie mit einem breiten Lächeln, als ob ihm ihr Besuch den Tag gerettet hätte.

Die Wirkung blieb nicht aus. Frau von Wenzlow erhob sich und war entzückt, so angenommen worden zu sein. Sie verließ unter sorgfältiger Mitnahme aller Gepäckstücke und sich wiederholenden Dankesbezeugungen das Institut.

Brandenburg war überrascht, aus diesem Gespräch schneller als erwartet herausgekommen zu sein und flüchtete zurück in sein Dienstzimmer. Sein Gedanke, der ihm beim Öffnen der E-Mail gekommen war, hatte geduldig auf ihn gewartet. Er spann ihn so lange zurecht, bis er ihn für mitteilenswert hielt.

Zur selben Zeit kam ein Treffen mit den Eltern von Hannes Köster zustande. Der Erstkontakt, das Überbringen der traurigen Gewissheit, dass ihr Sohn nicht mehr lebte, war Kommissarin Kerstin Semlock zugekommen, erste Sachbearbeiterin im Fachkommissariat 1. Ihre Kollegen schätzten ihr Einfühlungsvermögen und ihre fachliche Expertise. Sie war seit vielen Jahren eine extrem engagierte Polizistin, Kriminalhauptkommissarin. Eine schlanke, attraktive Frau und Mutter, die sich daran gewöhnt hatte, immer mal Avancen zu parieren, die sie als Ausgeburt der Männerdominanz in ihrem Beruf bezeichnete. Sie konnte sie weglächeln, ebenso wie die zugegeben nur anfänglichen Vorbehalte, die dieselben Kollegen ihr gegenüber hervorbrachten. Als unverzichtbare Leistungsträgerin hatte sie sich mit ihrer direkten und fokussierten Art längst durchgesetzt und den Respekt erarbeitet, den ihre männlichen Kollegen viel einfacher gewinnen konnten. Also schauten wie immer alle auf sie. Aus dieser Situation kam sie nicht heraus.

Die Eltern von Hannes Köster waren an diesem Donnerstagmorgen nach einer langen Nachtfahrt aus ihrem Urlaub in der Eifel zurückgekehrt und hatten ihren Sohn nicht zu Hause angetroffen. Ungewöhnlich war das keineswegs, da er meistens schon gegen sechs Uhr in die Tischlerei fuhr. Nichts ahnend öffneten sie am frühen Nachmittag Kerstin Semlock und einer sie begleitenden Psychologin die Tür. Von der freundlichen Begrüßung bis zum sprachlosen Nicht-fassen-können vergingen Sekunden. Den Schrecken und das Aufnehmen der schlimmen Nachricht konnte man den Eltern nicht ersparen. Die beiden Frauen ließen sich und ihnen aber Zeit, in der sie die Verfassung der Unglücklichen einzuschätzen lernten und in der sie auch merkten, zu welchem Zeitpunkt sie etwas sagen oder fragen konnten. Dabei konnte Kerstin Semlock ihre, für viele ihrer Kollegen beeindruckende situative Kompetenz ausspielen.

Das Elternpaar wollte man danach nicht allein lassen und man bot ihnen an, mit auf die Dienststelle zu fahren, um eine erste Vernehmung durchzuführen. Es erschien etwas heikel, so schnell vorzupreschen, und vielleicht unzumutbar. Letztlich erwies sich die Entscheidung aber als richtig. In der Dienststelle erschien das sonst benutzte Vernehmungszimmer zu kalt und ungemütlich, sodass die beiden in den Videoraum geführt wurden. Der war wohnlich eingerichtet und sah nicht so büromäßig aus. Hier wurden auch Kinder und Jugendliche gehört, wenn sie zu vernehmen waren.

Kerstin Semlock bot beiden etwas zu trinken an, hatte etwas Gebäck gereicht und bemühte sich redlich, um die Atmosphäre so erträglich wie möglich zu gestalten. So schwierig die Vernehmung der älteren Leute war, so unergiebig war sie auch. Die Kommissarin hatte nach einer Stunde längst nicht alles angesprochen, was sie sich zurechtgelegt hatte, spürte aber, dass es für die beiden genug war. Sie beendete das Gespräch mit der Ankündigung eines zweiten Treffens und entließ Hannes’ Eltern in den mittlerweile späteren Nachmittag, der sie draußen mit der gleichen Schwere empfing, die sich auch um ihre Herzen gelegt hatte.

Die Kriminalbeamtin hatte nichts wirklich Substanzielles erfahren. Demnach hatte ihr Sohn Hannes kürzlich eine Ausbildung bei einem bekannten Tischlermeister begonnen. Er hatte zurzeit keine Freundin, traf sich unregelmäßig mit ehemaligen Klassenkameraden, war kein Diskogänger. Alkohol und Drogen hätten für ihn nie eine Rolle gespielt. Er sei sehr häuslich und besorgt gewesen. Alle reagierten freundlich auf ihn. Alles fast auffällig unauffällig. Mehr war in der ersten Vernehmung nicht zu erfahren.

Deutlich mitgenommen lehnte sich Kerstin Semlock zurück in ihren Sessel, als das Telefon klingelte. »Semlock.«

»Brandenburg.«

»Na, Doc, heute mal keinen Spruch?«

»Ich habe da etwas Anderes für Sie.«

Kerstin Semlock hatte Schwierigkeiten, am Telefon so unvermittelt umzuschalten. Der Doc klang nicht so locker wie sonst, wobei das im Moment auch nicht in den Nachklang der gerade beendeten Vernehmung gepasst hätte. »Sie haben doch gerade obduziert und noch immer nicht genug? Dann raus damit, höre mit Füneff.«

Die Frau war immer wieder gut für eine kleine Überraschung, dachte Brandenburg. »Füneff«, den Begriff kannte er noch aus DDR-Zeiten: GST, Nachrichtensport, Ausbildung zum Sprech- und Tastfunker. So wurde die »Fünf« im Sprechfunk ausgesprochen, um sie unverwechselbar zu machen. Unverwechselbar, um nicht zu sagen einmalig, wie eben diese Frau. »Haben Sie schon mit der Staatsanwältin telefoniert, Frau Semlock?«

»Ja, sie hat mir das Obduktionsergebnis zusammengefasst.«

»Wie schade, dass Sie nicht selbst kommen konnten. So muss ich etwas weiter ausholen.«

»Tun Sie das, aber bitte konzentriert und nicht so viel Prosa.«

»Ja, ja, es geht mir nur um das Smartphone von Hannes Köster, weil es am Tatort nicht in einer seiner Taschen steckte, sondern unter seiner rechten Hand lag. Daraufhin habe ich in meinem Büro erst mal mein eigenes gesucht.«

»Klingt spannend, Doc.«

»Ich habe meine am Vormittag eingegangenen Mitteilungen gecheckt.«

»Gratuliere, sind Sie jetzt auch schon digital?«

Ohne ihre Lässigkeit zu kommentieren, redete er weiter. Er kannte die Kommissarin nun schon seit etwa vier Jahren und hatte gelernt, ihre manchmal etwas zu kumpelige Art einzuschätzen. »Die letzte Mitteilung beziehungsweise Mail lese ich Ihnen mal vor: [LOG] Owner: Venter 65 found GC.Dann folgt eine Kombi aus Zahlen und Buchstaben. Und weiter Glashagen (Traditional Cache)

»Ich kann auch deutsch.«

»Ja, kann mich erinnern, aber hier steht es so.«

»Sie würden mich nicht anrufen, wenn Sie diese kryptische Botschaft nicht entschlüsselt hätten.«

»Die Erklärung ist tatsächlich ganz einfach und vielleicht tatrelevant. Ich bin seit einigen Monaten Geocacher.«

»Geo-was?«

»Geocacher«, wiederholte er. »Ich habe mich bei geocaching-international.com registrieren lassen und eine App runtergeladen, über die ich geocachen kann.«

Kerstin Semlock wurde ungeduldig. Wenn der Doc ihr alle seine Hobbies aufzählen wollte, dann sollte er sich vielleicht eine andere Gelegenheit suchen. »Nun erzählen Sie schon, was das ist und was das mit unserem Fall und mit mir zu tun hat!«

Er spürte ihre Ungeduld, überlegte kurz, ob er es weiter spannend machen sollte, entschied sich aber, schnell sachlich voranzukommen. »Also, Geocacher sind mit einem selbst gewählten Spielernamen über eine Datenbank vernetzt. Wenn jemand meint: ›Mensch, tolle Gegend hier, die alte Schlossruine, dazu noch ein herrlicher Blick übers Land, das möchte ich anderen zeigen‹, dann geht er online und reicht die Geokoordinaten sowie eine kurze Beschreibung des Ortes bei geocaching-international.com ein. Die prüfen, ob die Spielregeln eingehalten werden und schalten den Eintrag frei. Am Ort selbst hinterlässt der ›Owner‹ in einer wasserdichten Box oder in einem verschraubten Röhrchen ein kleines Logbuch, das andere Mitspieler über die Geokoordinaten finden können, aber doch so versteckt, dass zufällig vorbeikommende Spaziergänger, im Sprachgebrauch übrigens sehr treffend als ›Muggels‹ bezeichnet, den Cache nicht entdecken. Der Finder hinterlässt handschriftlich einen Eintrag mit Datum und oft auch Uhrzeit des Auffindens. Viel mehr Platz bietet das Logbuch nicht. Damit der Fund auch offiziell registriert wird, wiederholt der Finder das Loggen online, nun auch mal mit einem Dankeschön oder sogar ausführlichen Beschreibungen, wie er den Cache gefunden hat und dergleichen.«

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