Kitabı oku: «Kalteiche»
Ulrich Hefner
Kalteiche
Kriminalroman
Zum Autor
Ulrich Hefner wurde 1961 in Bad Mergentheim geboren. Er wohnt in Lauda-Königshofen, ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Hefner arbeitet als Polizeibeamter und ist freier Autor und Journalist. Er ist Mitglied in der IGdA (Interessengemeinschaft deutschsprachiger Autoren), im DPV (Deutschen Presseverband) und im Syndikat. Weiterhin ist er Gründungsmitglied der Polizei-Poeten. Die Polizei-Poeten veröffentlichten inzwischen vier Bücher, die nicht nur in Polizistenkreisen auf großes Interesse stießen. Neben der Krimiserie um den Ermittler Martin Trevisan, die inzwischen aus sechs Bänden besteht, sind inzwischen auch drei Thriller erschienen, die bereits in mehrere Sprachen übersetzt wurden. www.ulrichhefner.de und www.autorengilde.de.
Impressum
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2020
(Originalausgabe erschienen 2017 im Leda-Verlag)
Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer
unter Verwendung eines Fotos von: © Studio32/stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6442-3
Widmung
für Robby, wir denken an dich
Gedicht
… es gibt einen Ort, an dem das Grauen lebt,
wo es dich umgibt und festhält,
jede Stunde, jeden Tag, Jahr um Jahr,
umklammert mit eisernen Krallen,
um dich nie wieder loszulassen,
wo es dich gefangen hält
und dich ganz langsam auffrisst,
und nur du weißt, wo dieser Ort ist …
Prolog
Im November 1983
Der Waldboden war mit einer dünnen Schicht aus Reif überzogen und das welke Laub knirschte bei jedem Tritt unter ihren Füßen. Dabei wollten sie still sein, still und unsichtbar. Sie waren dem Ort des Grauens entkommen, aber in Sicherheit waren sie längst noch nicht.
Die Nacht war kalt gewesen und der Morgentau auf den dünnen Scheiben der Scheune gefroren. Nebelschwaden zogen über die Wiesen und umgarnten die dichten Tannen, bevor sie in der Finsternis des Gehölzes verschwanden. Er zog sie an der Hand hinter sich her. Es sollte keine Spuren geben, niemand durfte etwas bemerken, niemand sollte es wissen, bevor die Dämmerung im Licht des tristen Tages versank. Ihr Weg war weit und führte an den blattlosen Buchen vorbei, nach Süden, dort, wo die Grenze lag.
Noch bevor sie der Wald verschluckte, drang das laute und bedrohliche Gebell eines Hundes zu ihnen herüber. Sie begannen zu rennen, hetzten über den ausgetretenen Pfad, sprangen über vertrocknete Äste und hasteten die Böschung hinauf. Sie stürzte, doch er half ihr wieder auf, zog sie mit sich, mit aller Kraft und dem Mut der Verzweiflung. Ihre Füße schmerzten und ihre Herzen pochten ihnen bis zum Hals, doch sie gaben nicht auf, ein einziger Gedanke war in ihren Köpfen und er verlieh ihnen Kraft: Entkommen!
Der Wald wurde dichter und sie verließen den Pfad, hasteten über den gefrorenen Waldboden, schlugen sich in die Büsche und rissen sich blutige Wunden an den Dornen. Mit jedem Schritt entfernten sie sich weiter von diesem furchtbaren Ort, sie waren am Rande ihrer Kräfte, ihr Brustkorb bebte und das Blut rauschte in den Ohren.
Sie liefen eine Anhöhe hinauf und als sie erneut stürzte, beugte er sich zu ihr herab. Sie versuchte ein Lächeln, das ihr misslang. Er fasste sie an der Hand und half ihr auf, bevor sie ihre Flucht fortsetzten und den Hügel erklommen. Er wusste nicht mehr, ob die Richtung stimmte, er wusste nicht mehr, wohin er sich wenden musste. Sie waren umringt von riesigen Bäumen, einem Ring, aus dem es kein Entrinnen gab. Sein Atem ging stoßweise und ein kalter Schweißfilm lag auf seiner Haut, doch jetzt war nicht die Zeit zum Rasten, sie musste weiter, das Gebell des Hundes wurde lauter. Er zog sie mit sich und sie liefen auf der gegenüberliegenden Seite den Hügel hinab, wo sie auf einen Weg stießen. Kurz blieb er stehen, um sich zu orientieren, doch der wolkenverhangene Himmel versteckte die Sonne hinter einem düsteren Gebirge aus Aerosolen und Eiskristallen, fast so, als hätte sogar der Himmel sich gegen sie verschworen.
Er wandte sich nach links, denn dort hatte er das Gefühl, sich weiter zu entfernen, Abstand zu gewinnen. Sie folgten dem Weg, der sie zu einer Lichtung führte, wo sie kurz verharrten, bevor sie erneut im Dämmerlicht des jungen Tages in den finsteren und dichten Wald eintauchten, unsichtbar für ihre Häscher, die ihnen folgten und die längst schon die Spur aufgenommen hatten. Erneut bellte ein Hund, diesmal näher als zuvor. Aus ihren schnellen Schritten wurde eine Hatz, eine erbarmungslose Jagd, und ihre Angst trieb sie voran.
Der Weg schlängelte sich durch wildes Dickicht, führte sie an einer vertrockneten Wiese vorbei, bevor er erneut steil anstieg. Sie konnte nicht mehr, sie taumelte, doch er umklammerte ihr Handgelenk und zog sie mit sich. Als sie den Hügel erklommen hatten, lag ein tiefer Abgrund vor ihnen. Sie verharrten, suchend blickte er sich um, flehentlich suchte er nach einer Möglichkeit, diesen Abgrund zu überwinden, während sie entkräftet zu Boden sank. Ihr Brustkorb bebte.
Er wies auf den Abhang, der steil in die Tiefe führte. Noch bevor er ihr die Stelle zeigen konnte, wo der Abstieg möglich war, schoss wie aus dem Nichts ein großes, schwarzes Ungeheuer auf sie zu, drohend fletschte es die Zähne. Er wusste nicht, was er tun sollte.
»Geh!«, flüsterte sie atemlos. »Hau ab!«
»Aber …«
»Verschwinde, sie schlagen dich sonst tot, wenn sie dich erwischen!«
Er zögerte, doch als das laute Rufen ihrer Verfolger durch den Wald drang, machte er auf dem Absatz kehrt und lief auf den Abhang zu. Dorthin, wo es einen kleinen Felsvorsprung gab. Eilends kletterte er hinab. Der Hund verfolgte ihn und blieb bellend und knurrend am Abhang stehen. Er fasste nach einem Strauch, der ihm Halt bieten sollte, doch sein Griff ging ins Leere, vergeblich versuchte er sich festzuklammern, ehe ihn in die Tiefe verschlang.
*
Stille umgab ihn, als er erwachte, Stille und Finsternis. Sein Kopf, seine Glieder, seine Arme, seine Beine, alles war nur noch ein einziger bohrender und pochender Schmerz. Ein Kauz schrie durch die Nacht und als er sich aufzurichten versuchte, sank er kraftlos zurück. Er seufzte. Er hörte ein Rascheln in seiner Nähe, als ob ein kleines Tier unter welken Blättern verschwand. Es war kalt, doch er spürte nur die Hitze des Schmerzes. Er griff an seine Stirn und eine warme, klebrige Flüssigkeit blieb an seinen Fingern haften. Erneut versuchte er sich aufzurichten, ihm wurde schwindelig, erneut sank er zurück. Er versuchte zu verstehen, was geschehen war, doch seine Gedanken waren wie Wasserfarbe in einem gefüllten Becher, sie verschwammen, vermengten sich, ehe sie sich verdunkelten und zu einer trüben, undurchdringlichen Melange wurden.
Irgendwie schaffte er es dann doch, sich zu erheben. Mit zitternden Beinen stolperte er voran. In der Dunkelheit konnte er kaum die Hände vor den Augen sehen, immer wieder sank er auf die Knie, doch ein unbändiger Wille brachte ihn dazu, sich wieder aufzuraffen und weiterzugehen. Er nahm Gerüche wahr, die ihm ebenso vertraut wie fremd erschienen. Die Kälte der Nacht machte ihm nichts aus, er spürte sie nicht einmal. Etwas trieb ihn voran und er kramte in dieser dunklen Melange aus Erinnerung und Gedanken, doch alles blieb verschwommen, konturlos, nur ab und zu, wie durch eine Nebelwand, formte sich ein Gesicht, das ihn mit flehendem Blick anstarrte. Er versuchte es zu fassen, doch immer wieder löste es sich auf, waberte mit dem Nebel davon.
Erneut ging er zu Boden. Für einen Moment blieb er liegen, seine Hände krallten sich in den weichen Boden. Er schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, erfasste ihn gleißende Helligkeit. Er blinzelte, denn das Licht schmerzte in seinen Augen, als es ihn wie ein Kokon umschloss. Er nahm all seine Kraft zusammen und richtete sich auf. Auf unsicheren Beinen stolperte er voran, er wankte, doch das Licht verfolgte ihn auf Schritt und Tritt.
»Stj, policii!«
Die dunkle Stimme klang kalt und gefährlich. Er verharrte, ehe er auf seine Knie fiel und das Licht um ihn erlosch. Er fühlte nur noch Schmerz, bevor er die Besinnung verlor.
1
… dreiunddreißig Jahre später …
Sie wurde am frühen Morgen wach, als es im Haus laut polterte. Dann folgte ein Schrei, wie sie ihn noch nie gehört hatte, so grell und laut, so durchdringend und bedrohlich, so angsterfüllt und panisch, etwas Schreckliches musste geschehen sein. Es war der Schrei einer Frau, der im Schmerz verstummte.
»Mama?«, stammelte sie und sprang aus dem Bett. Barfuß und nur mit einem Nachthemd bekleidet rannte sie durch das kleine Zimmer unter dem Dach, riss die Tür auf und hetzte zur Treppe. Abermals polterte es. Sie hatte kaum drei Stufen hinter sich gebracht, als sie wie vom Donner gerührt stehen blieb. Unterhalb der Treppe vor dem kleinen Verschlag, in dem Vorräte und Werkzeuge aufbewahrt wurden, lag jemand verkrümmt auf dem Rücken. Zuerst sah sie nur die Füße, die in gestrickten braunen Wollsocken steckten. Angsterfüllt ging sie Stufe für Stufe weiter, und aus den Füßen und Beinen wurde ein Körper. Die alte, zerschlissene und schmutzig braune Strickjacke, die schwieligen Hände, vom Schmerz verkrümmt, die ergrauten Haare und der tiefe rote Fleck, der sich am Kopf ausgebreitet hatte und mit dem Teppich verschwamm. Wie in Trance überwand sie die letzten Stufen, bis sie schreckensstarr stehen blieb, die Hände vor Entsetzen an die Wangen gepresst.
»Vater …«
Es war eine Feststellung, keine Frage, ihr Vater lag regungslos an der Treppe und eine Blutlache breitete sich neben seinem Kopf aus.
»Mama … Mama, wo bist du?«, rief sie durch den Flur. Erneut hörte sie ein Poltern, bevor ihr der Tod in der offenstehenden Tür zum Schlafzimmer erschien.
Schwarz gekleidet war er und schwarz war auch sein Gesicht, und es glänzte im Licht. In der Hand hielt er etwas, das bedrohlich blitzte. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und rannte durch den Flur zum Badezimmer. Kurz bevor sie es erreicht hatte, wandte sie sich noch einmal um und sah, dass der Tod ihr folgte. Sie schlug die Tür zu und drehte den Schlüssel herum. Ein kleines Fenster über der Toilette führte nach draußen, doch noch bevor sie den Griff umfasst hatte, rüttelte es an der Tür. Tränen liefen ihr über die Wangen und trübten ihren Blick, doch sie wusste, dass dieses Fenster die einzige Chance zur Flucht war. Der Griff ging schwer, doch es gelang ihr, das Fenster zu öffnen. Aus dem Rütteln an der Tür wurde ein Poltern, dann folgte ein lauter Schlag. Das Holz splitterte. Sie sprang auf den Toilettensitz und schob ihren Oberkörper hinaus. Das Fenster war eng, maß kaum einen halben Meter, doch sie war schlank und auch auf die Gefahr hin, dass sie kopfüber auf die Pflastersteine im Hof stürzte, sie musste aus diesem Haus fliehen. Als es hinter ihr wieder krachte, stieß sie sich mit einem Schwung ab. Noch bevor ihre Hüften über die Zarge geglitten waren, flog die Tür auf und der schwarze Tod sprang in den Raum. Er ergriff ihre Beine und zog sie zurück. Sie zappelte und keilte aus wie ein Wildpferd, doch es nutzte nichts, der Tod war viel kräftiger als sie. Er zog sie zurück in den Raum und sie stürzte neben der Toilette zu Boden.
Sie drehte sich um und rutschte in die Ecke neben dem Waschbecken, wo die Wand ihre sinnlose Flucht beendete. Zitternd starrte sie auf die schwarze Gestalt, die vor ihr stand und sie beobachtete, wie sie über den Boden robbte.
»Nein … nein!«, schrie sie, als sie aufblickte. Regungslos stand er über ihr. Sie sah die weit geöffneten Augen, die durch zwei Schlitze der Maske auf sie herabblickten. Der leibhaftige Tod war über sie gekommen und reckte seine Arme in die Höhe. Ein Beil lag in seinen Händen.
»Nein, um Gottes willen, nicht …«
Das Beil sauste herab und ihr Kopf explodierte im grellen Schmerz. Ein erstickter Seufzer kam über ihre Lippen, als sie der zweite Hieb traf und ihr Blut gegen den Vorhang der Dusche spritzte.
*
Er saß auf einem Steinhaufen in der Nähe der Brücke und sog die Sonnenstrahlen des kalten Frühlingstages in sich auf. Die Luft war kalt, doch der heftige Wind, der in der Nacht von der See über die Küste gefegt hatte, war einer leichten Brise gewichen, die aus Westen über das Land wehte. Die salzige Luft tat gut, denn in seinem Kopf rauschte das Blut und ein heftiger Schmerz pochte in seinen Schläfen.
Er hatte es sich schwieriger vorgestellt, er hatte gedacht, dass er bis zum Äußersten seiner Kräfte gehen musste, doch nur in seinem Kopf breitete sich langsam das Gefühl der Erschöpfung aus. Auf der anderen Seite des Sees fuhr ein Traktor vorbei, doch es störte ihn nicht. Es war vollbracht. Eine lange Suche hatte endlich ihr Ende gefunden. Von seinem Ziel war er allerdings noch weit entfernt. Manchmal ist es, dachte er, als läge noch immer dieser Nebel über dem Land, als wäre noch immer die Wahrheit unter dieser wabernden und milchigen Schicht verborgen, und der Schmerz bohrte sich wie ein Stachel in seinen Kopf. Er hatte gehofft, dass sich der Schmerz legte, doch mit jedem Tag war er stärker geworden und auch jetzt, so kurz nach dieser Befreiung, verschwand er nicht einfach, sondern blieb noch immer dumpf zu spüren.
Zärtlich streichelte er über die goldene Kette mit dem Kreuz als Anhänger, dies war alles, was aus seinem früheren Leben übrig geblieben war. Seit über dreißig Jahren war diese Kette sein einziger Begleiter und er trug sie immer bei sich. Nicht um den Hals, nicht sichtbar, denn von Gott hielt er nicht viel. Gott war nie an seiner Seite gewesen, hatte sich nie um ihn gekümmert, ganz im Gegenteil, Gott hatte ihn einfach vergessen und in seinem Elend zurückgelassen.
Er fuhr sich über seine Handgelenke. Wenn er daran dachte, dann schmerzten noch immer die Fesseln, mit dem sie ihn an das Bett gekettet hatten, damals in diesem grauen, tristen und fensterlosen Zimmer in Zatec, dorthin würde er nie wieder zurückkehren.
Sie fehlte ihm, jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und jede Sekunde. Er erinnerte sich an ihr Lachen, das er viel zu selten gehört hatte, an ihre Worte, die im Wind verklungen waren, manchmal sogar an ihren Geruch, der für ihn immer ein kleines Stück Geborgenheit in all dem Schrecken der vergangenen Zeit bedeutet hatte. An die Eltern erinnerte er sich nur dunkel. Zweimal war er inzwischen an ihrem Grab gewesen und hatte seinen Frieden mit ihnen gemacht. Er hatte nie verstanden, warum sie weggegangen waren und ihre Kinder einfach ihrem Schicksal überließen, dennoch hatte er Blumen an die Stelle gelegt, an der ein schmuckloser grauer Stein ihre Namen trug. Blumen, die kein Verzeihen bedeuteten, denn es gab nichts zu verzeihen.
Er steckte das Kettchen in die Hosentasche und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Es war Zeit, niemand durfte ihn hier sehen. Er erhob sich und klopfte seine Hose ab, dann ging er zurück zur Straße, schwang sich auf das Fahrrad und fuhr über die menschenleeren Wege davon. Die Sonne schien ihm ins Gesicht und der Fahrtwind kühlte seine Wangen.
*
»Guten Morgen, ich bin Martin Trevisan, ich bin wieder hier.«
Die junge Frau mit den langen blonden, zum Zopf gebundenen Haaren und dem blassen Gesicht, die hinter dem Schreibtisch saß, hieß Thorke Oselich und war seine neue Chefin. Natürlich hatte sich Trevisan vor seiner Bewerbung über die Dienststellenleiterin in Wilhelmshaven informiert. Sie war Ende dreißig und direkt nach ihrem Abitur zur Polizei gegangen. Die Polizeischule hatte sie als Klassenbeste absolviert und nach einem Jahr im Streifendienst war sie zur Ausbildungsabteilung nach Nienburg gewechselt, bevor sie drei Jahre später ihre Ausbildung für den höheren Polizeidienst begann. Anschließend hatte sie im Führungsstab der Polizeidirektion Lüneburg gearbeitet, in Osnabrück und bei der Polizeiakademie, bevor sie vor zwei Jahren die Dienststelle in Wilhelmshaven übernommen hatte. Ihre Karriere war makellos und sie war beinahe alle drei Jahre befördert worden. Doch von echter Polizeiarbeit auf der Straße stand nicht besonders viel in ihrer Vita.
Thorke Oselich war jung, viel zu jung eigentlich, um bereits Chefin dieser Inspektion zu sein, aber diese Reform hatte viel durcheinandergewirbelt. Beck war längst in Pension und auch die ehemalige Direktorin Schulte-Westerbeck gab es nicht mehr. Es gab ein neues Dienstgebäude, in dem es immer noch nach frischer Farbe roch, neue Kolleginnen und Kollegen, die er erst einmal kennenlernen musste, und neue Zuständigkeiten, denn von dem ehemaligen Fachkommissariat war nur noch eine Außenstelle geblieben. Kleinschmidt, mit dem er sich vorgestern ein paar Minuten unterhalten hatte und der seit einem halben Jahr in Pension war, hatte ihn gewarnt. Alles war schlechter geworden. Zu wenig Personal, ein Riesenbezirk, den man zu betreuen hatte, und Vorgesetzte, die Polizeiarbeit auf der Straße nur noch vom Hörensagen kannten und sich ihre goldenen Sterne auf der Schulbank in Nienburg und Hiltrup verdient hatten, ohne jemals auch nur einen Falschparker aufgeschrieben, geschweige denn eine Leiche von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben.
Kleinschmidt war froh darüber gewesen, dass er endlich in Pension gehen konnte, denn auch die Spurensicherung war inzwischen zentralisiert und zur Direktion nach Oldenburg verlegt worden. Nur aufgrund seines Alters hatte er in Wilhelmshaven bleiben können. Wie eine ungeliebte Altlast war er sich vorgekommen. Zwar hatte man ihm staatlicherseits das Gnadenbrot in Wilhelmshaven gegönnt, dennoch hatte ihn stets das Gefühl verfolgt, dass niemand etwas dagegen gehabt hätte, wenn er vorzeitig in Pension gegangen wäre, um einem jungen, dynamischen Kollegen Platz zu machen.
Trevisan hatte nur mit der Schulter gezuckt. In den letzten fünf Jahren, die er bei der Präventionsabteilung in Oldenburg zugebracht und besorgten Bürgern die Vorzüge von Doppelverglasungen und dreifach gesicherten Türen nahegebracht hatte, war die Entwicklung innerhalb der Polizei irgendwie an ihm vorübergegangen. Er war nun selbst über fünfzig und hatte lange überlegt, ob er sich tatsächlich auf die ausgeschriebene Stelle beim Kriminalkommissariat in Wilhelmshaven bewerben sollte. Den Ausschlag hatte die Entfernung nach Oldenburg gegeben, denn seit einem halben Jahr wohnte er wieder an der Küste. Lea, seine Lebensgefährtin, hatte den Peerenhof unweit von Horumersiel gekauft, in den sie sich auf den ersten Blick sofort verliebt hatte. Auf der Suche nach einem neuen Atelier war sie dem Charme und der kreativen Ausstrahlung des alten Gemäuers erlegen. Sechshunderttausend Euro waren kein Pappenstiel, aber schließlich war Lea vermögend. Sie malte nicht nur Bilder und formte Skulpturen, sondern war inzwischen eine anerkannte und hoch gelobte Restauratorin sakraler Kunst, so dass es an Aufträgen nicht mangelte.
»So früh habe ich Sie eigentlich noch gar nicht erwartet«, entgegnete Thorke Oselich und erhob sich. »Nehmen Sie Platz, Herr Trevisan! Schön, dass ich Sie endlich persönlich kennenlerne. Sie waren schon einmal hier auf dieser Dienststelle, hörte ich.«
Trevisan nickte und nahm Platz. »In der Peterstraße, das ist lange her.«
»Ja, sehr lange«, bestätigte die Inspektionsleiterin. »Wie ich erfuhr, sind Sie damals wegen Ihrer Tochter nach Hannover zum Landeskriminalamt gewechselt. Sie musste dort in ärztliche Behandlung.«
Trevisan nickte.
»Wie geht es ihrer Tochter heute?«
Trevisan winkte ab. »Es geht ihr gut, sie arbeitet inzwischen auch hier in Wilhelmshaven.«
»Sie ist auch bei der Polizei?«
»Nein, beim Ozeanographischen Institut am Arsenalhafen. Sie hat Meeresbiologie studiert.«
»Ah, ich verstehe. Sind Sie deswegen wieder zurückgekommen?«
Trevisan lächelte und schüttelte den Kopf. »Paula ist inzwischen erwachsen, wobei Kinder für Eltern natürlich immer Kinder bleiben. Ich glaube kaum, dass sie begeistert wäre, wenn ich mich in ihr Leben mische. Nein, ich wohne inzwischen auf dem Peerenhof bei Horumersiel und nach Oldenburg sind es siebzig Kilometer. Außerdem fehlte mir die Küste. Ich glaube, wenn man an der Wiege des Windes aufgewachsen ist, dann zieht es einen immer wieder hierher zurück. Manchmal fühlte ich mich in den Städten wie ein Fisch auf dem Trockenen.«
»Das kann ich verstehen«, entgegnete Thorke Oselich. »Ich bin aus Schortens.« Die Kriminaldirektorin kramte aus ihrem Postkorb Trevisans Akte hervor und blätterte darin. »Sie waren damals Leiter des 1. Fachkommissariats.«
»Ja, anschließend war ich fünf Jahre beim LKA, dann wurde ich auf eigenen Wunsch nach Oldenburg versetzt.«
»Wie ich sehe, arbeiteten Sie zuerst bei der Koordinierungsstelle für Verbrechensbekämpfung und anschließend bei der Kriminalprävention. Sie sind sich aber im Klaren darüber, dass die ausgeschriebene Stelle des Kommissariatsleiters eine Sachbearbeiterstelle ist?«
»Ich bin mir im Klaren darüber, dass dies auch Außendienst bedeutet, und das kommt mir auch gelegen. Ich habe den Bürodienst satt.«
Thorke Oselich klappte die Akte zu. »Dann ist es ja gut, Herr Trevisan. Ich denke, ich stelle Ihnen nun die Abteilung vor. Allzu viele sind wir ja nicht mehr. Bei größeren Ereignissen unterstützen uns die Kollegen aus Oldenburg. Die Ermittlungen werden nach wie vor durch das Kommissariat geführt, leider sind wir nur dünn besetzt. Auch da unterstützt uns Oldenburg mit den Fachdiensten, wenn es notwendig ist.«
Die Inspektionsleiterin erhob sich, Trevisan folgte ihr. Sie führte ihn den Flur entlang in den Südflügel des Gebäudes, wo im zweiten Stock das Kriminalkommissariat untergebracht war. »Wir haben insgesamt acht Mitarbeiter im Kommissariat. Mit Ihnen sind es neun. Ihr Vorgänger wollte es etwas ruhiger und ist in den Stab nach Oldenburg gewechselt, die Stelle war seither unbesetzt. Frau Sander leitete die Abteilung.«
»Monika Sander?«
Thorke Oselich nickte. »Sie kennen sich?«
»Sie war früher im Fachkommissariat meine Stellvertreterin.«
»Gut, dann müssen Sie sich ja nicht großartig umstellen.«
Vor einer Glastür mit der Aufschrift Kriminalkommissariat blieben sie stehen. Thorke Oselich tippte den Code in den kleinen grauen Kasten neben der Tür und der Summer war deutlich zu vernehmen. Sie schob die Tür auf. »Den Code kennen Sie?«
Trevisan nickte. Es war derselbe, der ihm auch in Oldenburg sämtliche Pforten geöffnet hatte. Offenbar hatte die Polizei überall Schlüssel und Schlösser inzwischen abgeschafft.
Die Chefin führte Trevisan in einen großen Raum, in dem ein langer Tisch und etliche Stühle standen. Auf dem Tisch lagen eine Banane und eine Tupperbox. »Warten Sie hier. Ich rufe alle zusammen, das ist am einfachsten. Schließlich sollten alle wissen, wer ab heute das Zepter in diesen Räumen schwingt.«
Mit einem Lächeln ließ sie Trevisan an der Stirnseite des Tisches zurück, der sich angesichts der Situation ein klein wenig unwohl fühlte.
Tröpfchenweise füllte sich der Raum. Als Monika Sander das Büro im Schlepptau von Thorke Oselich betrat, winkte sie ihm freudig zu. Die Kolleginnen und Kollegen nahmen am Tisch Platz und warfen Trevisan den einen oder anderen abschätzenden Blick zu.
Thorke Oselich trat an seine Seite und brachte das Auditorium mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist Erster Polizeihauptkommissar Martin Trevisan, er wird diese Abteilung übernehmen, nachdem Kollege Bloom endgültig nach Oldenburg umgesetzt wurde. Er war schon einmal hier und leitete das 1. Fachkommissariat.«
Trevisan nickte den Anwesenden zu.
»Martin, schön, dass du wieder hier bist«, begrüßte ihn Monika, die sich in die vordere Reihe gesetzt hatte.
»Jetzt lasse ich Sie am besten alleine, damit Sie Ihre neuen Kolleginnen und Kollegen kennenlernen. Wir haben hier eine Ermittlungsabteilung und die Fahndung, ich denke, Sie werden schnell den Überblick haben. Wenn Sie noch Fragen haben, Sie wissen, wo Sie mich finden. Wir pflegen hier eine offene Kultur des Umganges, mein Büro steht Ihnen jederzeit offen.« Mit einem kurzen Nicken verabschiedete sich die Inspektionsleiterin.
»Soso, Erster Polizeihauptkommissar«, murmelte Monika. »Hier habe ich es leider nicht so weit gebracht, aber wie heißt es immer: Die guten Stellen sind eben bei der Direktion und nicht auf der Straße.«
Trevisan zwinkerte ihr zu. »Genau da komme ich her.«
»Wie geht es Paula?«
»Es geht ihr gut, sie hat mir deine Grüße bestellt.«
»Ja, ich war überrascht, als sie mir erzählte, dass du jetzt auf dem Peerenhof wohnst und noch überraschter war ich, als ich von deiner Bewerbung hörte. Es gibt selten Leute in unseren Reihen, die im Alter wieder zurück auf die Straße wollen.«
»Tja, dann bin ich wohl die Ausnahme. Außerdem fühle ich mich immer noch jung …«
Bevor er weitersprechen konnte, betrat ein uniformierter Kollege den Raum. »Entschuldigen Sie, leider gibt es unangenehme Nachrichten. Auf dem Jakobshof bei Friederikensiel hat der Postbote eine Leiche gefunden, die Kollegen von der Streife sind schon auf Anfahrt. Es sieht nach einem Verbrechen aus.«
Monika Sander erhob sich. »Tja, geht schon gut los, dein erster Arbeitstag. Eigentlich hatten wir es in den letzten Wochen und Monaten sehr ruhig hier. Offenbar ziehst du Mord und Totschlag irgendwie an. Trotzdem, herzlich willkommen in Wilhelmshaven.«