Kitabı oku: «Der Tatzelwurm», sayfa 2
Erste Beweise?
Von Drachenbegegnungen, die bereits als Augenzeugenberichte überliefert wurden, sollen ein Stein und ein Ei stammen, die beide als Beweis für die entsprechende Erzählung dienen: Der Stein wurde in der Schweiz, nämlich in Luzern gefunden, das Ei stammt aus der Gegend um Madonna di Campiglio im heutigen Trentino (Italien).
Der Luzerner Drachenstein fiel im Sommer 1421 vom Himmel, die Primärquelle ist der Schweizer Geschichtsschreiber Johann Leopold Cysat, Neffe von Renward Cysat, der in seiner 1611 erschienenen „Beschreibung dess Berühmbten Lucerner= oder 4. Waldstätten Sees“ darüber schreibt. Um die Besitzrechte an dem Stein war 1509 ein Rechtsstreit zwischen dem Wundarzt Martin Schryber und dem Vorbesitzer des Steins Rudi Stempflin aus Rotenburg entbrannt. Stempflin war ein Nachkomme des Finders, er hatte dem Arzt den Stein als Pfand gegeben, und dieser wollte ihn nicht wieder herausrücken.
Der Finder, der Bauer Stempflin, mähte sein Feld in der Gegend von Rothenburg bei Luzern, als er plötzlich einen Drachen über sich sah, der vom Rigi nach dem Pilatusberg flog. Stempflin fiel in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, fand er einen Klumpen geronnenes Blut und darin den Drachenstein. Das Dokument der Auseinandersetzung überliefert den Bericht des Bauern:
Im Sommer 1421 verlor ein Drache einen Stein, als er Luzern überflog. Um den Stein wurde später prozessiert. Stich nach Johann Leopold Cysat, 1661.
„Er habe auch von synen Vorderen gehört, daß sein Aeni [Großvater] diesen Stein funden hab, in einer Matten, als er gehewet hab, sye ein grausamer Drach kommen, in dem Luft schiessen, zu nechst bei ihme hin, von einem Berg genannt Rigi, in den andern Berg Frakmont, und ihm so nahend, von der Höhi herab kommen, daß ihm geschwunden und in Ohnmacht gelegen.
Als er aufstunde, funde er eine Schwäre Bluts, so von dem Drachen gesprützt war, daselbig Blut wäre zu stund an gestanden, als eine Sulz, in demselbigen Blut sye dieser Stein gelegen und funden worden, also sye der Stein […] in seinem Geschlecht geblieben, und sither, etlich Herren und Stätt, disen Stein wollen kaufen, aber seine Vorderen haben ihn nie wolle verkauften.“25
Den fliegenden Drachen bildete Cysat in einem Stich als langhalsiges, feuerspeiendes Monstrum mit Vogelschwingen, Löwentatzen und Krokodilschwanz ab. Der Aberglaube, dass sich im Kopf von Drachen und Schlangen besondere Steine oder Kristalle befänden, die Ruhm, Reichtum und Glück versprachen, war sicherlich der Grund dafür, dass die beiden vor Gericht zogen. Was aber war der Drachenstein? Fiel er vom Himmel oder wurde die Rahmengeschichte vom Drachen nur erfunden, um seinen Wert zu steigern? Wie so oft bei diesen jahrhundertealten Geschichten ist eine eindeutige Erklärung unmöglich: Man fand besondere Steine am Boden und hielt sie für Absonderungen von fliegenden, feuerspeienden Ungeheuern. Peter zu Käß, der Rat zu Luzern und Vogt zu Rothenburg, stellte 1509 jedenfalls fest, dass der Drachenstein heilsame Wirkung aufwies: Seit 30 Jahren

Darstellung des umstrittenen Drachensteins aus Johann Jakob Scheuchzers „Natur-Geschichte des Schweitzerlandes“, 1746.
„hab auch derselbig Stein unzahlbarlich vil Menschen, Frauen und Mann, mit Hilff Gottes ernehrt und thüe groß wunderlich ding, mit verborgnen Gift zu melden, und stelle [stille] alle Flüß des Bluts, wie die genennt werden mögen, es syen die roth Stuhlgäng, zu Wunden, zu der Nasen, und sonderlich der Frauen übrigen Flüß und weiblich Krankheit, ohn allen Schmerzen“.26
Der Rat – wohl parteiisch, weil er zwischen einem studierten Arzt und einem einfachen Bauern zu entscheiden hatte – sprach dem Arzt die Rechte an dem Drachenstein zu. Hier trifft nicht nur Stadt- auf Bauernwelt, sondern auch Urwesen auf Verwaltungsapparat.
Die weitere Geschichte des Drachensteins hat der Schweizer Kryptozoologe Andreas Trottmann erforscht und dem Autor zur Verfügung gestellt. Der damalige Besitzer Martin Schryber ließ sich 1523 vom Schultheiß und Rat der Stadt Luzern die Wunderkraft des Drachensteins in einer Urkunde bestätigen, der Stein ging durch mancherlei Hände und wurde schließlich 1929 vom Kanton Luzern von der Familie Meyer von Schauensee erworben und wird seitdem im Natur-Museum Luzern ausgestellt.
Was dieser Stein nun eigentlich sei, darüber gab es vielerlei Spekulationen. Im 18. Jahrhundert bereits zeigte sich der Naturforscher und erste Drachenexperte der Alpen, Johann Jakob Scheuchzer, äußerst skeptisch. Er glaubte zwar an Drachen, nicht aber an den Stein:
„Ich halte aber ungeachtet dessen, was ich dort [im ersten Teil seines Buchs] zur Beglaubigung der Historie von dem Drachen-Stein angebracht habe, davor, daß dieser Stein ein Agat-artiger Kieselstein [also Achat] ist, welcher durch eine besondere Kunst, so wie er aussieht, gemahlet worden, davon man in genauer Betrachtung einige Anzeigungen entdecken kan. Mir ist die Kunst bekannt, welche hie und da ausgeübet wird, dadurch die harteste Agat und Chalcedonier mit beliebigen Figuren so können bemahlt werden, daß die Farbe in die Substanz des Steins, ohne die geringste Zerfressung, hinein dringet, und für natürlich kan ausgegeben werden.“27
Spätere Experten wie der deutsche Physiker Ernst Florens Friedrich Chladni (1756–1827), der als Erster bewies, dass Meteoriten Stein- und Metalltrümmer aus dem All sind, hielten einen meteoritischen Ursprung für möglich – sicher nicht wegen des Aussehens des Steins, sondern wegen der Geschichte, die über ihn erzählt wurde.
2006 erfolgte eine Untersuchung an der Eidgenössischen Materialprüfungs- und Forschungsanstalt EMPA.
„Dank zerstörungsfreier Analytik gewannen nun Wissenschafter des Natur-Museums Luzern, der Universität Bern und des Naturhistorischen Museums Bern zum ersten Mal einen Einblick in den Kern des Luzerner Drachensteins. Die an der EMPA in Dübendorf mit Hilfe von Computertomographie ermittelten Resultate zeigen, dass der Drachenstein vollständig aus einem Material, mit größter Wahrscheinlichkeit gebranntem Ton, besteht. Damit kann vorderhand zwar ausgeschlossen werden, dass dieser im Natur-Museum Luzern gezeigte ‚Heilstein mit wundersamen Kräften‘ einen Meteoriten enthält. Was es mit der Drachenbeobachtung vor rund 600 Jahren auf sich hat und wie die Tonkugel entstanden ist, bleibt jedoch nach wie vor ein Rätsel“,
schließt Andreas Trottmann.
Die Geschichte mit dem italienischen Drachenei ist nicht weniger kompliziert. Noch um 1850 hing in der Kirche von Madonna di Campiglio ein Drachenkopf an einer Kette vom Dach herab. „Neben ihm hing das Ei, das man angeblich bei diesem Drachen gefunden hatte.“ Beides wurde jedoch beim Umbau der Kirche weggeworfen. Der Drache stammte aus dem nahen Nambinosee, er habe Schafe, Ziegen, Lämmer und einmal sogar einen Hirten gefressen. Anrainer beauftragten daraufhin einen Sulzbacher Bärenjäger, der den Drachen erschoss, aber einige Zeit darauf an dessen Gift starb, „da das Blei das Gift anziehe“28. Somit datiert die Sage das Ereignis zumindest in die Zeit nach der Entwicklung der Feuerwaffen.
Im See von Nambino soll ein Drache gefangen worden sein, der in der Wallfahrtskirche Madonna di Campiglio ausgestellt wurde.
Die älteste bekannte Beschreibung des Drachenkadavers stammt von 1673. Michel’Angelo Mariani29 berichtet „als Merkwürdigkeit“, „daß vom Gewölbe der genannten Kirche nebst einem Straußenei eine Art Fisch im gräulichem Klumpen […] herabhänge, daß dieses Ungeheuer in einem See oberhalb Campei von einem Hirten getötet worden sei, daß aber dieser Hirte dabei sein Leben eingebüßt habe“. Carlo Colloni hörte 1888 die identische Erzählung von einem „Urgroßvater“ aus dem Rendenatal, nur hatte sich nun das Straußenei in ein Drachenei verwandelt.30
Doch es gibt weitere Augenzeugen: David Lorenzetti soll das gleiche Tier als 14-Jähriger gesehen haben, als es nach seiner Erlegung vier Tage lang ausgestellt war. Da er seine Geschichte um 1930 weitererzählte, muss sie sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts ereignet haben. Aufgeschrieben hat Lorenzettis Bericht Ada von der Planitz, die den Bericht an den Südtiroler Forscher Karl Meusburger weiterleitete:
„Kopf und Ohren dieses Tieres waren nach [seiner] Beschreibung katzenartig, die Augen waren groß, das Gebiß zeigte viele Zähne. Die Länge betrug vielleicht 40 Zentimeter. Die vorderen Beine waren etwas länger als die hinteren, der Schwanz war zuerst breit, endete dann aber spitz. Die Farbe war ein dunkles Braun mit schwarzen Querstreifen. Vom Kopf bis zu den Schultern zog sich eine Mähne, die zu beiden Seiten herabhing.“31
Das Tier sei erlegt worden, weil es auf den Almen den Kühen an die Euter ging und ihnen alle Milch aussaugte. Nach Lorenzetti hatte sich das in seiner Jünglingszeit ereignet, denn: „Nachdem viele Neugierige es besichtigt hatten und es auch noch photographiert worden war, wurde es zum Ausstopfen nach Trento gesandt.“ Dieser Augenzeuge nahm allem Anschein nach eine bereits seit 200 Jahren in Umlauf befindliche Sage und erzählte sie so weiter, als sei er unmittelbar anwesend gewesen. Seine Schilderung ähnelt der vieler weiterer Tatzelwurmzeugen, und doch hat er nur eine vorgefundene Geschichte stark umgeformt und als eigene ausgegeben. Wie verlässlich ist wohl der Bericht, den er von dem toten Tier gibt? Es soll sich nach anderen Aufzeichnungen eigentlich nur um den Kopf eines Drachen gehandelt haben!
Der Priester und Naturforscher Karl Meusburger, der Augenzeugenberichte sonst generell wenig anzweifelte, hielt den Drachen in der Wallfahrtskirche nach Lorenzettis Beschreibung für ein künstlich geschaffenes Monster:
Die Seekatze oder Spöcke (Chimaera monstrosa) ist eine mit Haien und Rochen verwandte Knorpelfischart.
„Im Museum von Verona sind einige Exemplare eines ungefähr halbmeterlangen, drachenartigen Tieres zu sehen. In Wirklichkeit sind es keine in der Natur vorkommenden Tiere, es hat vielmehr ein geschickter Präparator […] einen echten Fisch durch Einschneiden und darauffolgendes Biegen und Verdrehen einzelner Körperteile derart umgestaltet, daß er eine drachenähnliche Gestalt bekommen hat.“
Meusburger nimmt an, der Drache sei aus einer Spöcke oder Seekatze geschaffen worden, wissenschaftlich Chimaera monstrosa. „Sogar die Katzenohren sind vorhanden, denn im männlichen Geschlecht hat die Spöcke neben den Augen zwei dünne Knochenauswüchse.“ Das Präparat sei vermutlich vor langer Zeit gekauft und in der Kirche ausgestellt worden.32
Das ist so ganz unwahrscheinlich nicht – in vielen italienischen Kirchen hängen zum Beispiel Krokodile von der Decke, die vor Urzeiten ein Adeliger erschlagen haben soll, in anderen werden Knochen von Walen oder fossilen Säugetieren als Drachenreste gezeigt.
Urgewalt und Ungetüm: vom Mittelalter bis zur Renaissance
Bis in die Zeit der beginnenden Naturwissenschaft, die Renaissance, ist das Aussehen der überlieferten Drachen recht vielfältig. Dann aber kommen nach und nach die typischen Tatzelwurmeigenschaften immer deutlicher zutage. Vor dem 18. Jahrhundert können viele Alpendrachen noch fliegen, später begegnet man dieser Eigenschaft beim Tatzelwurm seltener. Die Zeit vom Hochmittelalter bis ins 15. und 16. Jahrhundert ist noch von offensichtlich traditionellen Erzählelementen charakterisiert: Noch verkörpert der Drache Naturkatastrophen, er kündigt als Omen Unheil an, fliegt mit ledernen Schwingen durch die Luft und ist ein Tier der Grotten und Höhlen.
So hauste auf der Kötschach-Alm über Bad Gastein im Bundesland Salzburg „ain grosser lintwurmb“.
Als „im Jahre 1403 ein furchtbares Unwetter tobte und ein Wolkenbruch entstand, wurde der Lindwurm bis gegen Hundsdorf hin von den Fluten getragen. Als das Wasser sich verlaufen hatte, blieb das Ungetüm auf einem Felsen unterhalb von Hundsdorf liegen und verendete. Die Bauern der Gegend waren voller Freude, daß das Ungeheuer, das dem Lande schon so viel Schaden bereitet hatte, nun endlich tot war. Das Feld aber, auf welchem der Lindwurm liegengeblieben war, heißt bis zum heutigen Tage das Wurmfeld.“33
Laut dem Bericht verpestete das Aas die Gegend.
Auch in späteren Berichten werden noch zahlreiche Tatzelwurmkadaver als stinkend beschrieben. Zudem wurden immer wieder Fluten und Geröllabgänge in historischen Texten als Drachenausfahrten geschildert. So hielt auch der Naturphilosoph Maximilian Perty Mitte des 19. Jahrhunderts den Lindwurm von Gastein für eine personifizierte Mure, eine Schlammlawine.34 Handelt es sich nun um ein Tier, das verweste, oder um eine Gerölllawine? Offenbar funktionieren beide Erklärungen, das Geschehene bleibt im Ungewissen. Die Gegend um Luzern scheint von zahlreichen Drachen bewohnt gewesen zu sein, dem Drachenstein sind wir schon begegnet. Die Luzerner Drachen von 1420 verweilen wie auch der Gasteiner Lindwurm in dieser Zwischenwelt – einerseits noch Naturkraft, andererseits bereits zoologischer Exot. Wie viele andere Drachenberichte verdanken wir auch diesen dem Jesuitenpater Athanasius Kircher (1602–1680), der seine wissenschaftlichen Korrespondenzpartner systematisch nach Sichtungen befragte und die Ergebnisse in seinem Buch „Mundus Subterraneus“ (1665) niederschrieb, einem Werk, in dem er die These aufstellt, die ganze Erde sei von einem unterirdischen Höhlengeflecht durchzogen, in dem nicht nur Zwerge, sondern auch Drachen lebten. Der Wohnort der Drachen wird in eine kaum zugängliche Welt verlegt, sodass deren Seltenheit auch für ein skeptisches Publikum glaubhaft ist.
1420 fiel ein Fassbinder (Küfer) aus Luzern am Pilatusberg (der bereits in der Geschichte vom Drachenstein eine Rolle spielte) in einen tiefen Schacht und verlor beim Aufschlag das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, entdeckte er, dass er sich in einer Grotte befand, in der zwei geflügelte Drachen lebten, die die beiden Ausgänge bewachten. Sie waren eher handzahm und zutraulich und taten ihm nichts, ließen ihn aber auch nicht aus ihrem düsteren Gefängnis entkommen. Obwohl der Vorfall sich über die kalten Monate erstreckte, befanden sich die Echsen nicht in Winterstarre, doch war ihr Stoffwechsel ohne Zweifel herabgesetzt: Der Mann beobachtete, dass sich die Ungeheuer nur vom Tau auf den Felswänden ernährten, den sie mit ihren Zungen vom Stein leckten. Er tat es ihnen gleich und überlebte. Nach mehreren Monaten bemerkte er, wie sich die Drachen streckten und reckten und ihre ledrigen Flügel öffneten und schlossen, und er folgerte daraus, dass sie sich auf den Frühlingsausflug vorbereiteten.
In den Alpen verkörperten die Drachen oft die unberechenbaren meteorologischen Mächte; man glaubte, die Sturzbäche zur Schneeschmelze würden von Drachen verursacht, und es hieß bei plötzlich auftretenden Wassermassen: „Ein Drache ist ausgefahren.“ Offenbar geht Kirchers Konkretisierung von diesem Naturmythos aus, der nun durch typische Renaissancedrachen illustriert wird. Einer der beiden Drachen war bereits aus dem Berg in die frische Luft geflogen, und der Fassbinder nutzte seine Chance, band sich mit seinem Gürtel am Schwanz des zweiten fest und kam so wieder an die oberirdische Welt. Doch durch seinen langen Aufenthalt – er soll die Zeit vom 6. November 1420 bis zum 10. April 1421 in seinem unterirdischen Gefängnis verbracht haben – an den Tau der Felsen gewöhnt, starb der arme Mann nach allem, was er durchgemacht hatte, kurz nach seiner Rettung. Er vertrug die schwere Nahrung der oberirdischen Welt nicht mehr. Der Fassbinder hatte über seiner Rettung den Schöpfer nicht vergessen und vermachte seine Ersparnisse der Kirche. Zur Erinnerung hing in der Luzerner Kirche St. Leodegar noch lange Zeit ein großformatiges Ölbild der wundersamen Geschehnisse. Dort sah es Kircher, und ein Kupferstich in seinem Werk reproduziert das Gemälde: Man sieht ein Panoramabild des Vierwaldstätter Sees mit einer geringelten Schlange, etwa mannsgroß und mit zwei Vogelflügeln, dahinter dem zweiten Drachen mit vier Tatzen und Fledermausschwingen und dem armen Fassbinder, der sich mit einer Hand verzweifelt festklammert. Ganz oben auf dem Berg ist der Pilatussee zu erkennen, in den der Sage nach der Dämon Pilatus, der Jesus zum Tode verurteilte, bis in alle Ewigkeit verbannt wurde, um für seine Sünden zu büßen. Eine wahrhaft wilde, höllische Gegend.35 In diesem Bericht sind das noch traditionelle Drachen, aber sie deuten auf den späteren Tatzelwurm hin – schlangenförmig, mannsgroß, in Berghöhlen lebend (Stollenwurm) und zu weiten Flügen oder Sprüngen fähig.
Verschiedene Luzerner Bürger sollen nach den Aufzeichnungen Diebold Schillings 1468 einen weiteren Drachen gesehen haben, der aus dem Vierwaldstätter See kam. „Ein großer Drachenwurm schwamm in die anschwellende Reuss und unter der Brücke durch. Niemand konnte seine Länge oder Größe bestimmen.“36 Diese Erzählung geht vielleicht auf eine außergewöhnliche Überschwemmung zurück, denn Darstellungen des 15. Jahrhunderts zeigen, wie die Reussbrücke mit Holzpalisaden gegen weitere Fluten abgeschirmt wurde.
Ein Fassbinder verbrachte im 15. Jahrhundert einen ganzen Winter in einer Drachenhöhle, ehe er sich im Frühjahr daraus befreien konnte, indem er sich an ein Tier anhängte. Stich nach Athanasius Kircher, 1678.
Der erste Forscher, der Drachenberichte in den Alpen sammelte, war der Luzerner Stadtschreiber Renward Cysat (1545–1614). Die Familie stammte ursprünglich aus Mailand, und in vielen der aktuellen Ereignisse, die Cysat festhielt, spielt Mailand als nächste katholische Stadt für das reformiert umzingelte Luzern eine Rolle. Cysat sammelte Meldungen von Kobolden, Dämonen, Seeschlangen und Drachen, die fast überall in der Wildnis um seine Wahlheimatstadt (er erhielt 1549 das Luzerner Bürgerrecht) hockten und auf unvorsichtige Menschen lauerten. Zum Jahr 1480 berichtet er, dass „eine große Flut im Lande war. Die Leute sahen eine große Schlange mit vier Füßen, die aus der Aare stieg und den Berg herabkam, von Zoffingen nach Ryckern.“37
Die Flüsse um Luzern sind der Schauplatz weiterer Drachensichtungen. Die Reuss mündet in die Aare, und in den frühen Morgenstunden des 26. Mai 1499 wollen Augenzeugen beobachtet haben, wie ein Drache mit großer Geschwindigkeit vom See her unter der Reussbrücke durchschwamm.38 Petermann Etterlins „Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft“ (1507) vermerkt das Ereignis; in Niklaus Schradins Reimchronik vom Schwabenkrieg „Cronigk diß kriegs gegen dem allerdurchlüchtigisten hern Romschen konig“ (1500) wird es mit folgenden Knittelversen überliefert:
„vff den xxj tag meyen ist beschechen
zu Lutzern, hat man ein seltsam ding gesehen,
ein wurm, sin hals ward geacht zwei klaffter lang,
sich vß dem sew durch die Rüßbrügk schwang.
sin houpt mit breiten oren, gestalt eins kalb,
vnd die grosse des libß allenthalb
ouch einem kalb ze glichen vnd ze schetzen,
daby hab ich die weit hören schwetzen,
des wurms lengy sy xj klaffter gewesen.“39
Das sind, bei einem Klafter zwischen 1,7 und 2,5 Meter, immerhin um die 20 Meter!
Renward Cysat kennt einen weiteren Pilatusdrachen. 1503 gingen junge Männer aus Luzern auf Hoch- und Niederwildjagd in den Wäldern gegen Malters. Einer der Hubertusjünger blieb zurück und stieß am Boden auf einen großen schlafenden Drachen:
„Zuerst meinte der junge Herr, es läge da ein alter, verfaulter Baum. Als aber das Tier einen bösen Geruch und Dampf von sich gab, merkte der Junker bald, was er vor sich hatte. Er erschrak zuerst ordentlich; als er aber einige seiner Gefährten nahen hörte, fasste er sich ein Herz und schlug dem Untier mit einer Axt auf den Kopf. Der Streich schadete dem Tier, das eine dicke gehörnte Haut besaß, nichts. Es erwachte aber davon, schwang sich in die Höhe und flog über den Wald davon.“40
Als er seine Jagdkumpane rief, fanden diese nur noch einen verbrannten Flecken vor. Cysat will diese Geschichte 60 Jahre später noch aus dem Munde eines der Beteiligten gehört haben.
Am 29. Juli 1509 erschien laut dem Schweizer Chronisten Diebold Schilling (vor 1460–vermutlich 1515) ein Monster im Zuger See,
„zur Zeit des Papstes Julius und des Kaisers Maximilian. Ein großer Fisch tauchte bei Arth auf, der seit uralten Zeiten anzeigte, wenn immer etwas Wichtiges wie ein Krieg, ein Tod oder Schaden fürs Leben bevorstand. Viele Leute verglichen seine Form mit der eines Karpfens, aber er hatte die Größe eines Bootes mit Eichenplanken. Er taucht nur vor wichtigen und vielsagenden Ereignissen auf.“41
Zwei Jahre darauf meldet der Drachenforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733) in seiner „Natur-Geschichte des Schweitzerlandes“ (1716) unter Berufung auf Lindauers Winterthurer Chronik: „In dem Jahr (1511.) sahe man zu Eglisau einen grossen Wurm den Rhein hinunter fahren.“42
1559 wurde – wiederum nach Scheuchzer – ein Drache bei Chur beobachtet, aber das war nicht der erste in dieser Region, denn bereits 30 Jahre zuvor hatte ein Einheimischer
„einen sehr grossen Wurm, welcher auf einem Felsen lag, geschossen, der so vergiftig war, daß auch die Luft, welche über ihn her wähete, den Mann des Gesichts beraubte, und seinen Leib so aufgeblasen, daß er keine Hoffnung des Lebens mehr hatte. Er konnte aber mit grosser Mühe noch nach Hause kommen, und nachdem er den seinigen den Ort, wo die Schlange gewesen, angezeiget, sey sie einige Tage hernach getödtet worden.“43
Die ersten Drachen außerhalb der Schweiz kommen aus Österreich und werden von vielen Gelehrten bezeugt, darunter dem Begründer der Zoologie, dem Schweizer Arzt und Naturforscher Conrad Gesner (1516–1565), und dessen Verleger Christoph Froschauer (1490–1564). Eine Herde vierfüßiger Schlangen, „ähnlich den Eidechsen“, soll 1543 am Himmel über der Steiermark gesehen worden sein. Gesner geht anlässlich dieser Meldung auf die Arzneimittel ein, die aus Drachen gewonnen werden, und erklärt, der Drache sei so giftig, dass eine Bisswunde nie mehr heile.44 Im zweiten Buch seiner „Geschichte der Tiere“ erwähnt Gesner, er habe gehört, dass in jener Region der Gallia Cisalpina, die man Piemonte nenne, in den Bergen ungeheure Eidechsen lebten, so groß wie Hundewelpen, deren Exkremente von den Bewohnern gesammelt würden, er habe dafür allerdings noch keinen zuverlässigen Zeugen.45 Diesen Berichten und Beobachtungen zufolge finden sich Alpendrachen nun in der Schweiz, in Österreich und Italien.
Der Chronologie der Drachenerwähnungen folgend suchte nach Renward Cysat 1566 ein Wasserdrache erneut die Reuss auf. „1566, nach einem Sommer mit nie zuvor erlebten großen Überschwemmungen, wurde wieder eine große Schlange in der Reuss bei Bremgarten gesehen. Nachts verließ sie den Fluss, betrat die Alpenhänge und riss Kälber in Stücke.“46 Bremgarten liegt zwischen dem Vierwaldstätter See und der Mündung der Reuss in die Aare. Jacob Huber, der die Schlange sah, hielt sie zuerst – wie das Monster vom Zuger See – für einen riesigen Lachs und warf seinen Fischspeer nach ihr, ohne sie jedoch zu verletzen. Das verärgerte Ungeheuer stürzte sich auf ihn: Er sprang, nun selbst erschrocken, aus dem Boot und rannte nach Hause – und starb dort sechs Wochen später. Die Ursache wird wohl wieder das schlimme Gift gewesen sein, das der Drache ausdünstet und das auch den Drachentöter dahinrafft.
Graubünden ist der Schauplatz der letzten drei Drachenbegegnungen, die alle von dem Schweizer Geschichtsschreiber Ulrich Campbell (um 1510–1582) aufgeschrieben wurden. Er berichtet von „einem glaubwürdigen Mann, nun bereits verstorben“, der einem Lindwurm beim Lac du Saint-Moritz begegnete:
„Nicht weit von Cellerina im Oberengadin stürzt der den st. Moritzer see verlassende Inn über einen felsen in eine tiefe Schlucht und bildet einen wasserfall, der in bezug auf wassermenge zu den grössten und merkwürdigsten der Schweiz gehört. Bei diesem Wasserfalle soll nach alter volkssage einst ein drache oder lintwurm gehaust haben. Ein sonst glaubwürdiger, vor wenigen jahren gestorbener mann, Johann Mallet, soll denselben gesehen und vor schrecken erkrankt und gestorben sein.“47
Ähnlich erging es Martin Massol, Campbells Großvater mütterlicherseits. Er
„beobachtete eines Tages in der Steinwüste unterhalb des Berges Alpiglia nahe Süs [Susch] ein so großes schreckliches und schlangenartiges Tier, dass er sofort davon krank wurde, sein Haupthaar gänzlich verlor und sich die Haut an den Stellen seines Körpers ablöste, die dem Anblick des Untiers ausgesetzt und nicht von Kleidern bedeckt waren.“
Zudem gingen alle seine Pferde ein.48
Den Drachen von Alpiglia wurden die Anrainer schließlich durch magische Mittel los.
„Joh. Branca von Guarda soll den kleinen see auf dem genannten berge Alpiglias bei Süs, wo ein drache wohnte, mit hülfe eines beschwörers mit blättern und zweigen überdeckt und dadurch den wurm genöthigt haben, mitten in einem gräulichen unwetter den ort zu verlassen, in folge dessen er den Inn abwärts bis Innsbruck geschwemmt und dort nicht ohne grosse gefahr getödtet wurde.“49