Kitabı oku: «Graphologie. Schriften 1», sayfa 3
Wie können graphologische Befunde angesichts dieser Situation schlüssig objektiviert werden? Wir haben gesehen, daß keine Validierung aussagekräftig sein kann, wenn sie nicht auf der Grundlage vollständiger Persönlichkeitsbeschreibungen oder einzelner aus solchen Beschreibungen abgeleiteter Feststellungen unternommen wurde, die Frage des »validen Kriteriums« bleibt aber noch zu beantworten. Nach Ansicht des Verfassers und gemäß seiner vorstehenden Argumentation insgesamt besteht das einzige mögliche Kriterium von unstrittiger Relevanz für die Objektivierung von Persönlichkeitsbeschreibungen darin, daß die Identität des beschriebenen Subjekts durch Personen, die es gut kennen, wiedererkannt werden kann. Die einzig solide Lösung scheinen somit angepaßte Versuche zu sein, in denen eine Gruppe von Persönlichkeitsbeschreibungen, die auf der Basis »blinder« graphologischer Analysen gewonnen wurden, der Gruppe der beschriebenen Subjekte gegenübergestellt wird und in denen die »Richter« – die aufs beste mit der Persönlichkeit eines jeden von ihnen bekannt sein müssen – die Identität des Subjekts jeder dieser Beschreibungen zu bestimmen haben. Solche angepaßten Versuche können und sollten genau kontrolliert werden. Sie können und sollten der schärfsten statistischen Analyse unterworfen werden. Ja, um auch die Frage der Zuverlässigkeit der Methode als solcher – d. h. unabhängig vom individuellen graphologisch Arbeitenden – zu beantworten, müßten solche Versuche eine größere Zahl genauestens in der graphologischen Methode unterwiesener Psychologen einbeziehen. Gegenwärtig scheint in diesem Land keine solche Gruppe zu existieren. Daß der Tag nicht fern sein mag, an dem sie nicht nur existiert, sondern ihre Fähigkeiten sich letzten Endes – in der Erziehung, in der Sozialarbeit, in der Berufsberatung und vor allem in der Psychiatrie und klinischen Psychologie – jenseits allen Zweifels bewährt haben, ist die Hoffnung und vertrauensvolle Erwartung des Verfassers.
II. Die graphologische Methode
Grundbegriffe
Der motorische Aspekt des Ganzen:
Kontraktion und Entspannung
Die Schreibbewegung ist kontinuierlich nur in der Abhängigkeit jeder ihrer Bestandteile von einem übergeordneten Zweck; sowohl in der Bewegungsrichtung als auch in der Geschwindigkeit, in der sie abläuft, ist sie diskontinuierlich. Hinsichtlich der ersteren leuchtet das ein aufgrund der Notwendigkeit, die richtungsmäßig komplexen Buchstabenformen zu erzeugen; hinsichtlich letzterer aufgrund der Notwendigkeit, die Wörter voneinander zu trennen. Beide Notwendigkeiten beeinflussen die kontinuierliche Entbindung motorischer Energie nicht nur über ihre eigenen direkten Erfordernisse an Diskontinuität, sondern auch über die Unfähigkeit des Organismus, diese Erfordernisse in genau dem von ihnen implizierten Maße zu erfüllen: Die richtungsmäßige Komplexität von Buchstaben macht es nicht nur schwieriger als bei einer einfachen horizontalen Bewegung, eine übergeordnete Richtungskontinuität aufrechtzuerhalten, sondern betrifft ebenso zentrifugale wie zentripetale Bewegungsanteile, die bei der Ausführung dazu tendieren, ihre von den schulischen Ausgangsschriften beabsichtigte richtungsmäßige Komplexität noch zu übertreffen; die dynamische Komplexität der Worttrennung umfaßt nicht nur die Notwendigkeit, zu unterbrechen und neu anzufangen, sondern auch die, zu verlangsamen und wieder zu beschleunigen; im Endeffekt erhöht die richtungsmäßige Diskontinuität tendenziell die dynamische, und zwar aus genau dem gleichen Grund, nämlich der Involvierung von zentrifugalen und zentripetalen Anteilen und der Notwendigkeit, sie zu kontrollieren. Als diskontinuierliche ist die Schreibtätigkeit durch den Wechsel von Kontraktion und Entspannung der beteiligten Fingermuskeln differenziert, ein Wechsel, den die unterschiedlichen Erfordernisse von Richtung und Geschwindigkeit notwendig machen.
Die erste und allgemeinste Aufgliederung aller Bestandteile der graphischen Bewegung unterteilt sie somit in Bewegungen der Kontraktion und solche der Entspannung, und mit Ausnahme einzig der Ebene der Formqualität gibt es kein graphisches Merkmal innerhalb irgendeiner Bewertungsdimension, das nicht einer der beiden Gruppen zugeordnet werden kann. Da die Gesamtbewegungsrichtung in allen abendländischen Handschriftensystemen eine horizontale ist, kann man von dem dafür geltenden Differenzierungsprinzip erwarten, daß es in vertikaler Richtung wirkt und sich am eindeutigsten in jenen Bewegungen manifestiert, die das strukturale Skelett jeder Handschrift ausmachen, den Auf- und Abstrichen: In der normalen, nicht von emotionalen Blockaden beeinträchtigten Handschrift repräsentieren die ersteren die grundlegendsten Entspannungs-, die letzteren die Kontraktionsbewegungen. Psychologisch hängt die Betonung der Kontraktion mit einer des Ich samt ihrer möglichen Implikationen einer relativen Steigerung der willentlichen, emotionalen und begrifflichen Kontrolle zusammen; die Betonung der Entspannung mit einer des Objekts samt möglicherweise implizierten relativen Steigerungen der Spontaneität, der Impulsivität und des Phantasie-Lebens. Eine unterschiedliche Bestimmtheit von Betonungsarten, wie sie durch gesteigerte Kontraktion oder Entspannung angezeigt wird, hängt in erster Linie von der Bewertungsdimension ab, innerhalb derer man auf diese Steigerungen stößt; eine Klassifizierung dimensionaler Bewertungen nach ihrer Position entweder auf seiten der Kontraktion oder auf der der Entspannung, wie es eine Diskussion der Bewertungsdimensionen selbst nahelegt, wird später in diesem Buch folgen.
Der symbolische Aspekt des Ganzen:
Die quasi-räumliche Erfahrung des Schreibfelds
Aus dem Blickwinkel der Realität betrachtet findet Handschrift auf einer zweidimensionalen Ebene statt und stößt nur in unbedeutendem Umfang in die dritte Dimension vor, und zwar so, daß dieser Vorstoß nicht wesentlich an ihrer visuellen Erscheinung teilhat. Aus dem der unmittelbaren Erfahrung sowohl des Schreibers als auch des Lesers hingegen ist die Handschrift ein räumliches Phänomen. Das ist nicht in einem irgendwie übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinne gemeint. Das Schreibfeld wird so erfahren, als verwandele es sich in die Projektion eines Raumes auf eine zweidimensionale Fläche, ganz so wie die räumlichen Projektionen in Gemälden und Zeichnungen: Wir sprechen von einer schrägen oder senkrechten Handschrift, von fallenden Zeilen, geräumigen Schleifen, vom »Raum«, der für Randbemerkungen gelassen wird, von Auf- und Abstrichen, auch wenn diese Striche angesichts der gewöhnlichen Lage des Schreibpapiers in der Realität gar nicht auf- und abwärts, sondern vom Körper weg und zu ihm hin ausgeführt werden; schließlich neigen die Strichqualitäten selbst im besonderen dazu, eine Illusion der Tiefe zu schaffen, und der Wort»körper« als Ganzes wird erfahren als von seinem weißen »Hinter«grund unterschieden und plastisch abgesetzt: Für unsere unmittelbare Erfahrung ist die Handschrift vom Papier abgehoben, sie wird als im Raum stehend gesehen; sie »schafft Platz«, den, der sie umgibt, und so spiegelt sich ihre quasi-räumliche Natur in den spontanen Bezeichnungen wider, mit denen ihre Bewegungen gewöhnlich belegt werden.
Dieser Umstand bedeutet, daß in die graphische Bewegung ein Bereich innerer Erfahrung projiziert wird, innerhalb dessen der Projizierende sich in unbewußter symbolischer Analogie zu seiner Orientierung im Raum orientiert, wobei diese Orientierung umgekehrt denselben Richtungen raumanaloger Symbole folgt, wie es mehr oder weniger alles begriffliche Denken tut. Allein, wenn wir die gebräuchlichen sprachlichen Begriffe aufführen sollten, die – kraft einer unmittelbaren inneren Erfahrung, die sich in allen Individuen, die diese Ausdrücke verwenden, und ohne irgendeine bewußte figurative Absicht ihrerseits wiederholt – die Analogie vertikaler Richtungen benutzen, so würde ihre Zahl in gleich welcher Sprache endlos erscheinen, und Beispiele wie »in seiner Wertschätzung steigen« oder »niedergeschlagen sein«, »überlagern« oder »unterschwellig« mögen an diesem Punkt genügen, denn es wird jedem Leser leichter fallen, die Reihe fortzusetzen, als sie zu beenden. In symbolischem Sinne müssen wir nun, wenn wir uns die Handschrift als durch ein Koordinatensystem mit der Schreiblinie als Abszisse unterteilt vorstellen, alle unterhalb dieser Linie fallenden Bewegungen für auf solche Erfahrungen bezogen halten, wie sie im System innerer Orientierung des Schreibers der allgemeine Begriff von »unten«, alle oberhalb dieser Linie fallenden Bewegungen auf solche, wie sie der von »oben« impliziert. Die zuletzt genannte Regel bedarf allerdings der Erläuterung: Da der Großteil der zusammenhängenden horizontalen Bewegung, der seinerseits aus den kurzen Buchstaben und denjenigen Teilen der langen besteht, die der vertikalen Ausdehnung der kurzen entspricht, nicht gleichmäßig auf beide Seiten der Schreiblinie, sondern nur auf deren obere fällt, soll »oben« alle über die Oberkante dieser kurzen Formen hinausragenden Bewegungen bezeichnen. Die letzteren Formen bilden die sogenannte »Mittelzone« der Handschrift; die über oder unter ihr liegenden Bewegungen jeweils die »Ober-« bzw. »Unterzone«. In dem, soweit bekannt, ausnahmslos allen menschlichen Kulturen zugrunde liegenden symbolischen Denken verweisen die Erfahrungen, die auf den statischen Begriff »oben« oder den dynamischen »aufwärts« bezogen sind, durchweg auf diejenigen von Gott, Himmel, Tag, auf das Licht, den Geist, Schwerelosigkeit, Freiheit von physischen Bindungen, die Welt der Ideen, der Formen, der individuellen Vervollkommnung, des Bewußtseins; Erfahrungen hingegen, die auf den statischen Begriff »unten« oder den dynamischen »abwärts« bezogen sind, auf diejenigen von Tier, Erde, Dunkel, Dämonischem, Nacht, Materie, Schwere, Fleisch, von der Welt kollektiver und vegetativer Lebenskräfte, des Triebhaften, des Formlosen und der Träume; in paternalistischen Kulturen werden überdies die Vorstellungen von »Vater« und »Mann« als auf die erstere dieser Gruppen, diejenigen von »Mutter« und »Frau« als auf die zweite bezogen erfahren. Die relative Betonung einer der beiden Randzonen der Handschrift ist dementsprechend ein Beleg für die relative Betonung der entsprechenden Erfahrungssphäre in der inneren Orientierung und Haltung; wohingegen die relative Betonung der Mittelzone, da sie eine der tatsächlichen und kontinuierlichen graphischen Vorwärtsbewegung darstellt, eine relative Betonung von Aktivität an sich im Unterschied zu jedweden in erster Linie »erfahrenden« Haltungen belegt. Eine Ausarbeitung dieser Feststellungen erfordert einmal mehr sowohl hinsichtlich der möglichen Arten der Bewegungsverteilung als auch ihrer psychologischen Deutung eine Erörterung der entsprechenden Bewertungsdimensionen.
Während die vertikale Dimension der Handschrift von daher auf die Selbst-Orientierung der Person auf vorhandene Werte verweist, bezieht die horizontale Dimension sich auf ihre Realitätsorientierung, die die Wahl von Zielvorstellungen und eines auf sie gerichteten Verhaltens, kurz, den Prozeß der Externalisierung umfaßt. In den westlichen Kulturen ist das Schreiben als Gesamttätigkeit nach rechts gerichtet, und diese Modalität scheint mit der Betonung von absichtsvoller und zielgerichteter Tätigkeit, kurz, von Zukunft zusammenzustimmen – ein Umstand, der im Unterschied zu den orientalischen Kulturen, die richtungsmäßig davon abweichende Schreibsysteme verwenden, charakteristisch für das Abendland ist. Die Verwendung der rechten Hand vorausgesetzt – die für Linkshänder anzulegenden speziellen Kriterien werden gesondert diskutiert –, macht jede Bewegung des Arm-Hand-Systems, die in einer natürlichen und unangespannten Art und Weise vom Körper weg schwingt, das Nachfolgen einer Rechtsausrichtung notwendig, die graphologisch mithin als die Bewegung des Kontakts und der Externalisierung an sich bestimmt wird, während die Betonung der linksgerichteten Bewegung als signifikant für Kontaktvermeidung und Konzentration, gleich welcher Art, auf das Selbst verstanden wird. Darüber hinaus wird, da das tatsächliche zeitliche Fortschreiten der Schreibtätigkeit ihrem räumlichen Voranschreiten nach rechts folgt, die rechte Seite als ein symbolisches Korrelat der Vorstellung von »Zukunft« in der inneren Erfahrung des Schreibers selbst verstanden; und Betonung der Vergangenheit, wiederum gleich welcher Art und Absicht, würde dementsprechend durch eine Betonung von im Sinne der Verteilung der Schreibbewegung linksgerichteten Anteilen angezeigt. Weitere unterscheidende Untersuchungen der Verteilung graphischer Bewegung aber, in ihrer horizontalen mehr noch als in ihrer vertikalen Dimension, setzen einmal mehr eine Erforschung der Handschrift in einer beträchtlichen Zahl spezifischerer Bereiche voraus (Abb. 1).
Abb. 1 Das Schreibfeld und seine Richtungen
Der interpretative Aspekt des Ganzen:
Ambivalenz und Interdependenz der Indikatoren
Im vorigen wurde bereits auf die vorläufige Natur einzelner Indikatoren innerhalb jedweder Dimension des Schreibens hingewiesen. Ihre Funktion könnte definiert werden als Setzung der Grenzen, jenseits derer ihr positiver und spezifischer Wert erwartbarer Weise nicht fällt. Ihre tatsächliche Bestimmung hängt allerdings von der gesamten Konfiguration ab. Im graphoanalytischen Verfahren wird diese Abhängigkeit in zweifacher Hinsicht entscheidend.
Da das, was eine einzelne graphische Eigenschaft, wie etwa »Enge«, an psychologischer Bedeutung vermittelt, gleichzeitig auf eine große Anzahl spezifischer Linien des Funktionierens der Persönlichkeit anwendbar ist, von denen nur wenige und sehr allgemeine als unveränderlich, alle anderen hingegen als nur potentiell gültig anzusehen sind, können positive Schlüsse auf potentielle Anwendungen nur aus einer Kombination des psychologischen Tenors von »Enge« mit anderen möglicherweise auf dieselbe Linie des Funktionierens der Persönlichkeit anzuwendenden Indikatoren gezogen werden. Indikatoren sind, kurz gesagt, interdependent. Sie sind ambivalent, insofern umgekehrt jeder von ihnen die gesamte Spannweite von extrem positiven bis zu extrem negativen Bedeutungsschattierungen möglicher moralischer, sozialer und kultureller Werte umfaßt, die irgendwelchen allgemeinen Begriffen wie »Eigensinnigkeit« oder »Anpassungsfähigkeit«, »Impulsivität« oder »Selbstkontrolle« anhängen. Das allgemeine Persönlichkeitsmerkmal eines »hohen Selbstwertgefühls« zum Beispiel wäre nach dem Prinzip der Interdependenz in seinen möglichen Versionen sei es einer »verspielten Eitelkeit«, sei es einer »starren Eingebildetheit« zu unterscheiden; nach dem der Ambivalenz hinsichtlich des Grades, in dem es entweder »leer« oder aber durch tatsächliche Persönlichkeitswerte gestützt ist. Die Festlegung der genauen Bedeutung im Sinne des Persönlichkeitswerts, wie ihn entweder einzelne oder miteinander kombinierte graphologische Indikatoren vermitteln, hängt in erster Linie vom Sinn des Schreibers für Werte, die die Handschrift selbst mit sich bringt, d. h. von ihrer Ebene der Formqualität, ab.
Die Schriftprobe als Ganzes
Die Ebene der Formqualität
Die ästhetische Qualität einer gegebenen Handschriftenprobe gibt den Bezugsrahmen für die eigentliche Interpretation aller Befunde in den einzelnen Dimensionen ab und ist deshalb eines der leitenden Kriterien der graphologischen Arbeit. Der Begriff hat wenig mit den kalligraphischen Vorstellungen von Schriftkunst zu tun, wie sie die Handschriftenlehrer entsprechend den national variierenden schulischen Musterschriften vertreten: Außer bei Personen mit mangelhafter Schulbildung oder mangelhafter intellektueller Entwicklung und wenig Gelegenheit zu schriftlicher Kommunikation, für die die Aneignung der Schulschrift ein lebenslanger Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu bleiben scheint, wird diese in ihrer exakten Form individuell spätestens mit der Pubertät aufgegeben, und das Ausmaß, der schließliche Umfang und die spezifische Richtung dieses Aufgebens laufen genau parallel zu den entsprechenden Linien der Persönlichkeitsentwicklung selbst.
Die Gründe für dieses Aufgeben, besonders für das sehr große Ausmaß, in dem es in den Handschriften führender Gestalten des neunzehnten Jahrhunderts und unserer Zeit zu beobachten ist, mag teilweise in den modernen Schulschriften selbst zu suchen sein, die im Vergleich mit denen aus der Zeit vor etwa 1830 unter ästhetischem Gesichtspunkt relativ unbefriedigend erscheinen. Das wird auch durch die im Vergleich weit größere durchschnittliche Nähe zu den Schulschriften ihrer Zeit unterstützt, die sich in den Briefen vieler herausragender Personen der Jahrhunderte vor dem genannten ungefähren Datum zeigt, eine Tatsache, die signifikant mit dem allgemeinen Niedergang des »Stils« in anderen Kulturbereichen koinzidiert. Der Unterschied in dieser Hinsicht zwischen jenen Zeiten und unserer eigenen ist ziemlich markant und zu allgemein, um Zufall zu sein; er könnte die größere Sicherheit widerspiegeln, die die stabileren Werte vergangener Zeiten dem Individuum bieten konnten, indem sie ihm eine größere persönliche Identifizierung mit der Kultur ermöglichten.
Das Kriterium der Formqualität steht mit dem Maß an genuinem geistigen Streben und Anspruch an sich selbst in Zusammenhang, das in der Persönlichkeitsentwicklung erreicht wurde; es bezeichnet den Grad an Ausgeprägtheit, in dem ein Wertesystem in das innere Leben einer Person integriert worden ist. Im Sinne graphischer Qualitäten kann sie als der relative Grad an Originalität der Form in Kombination mit dem an ästhetischem Ebenmaß definiert werden. Auch wenn ohne weiteres zuzugeben ist, daß, technisch gesprochen, Bewertungen in diesem Gebiet mit Notwendigkeit subjektiv sind, ist doch Vorsicht im Hinblick auf Schlußfolgerungen aus dieser Tatsache angesagt. Wenn die Gesetze der Ästhetik auch aufgrund der Natur der ästhetischen Situation selbst nur im Bereich persönlicher Erfahrung greifbar werden, gelten sie dennoch nicht für diesen Bereich, sondern für den der ästhetischen Objekte; sonst wäre keine Verständigung über ästhetische Erfahrungen und keine interpersonelle Übereinstimmung zwischen ihnen denkbar. Die Korrelationen unter persönlichen Entscheidungen für das ästhetisch mehr oder weniger Ebenmäßige aus einer Anzahl gegebener Objekte sind bekanntlich hoch, und dasselbe gilt, wie viele Versuche gezeigt haben, für die Urteile von Laien über die Niveaus der Formqualität in der Handschrift, sowohl untereinander verglichen als auch mit den Urteilen von Graphologen. Dies gilt natürlich hauptsächlich für die Bewertungen der gröberen Qualitätsunterschiede, und es scheint etwas mehr für Urteile über die ästhetische Integration als für solche über die Originalität zu gelten. Betrachtet man das letztere Unterkriterium, so scheint abermals viel von der Übung im Sehen und von einer Schärfung des allgemeinen Sinns für Qualitäten abzuhängen; die Funktion des kritischen Urteilsvermögens, die hier angesprochen ist, verlangt allerdings keine sehr außergewöhnlichen Fähigkeiten; im Kern ist es dasselbe, das zum Beispiel einen Beobachter befähigen würde, ohne allzu großes Zögern eine gotische Kirche von 1280 oder eine barocke von 1680 von ihren Imitationen von 1880 zu unterscheiden.
Ein verbleibender Rest an »Subjektivität« beim Bestimmen von Formniveaus könnte durch noch feinere Abstufungen bei der Aufstellung der Punkteskalen durch unterschiedliche Bewerter ausgeschlossen werden. Die Abstufungen spiegeln indes nicht die Willkür der persönlichen Wahl wider, sondern die Natur des hier erforschten Gegenstands selbst. Vor verschiedenen Wertetabellen fügt sich das Phänomen der Persönlichkeit seinerseits einer Vielfalt möglicher Bewertungen. Jenseits eines bestimmten Grenzwerts an übergreifender Konsistenz können diese Wertungen mehr oder weniger divergieren. Persönlichkeit unterscheidet sich somit von den Gegenständen der medizinischen Wissenschaft durch die Tatsache, daß jenseits dieses Grenzpunkts die Perspektive des Erkennens nicht bloß ein Mittel der Wahrnehmung objektiver Eigenschaften, sondern ein Bezugsrahmen wird, von dem losgelöst diese Eigenschaften keinerlei Bedeutung haben. Der Unterschied zwischen den Begabungen und Veranlagungen von A und B kann »objektiv« festgestellt werden; jegliche Feststellung aber, welcher der beiden der »bessere« Mann ist, wird notwendig »subjektiv« sein. Das besagt nicht, daß sie irgendwie willkürlich oder unter epistemologischem Gesichtspunkt bedeutungslos sein muß; es meint schlicht, daß die Kriterien »gut«, »besser« usw. selbst menschliche Werte implizieren; jede Anwendung dieser Kriterien ist deshalb »objektiv« oder »nicht-objektiv« nur im Hinblick auf ein bestimmtes Wertesystem, dessen Vorannahme der Feststellung zugrundeliegt. Nach der Erfahrung des Verfassers läßt sich die Situation leicht mit Hilfe genauer differenzierender Versuche mit verschieden abgestuften Punkteskalen zu graphischen Formniveaus, die von verschiedenen Gutachtern durchgeführt werden, demonstrieren. Wenn nach der – »blinden« – Skalierung der Handschriften der Probanden I bis X derselbe Gutachter die Gelegenheit zur persönlichen Begegnung und zum Gespräch mit ihnen selbst erhält und dann aufgefordert wird, sie auf der Grundlage dieses »direkten« Zugangs zu den jeweiligen Personen zu skalieren, wird seine Einordnung auf der Punkteskala in fast allen Fällen mit seiner vorausgehenden – graphologischen – nahezu übereinstimmen. Welche Abweichungen es dabei auch geben mag, sie werden im ganzen weit geringer sein als diejenigen zwischen seiner vorausgehenden graphologischen Einstufung der zehn Schriftproben und denjenigen derselben Proben durch andere Gutachter. Diese Konstellation weist deutlich auf die »Objektivität« des Formniveau-Kriteriums in dem einzigen Sinne hin, in dem in dieser Hinsicht der Begriff »Objektivität« überhaupt sinnvoll sein kann, nämlich insofern das gegebene Wertesystem der Gutachter als der unvermeidliche –»objektiv« nicht austauschbare – Bezugsrahmen dient. Daraus folgt, daß man von einem bewußteren und ausdrücklicheren Innesein ihrer unterschiedlichen Wertestandards auf seiten der unterschiedlich ausgebildeten Forscher – soweit es zu erreichen wäre – erwarten könnte, daß es die Felder interpretativer Nichtübereinstimmung zwischen ihnen auf einen minimalen und klinisch unbedeutenden Punkt reduziert (Abb. 2 – 15).
Abb. 2 – 15 Niveaus der Formqualität
Abb. 2 (31 %*) Außergewöhnliches Formniveau
Abb. 3 (7 %) Höheres Formniveau
Abb. 4 (7 %) Höheres Formniveau
Abb. 5 (3 %) Gutes Formniveau
Abb. 6 (7 %) Gutes Formniveau
Abb. 7 (17 %) Ansehnliches Formniveau
Abb. 8 (17 %) Ansehnliches Formniveau
Abb. 9 (7 %) Mittelmäßiges Formniveau
Abb. 10 (7 %) Mittelmäßiges Formniveau
Abb. 11 (26 %) Im wesentlichen niedriges Formniveau
Abb. 12 (26 %) Im wesentlichen niedriges Formniveau
Abb. 13 (7 %) Eindeutig niedriges Formniveau
Abb. 14 (7 %) Eindeutig niedriges Formniveau
Abb. 15 (7 %) Sehr niedriges Formniveau
Rhythmus und Regelmaß, Integration und Fluktuation
Wie alle Lebensprozesse folgen die wechselnden Phasen von Kontraktion und Entspannung nicht mit mechanischer Präzision aufeinander, sondern in einer komplexer geordneten Abfolge, die aus der gleichzeitigen Wirksamkeit der zwei einander entgegengesetzten Prinzipien von Wiederholung und Wechsel resultiert: Ähnliche, nicht identische Intervalle folgen aufeinander; ihre Variationen zeigen wiederum eine mehr oder weniger starke Tendenz, sich in gleichen Intervallen zu wiederholen; diese Wiederholung unterliegt einer Gegentendenz, die sie in Einheiten mehr oder weniger schwankender Länge auftreten läßt, und so weiter. Diese Eigenart der Kontraktions-Entspannungs-Zyklen verbindet sie mit allen Phänomenen, die sich in der Dimension der Zeit mittels eher einer ihnen eigenen strukturellen Ordnung als eines ihnen bloß auferlegten abstrakten und starren Prinzips der Zeiteinteilung ausprägen. Indem sie die divergierenden Prinzipien von Periodizität und Fluktuation wieder miteinander in Einklang bringt, ist diese strukturelle Ausprägung im wesentlichen identisch mit dem, was in der Musik »Rhythmus«, in Abgrenzung zu ihrer »Zeit« oder ihrem »Taktmaß«, genannt wird: Das »Taktmaß«, an sich nur ein abstraktes und statisches Prinzip, das identische Unterteilungen der zeitlichen Bahn markiert, in der ein Musikstück vorangeht, korrespondiert nichtsdestoweniger mit einem der beiden Prinzipien des Rhythmus, dem der Wiederholung; doch es ist nicht identisch mit dem Rhythmus der Musik an sich, der mit wechselnden Mitteln, wie etwa der Synkopierung, ihrem zweiten Prinzip, dem des Wechsels, folgt, um der Gleichförmigkeit als dem Element des ersten Prinzips gegenzusteuern. Indem so das Taktmaß das sich Wiederholende identischer Unterteilungen zur Variation innerhalb jedes wiederholten Zeitmaßes benutzt, ist es integriert in den und zugleich der belebende Effekt des hervorgebrachten »Rhythmus’«.
Wenn wir diesen Gedanken auf die entsprechenden Elemente der Schreibtätigkeit anwenden, begegnen wir dem starren Wiederholungsprinzip auf seiten der Kontraktions-, dem des Wechsels auf seiten der Entspannungsbewegungen. Visuell wird das schon durch die einfachste Form ihrer Abfolge schlagend nahegelegt, eine Reihe von Auf- und Abstrichen wie in kleinen ns und ms, wo die druckbetonten Abstriche die synästhetische Wirkung eines »Taktschlags« haben. Der Schreibprozeß ist um sie zentriert: Wenn wir alle Abstriche auslöschen, wird der Rest kaum mehr das Aussehen einer Handschrift aufweisen; löschen wir stattdessen alle Aufstriche, wird sich nicht nur der allgemeine »graphische« Charakter des Rests, sondern sogar seine Lesbarkeit im wesentlichen bewahrt finden (Abb. 16). Da sich die Kontraktionen so als die eigentlichen unmittelbaren Ansatzpunkte der Schreibbewegung in jedem ihrer Abschnitte erweisen, scheinen sie offenbar ein Prinzip der bewußten willentlichen Kontrolle darzustellen, von dem man sagen kann, daß es den Weg für die Schreibtätigkeit als Gesamtprozeß bahnt, und auf das sich die Entspannungsimpulse, um sich in die zusammenhängende Bewegung einzuordnen, »einzustellen« haben. Diese Konstellation zieht zwei Schlußfolgerungen nach sich. Erstens kann man annehmen, daß die Kontraktionsbewegungen die bewußt ausgeübten Funktionen der willentlichen Kontrolle, die Entspannungsbewegungen hingegen die Anpassungsfähigkeit des Lebensprozesses als ganzem hinsichtlich dieser Kontrolle zeigen; an den Entspannungsbewegungen erweist sich so die emotionale Reaktionsfähigkeit der Persönlichkeitsstruktur als durch seine unbewußten Schichten bestimmt. Je größer, zweitens, die Konstanz der der Bewegung auferlegten Kontrolle sowohl in ihren eigentlichen kontraktiven Anteilen als auch in ihren Intervallen ist, desto »regulierter« erscheint die Handschrift und als desto »kontrollierter« kann man den Schreiber erwarten; je geringer diese Konstanz und je freier fließend folglich die Handschrift ist, eine desto größere Spontaneität kann man entsprechend auf seiten des Schreibers gewärtigen.
Abb. 16 Beziehungen der Abstriche zur Grundstruktur
Klages’ Dichotomie von »regulierten« und »rhythmischen« Handschriften, die disharmonischen und harmonischen Persönlichkeiten entsprächen, vereinfacht diese Situation zu stark, und genau gegen diesen Bereich seines Systems fühlt sich der Verfasser genötigt, Einwände zu erheben, da die Differenz der Konzepte weder eine bloß technische noch eine terminologische, sondern eine höchst grundlegende ist. Die ganze »vitalistische« Denkschule, in Frankreich von Bergson, in Deutschland von Klages angeführt, interpretierte Bewußtsein an sich als eine störende Kraft im freien Spiel der Impulse, als eine gegen das Leben und den Lebensrhythmus selbst gerichtete Kraft. Entsprechend dieser Grundansicht verfiel Klages darauf, Ausdrucksbewegungen, die einen hohen Grad an bewußter Kontrolle aufweisen – wie z. B. »regulierte Handschriften« –, ohne Rücksicht auf die Art der aufgewiesenen bewußten Kontrolle als symptomatisch für mangelnde Integration anzusehen. Wie nunmehr offensichtlich, verallgemeinert Klages’ Bewußtseinsbegriff Beobachtungen, die nur für den spezifischen Typ oder Fall bewußter Kontrolle, wie er gewöhnlich mit dem Ausdruck »Selbstbewußtsein« angesprochen wird, gelten; die behindernden Wirkungen, die selbstreflexive und introspektiv-beobachtende Haltungen auf emotionale und motorische Impulse ausüben, sind allgemein anerkannt und wurden hinsichtlich ihres spezifischen Einflusses auf Ausdrucksbewegungen in einem früheren Kapitel diskutiert. »Bewußtsein« aber meint über diese Umkehrung seiner normalen Richtung hinaus in erster Linie das Gewahrsein eines und die Konzentration auf ein äußeres Erkenntnisobjekt oder einen Gegenstand des Willens; bei normalen Abläufen ist es einfach ein notwendiges Attribut der Ausgerichtetheit des menschlichen Organismus auf seine Ziele, und als solches qualifiziert und bedingt es einen spontanen Affektfluß eher als ihn zu behindern. »Bewußter Kontrolle« einen desintegrierenden Effekt zuzuschreiben sollte folglich auf solche Ausdrucksbewegungen beschränkt werden, die eine Affekt-unterdrückende Entfaltung solcher Kontrolle erkennen lassen; oder die, allgemeiner gesagt, einen Konflikt anzeigen, der einem Unvermögen der emotionalen Impulse geschuldet ist, bewußten Willen in seinen gewählten Richtungen auszuhalten. In der Schreibbewegung manifestiert sich eine Situation dieser Art nicht notwendig durch »Regelmäßigkeit«, die von sich aus nur die Konsistenz zeigt, mit der bewußte willentliche Kräfte sich entfalten; vielmehr äußert sie sich durch Schwierigkeiten der Koordination – in Form entweder übermäßig unvermittelter oder übermäßig verwickelter Striche –, die aus einer mehr oder weniger ausgeprägten Unfähigkeit des Organismus herrühren, sich diesen Kräften anzupassen. Solche Schwierigkeiten bringen es mit sich, daß der Organismus sein eigenes Element des bewußten Willens eher wie einen »Fremdkörper«, der Anforderungen an ihn stellt, statt, wie normalerweise, seine Beziehung zu diesem Element als eine der Identität erfährt.