Kitabı oku: «Ungehorsam versus Institutionalismus. Schriften 5», sayfa 11
Der Generalnenner ist also die traditionelle Trägheit der Seelen. Traditionell ist diese, da sie ja nichts Neues ist; schon in Siegfried, als er Brünnhilde vergaß9, war sie schnöde und empörend am Werk, mitsamt den bekannten mythologischen Entschuldigungen für sie, die, immer noch zu undurchschaut, ihre eigene Machenschaft sind und an denen ebenfalls sich seit damals nichts geändert hat als das Vokabular. Der Generalnenner des Mehrheitsverhaltens in Deutschland heißt Trägheit der Seelen, aber was heißt das denn selbst, offenbar doch, daß es den Seelen an Richtung, an einer eigenen Ordnung fehlt: hätten sie eine, so wären sie ja nicht so unentwegt bereit, jeden Anschein von Ordnung, von Regeln, Verhaltensmaximen, Kollektivzwängen, Stufenleitern vermeintlicher Gültigkeiten und Werte zu übernehmen, die die je gegebenen Verhältnisse, in die sie geraten, ihnen auf eine suggestive Art zumuten. Das Suggestive daran ist, daß die Menschen sich mit den an sie ergehenden Zumutungen innerlich je identifizieren, die Zumutbarkeiten, die in Deutschland eigentlich die Herrscher sind, also im Gewande der Subjektivität, ja der Innerlichkeit auftreten und so vor der Entdeckung bewahrt bleiben, daß sie gerade mit dem Personhaften in der Person nichts zu tun haben, vielmehr in jedem Einzelnen die gleichen sind wie in jedem anderen Einzelnen. Das ist ein anderer Fall als der der other-directed person aus der Riesmanschen Soziologie, der Soziologie Amerikas10. Auch dort bestimmt zwar der Mensch längst nicht mehr sich selbst, sondern er tut, was seine fellow human beings auch alle tun. Aber erstens macht er sich darüber nichts vor, sondern er lebt wirklich und eingestandenermaßen im Hinblick auf diese anderen, seine Mitmenschen. Zweitens prägt eben dieses sich mitmenschlich normierende Verhalten dort erst die Gesamtstruktur der öffentlichen Verhältnisse. In Deutschland sind es umgekehrt die Verhältnisse, die das Verhalten des durchschnittlichen Einzelnen bestimmen, welcher ihnen gegenüber, ob auch der gleiche Fall millionenfach auftritt, seiner eigenen Bewußtseinserfahrung nach doch immer ein Einzelner bleibt, so als wären diese Verhältnisse die innere Ordnung der Weltschöpfung selbst und die Exponiertheit der Menschen ihnen gegenüber von der gleichen Art und Würde wie ein einsames metaphysisches Ausgeliefertsein an das kosmische Schweigen. Die Andern figurieren in der Struktur dieser Bewußtseinserfahrung gar nicht wirklich, nämlich nicht intersubjektiv, als die Andern, sondern bereits als ein Teil der Verhältnisse, die auf diese Weise dafür sorgen, daß sich an ihnen nichts ändert, das heißt daß die Menschen in Abhängigkeit von ihnen verharren; um aufzuhören, dies zu tun, müßten die Abhängigen, alle diese Monaden, ja sozusagen Seelenfenster gegeneinander öffnen, müßten direkt, als Mensch zum Menschen, miteinander kommunizieren, denn nur dann könnten sie sich Macht gewinnen über die Verhältnisse selbst. Solange dies nicht geschieht, also das abstrakt Zugemutete weit wichtiger in Deutschland bleibt als der konkrete Mitmensch, herrschen die Verhältnisse, die genannten Zumutbarkeiten, indem sie nach der Regel divide et impera verfahren: die da abhängen von ihnen, tun es zwar alle auf die gleiche Weise, der vorherrschenden Bewußtseinsordnung nach aber ist mit eben dieser Abhängigkeit jeder, auf den sie zutrifft, allein, und so kann in der Tat sich nie Wesentliches in Deutschland verbessern; es kann nur verbessert werden, durch von Zeit zu Zeit erfolgende Eingriffe von seiten des Auslands, wenn die Dinge in Deutschland sich wieder einmal so verschlechtert haben, daß sie die Welt selbst, alle zwanzig, dreißig Jahre, in Gefahr bringen.
Es ist also kein Einwand gegen die These von der Herrschaft der Seelenträgheit in Deutschland, daß die Bundesrepublik besser sei als der SS-Staat11. Daß der letztere durch die erstere seinerzeit ersetzt worden ist, ist ja kein einheimisches Verdienst, sondern nur die Eröffnung einer bis heute, fünfzehn Jahre nach Begründung des Staates, noch ganz ungenützten Chance für die Nation, die Vorherrschaft der Seelenträgheit im Land für alle Zeiten zu brechen. Die Fähigkeit der modernen deutschen Gesellschaft, sich überhaupt ein eigenes Haus zu bauen, was ja etwas anderes ist als irgendein Eigenheim in irgendeiner Vorstadt der atlantischen Welt, bleibt in vollem Umfange zu erweisen, denn der Boden der Freiheit, aus dem ein Staatswesen wächst, ist etwas anderes als ein noch so freiheitlicher Boden der Tatsachen, auf den man sich bloß wieder einmal gestellt hat, nachdem die geschichtsfähigeren Völker ihn Deutschland gegen seinen Willen erstritten. Daß die Machtverhältnisse, anstatt selber bestimmt zu sein vom Bewußtsein des Rechten und Wahren, an seiner Statt die Beziehung der Menschen untereinander bestimmen, ja daß hierin sich seit 1933 nicht das geringste geändert hat, wurde an der ›Spiegel‹-Affäre aufs drastischste offenbar, und wir brauchen, um das deutlich zu machen, weder die politische Gesamtheit des Falls nochmals hier zu beleuchten, noch Stellung zu nehmen zum juristischen Ausgang der Sache, sollte es einen solchen Ausgang noch geben, was ja unsicher ist12.
Keineswegs übersehe ich hier, daß sogar in Deutschland die Menschen damals, vor bald zwei Jahren, empört waren, sieht man sich aber an, was inzwischen aus dieser Empörung geworden ist: überhaupt nämlich nichts, abgesehen vom Sturze eines einzigen weidwunden Rehs, das als Parteiführer inzwischen fortfährt, eine Politik auf christlicher Grundlage zu machen, so darf man sich gegen den Vorwurf verwahren, man reite etwa auf der Sache herum. Unter den institutionellen Unzulänglichkeiten, die bei jener Gelegenheit sichtbar wurden und zu deren Beseitigung inzwischen nicht das mindeste geschah, ist nach einer Analyse von Ernst Müller-Meiningen jr. in der ›Süddeutschen Zeitung‹ vom 31. Mai 1963 die wichtigste die »fehlende gesetzliche Bestimmtheit und mangelnde richterliche Bestimmbarkeit des strafrechtlichen Geheimnisbegriffs«, die »Verletzung der Gewaltenteilung durch die de facto beherrschende Gutachterstellung der betroffenen Exekutive bei der Feststellung des Geheimnisbereichs«, bei welcher Gelegenheit Müller-Meiningen jr. ferner noch aufzählt die Aushöhlung der Pressefreiheit »durch ein solchermaßen unzumutbar hohes Risiko für den Journalisten« und die »Gleichstellung des verantwortungsbewußten Pressemanns mit dem schimpflichen Spion«. Da wir uns weder in einer asiatischen Despotie noch in einer Operettenrepublik Südamerikas, sondern mitten in Europa befinden, ist ein solcher Zustand an sich schon die Unbegreiflichkeit selbst, was aber soll man sagen, wenn Tendenzen sichtbar werden, die Revision des Paragraphen bis zu einer sogenannten Großen Strafrechtsreform zu vertagen und wenn solche Tendenzen die Unterstützung des Justizministers finden? Nicht, daß eine weit größere als die geplante Große Strafrechtsreform nicht ebenfalls sehr dringlich am Platz wäre, aber mit welchem Recht kann diese Dringlichkeit, nur weil man sich ebenfalls mit ihr Zeit läßt, als Begründung dafür herhalten, Geduld mit einer Unerträglichkeit zu üben, die sich als eben diese doch aufs krasseste soeben gezeigt hat? Vor dem Mangel an Sorgfalt, der einem sogenannten Blitzgesetz angeblich innewohnen muß, wird da gewarnt, aber, schreibt der Zitierte, »ist es nicht typisch, daß zwar seinerzeit, 1951« – das war die Zeit um die Korea-Krise – »gegen ein ›Blitzgesetz‹ zum Schutz der Staatssicherheit keine Bedenken bestanden, daß man aber hier unter dem warnenden Stichwort ›Kein Blitzgesetz!‹– den lieben Gott einen guten Mann sein lassen will«13? Gewiß ist es typisch, aber wofür eigentlich? Das ist leicht definiert, in dem einen Fall, 1951, wurde das so schnelle Gesetz von der Außenpolitik, den Allianzen, in einem Wort, der Verteidigung der bestehenden Verhältnisse der Gesellschaft und der Staatsmacht verlangt, in dem zweiten hingegen nur von der Wahrhaftigkeit und den Rechten des Menschen. Der Vorrang des abstrakten Staatsinteresses oder seiner Vermeintlichkeit vor dem evident konkreten Menschenrecht ist also das explizite Axiom, das aus dieser Aufschubsneigung, die ja wahrscheinlich obsiegen wird, ohne weiteres ablesbar ist, es gibt da aber noch ein implizites, ein ganz verschwiegenes Axiom, verschwiegen darum, weil es sowohl den Abgeordneten wie den Ministern, wenn auch einem unbefangenen Beobachter keineswegs, das Selbstverständlichste von der Welt ist. Diese fragwürdige Selbstverständlichkeit besteht in der stillen Prämisse, daß gute Gesetze nicht mit dem Kopf, sondern mit dessen anatomischem Gegenpol gemacht werden, also umso besser geraten, je länger und gründlicher man den letzteren einsetzt. Das Axiom entspricht freilich den deutschen parlamentarischen Realitäten, es bleibt aber wichtig, im Auge zu behalten, daß es eben damit allem widerspricht, was über das Zustandekommen der wirklichen, nämlich inspirierten intellektuellen Leistungen der Menschheit, zu denen auch Gesetze ja gehören können, geschichtlich bekannt ist. Welcher produktive Denker, Künstler oder Wissenschafter, den das Projekt eines Werkes gepackt hat, opferte nicht gar seine Nachtstunden im Dienste seiner Idee, seiner Aufgabe, und welcher Schachmeister, der es an Sorgfalt und Scharfsinn bei seinen Spielen ja nicht fehlen läßt, täte es ihm nicht gleich? Nur von deutschen Politikern, wie immer kläglich die Gesetzeszustände im Lande sein mögen, scheinen wir ein inspiriertes, ein spontanes Verhalten, kurz, eines, das menschlich wäre, in keinem Fall erwarten zu dürfen; schnell arbeiten sie dann, wenn von oben, was immer gerade oben sei oder scheine, ihre Zustimmung oder Mitarbeit erwartet wird, denn nicht um etwas so Unwichtiges wie den Menschen geht es ja dann, sondern um die Parteidisziplin, diese chronisch kaputte, unentwegt Rot! Rot! sagende Verkehrsregelung ihres inneren Elends.
In solchen Verhältnissen ist keine Wahrheit; sie können nicht dauern. Und da keine Wahrheit in ihnen ist, vertragen sie auch, was ihnen mangelt, so schlecht. Das Dauerhafte an der Bundesrepublik ist einerseits, in seiner furchtbaren Unerfülltheit, ihr Name, anderseits die Furcht, welche ihre Menschen immer erfüllt, vor dem Wort.
Die schöne Gesellschaft
und die unschöne Literatur
»Sie lieben das Wort nicht«, sagt Settembrini im ›Zauberberg‹ zu Hans Castorp, »oder besitzen es nicht oder heiligen es auf eine unfreundliche Weise, – die artikulierte Welt weiß nicht und erfährt nicht, woran sie mit Ihnen ist.«1 Inzwischen weiß sie es, hat sie es erfahren, der letzte Teil des Satzes stimmt nicht mehr. Mit all der Gründlichkeit, vielgerühmten heimischen Präzision, die das artikulierte Universum so haarscharf ins Herz treffen wollte, ihm dann so scharf in die Nase stach, ist die Ungewißheit ausgeräumt worden, das Fazit dieser Erfahrung aber ist einfacher als Settembrinis Autor in seinen ›Zauberberg‹-Jahren vermutete. Es lautet dahin, daß Unartikuliertheit selbst schon Unredlichkeit, selbst schon Unmenschlichkeit ist, sich nur als diese nämlich – nichts Weiteres, Tieferes, Höheres – geschichtlich herausstellt. So ist der Schluß des Urteils überholt; nicht sind es die Zustände, die sein Anfang zusammenfaßt und beleuchtet.
Im Gegenteil herrschen diese nun in noch nie übertroffenem Maß. Während die Unverbindlichkeit schon wieder einmal Bindungen predigt, die Erteiler verlegener, verlogener oder gar keiner Antworten mit ihren Verantwortungen hausieren gehen, zu denen sie Deutschland nie zieht, bleiben die Politik und ihre Rechenschaft, die Gesellschaft und ihre Literatur: bleibt das, was in Deutschland geschieht, und das, was in Deutschland gesagt wird, durch Verschweigungs- und Herumredekulissen aufs sorgfältigste voneinander getrennt, unverbunden bis zur Beziehungslosigkeit, in seinem gegenseitigen Verhältnis konsequenzlos, und dies Verhältnis wie von jeher also die Verantwortungslosigkeit selbst. Das bedeutet nicht, daß in den spezifischen Bedingungen, aus denen sich der Zustand erhält, eben um seiner Erhaltung willen keine anpassende Wandlung erfolgt wäre. Nicht nur der Schluß des Settembrini-Zitats stimmt nicht mehr, auch in der Kasuistik deutscher Sprachlosigkeit, die der Italiener entwirft, sind Überholungen fällig. Geheiligt etwa, ob auch auf unfreundliche Weise, wird das Wort doch in Deutschland eigentlich überhaupt jetzt nicht mehr; eher mag es noch in aller Freundlichkeit gestrichen werden – ob es nun als Memorandum über die unerträgliche, für die Feigheit also nicht tragbare Wahrheit, daß die letzten KZ-Insassen von Russen, also Bolschewisten, befreit wurden, in kommentarloser Stille am Schluß von Hochhuths Papstdrama steht2; oder als Lichtenberg-Zitat, die Bedeutung hohltönender Kollisionen zwischen einem Buch und einem Kopfe betreffend3, in eine Fernseh-Debatte über Dufhues und die Gruppe 474 platzt; oder auch einfach als fünftes Gebot in eine andere Fernseh-Debatte über die Pensionierung von Reichsrichtern.
Wahr bleibt, daß unsere Gesellschaft, dort, wo sie am typischsten ist, das Wort nicht besitzt oder nicht liebt, doch muß jetzt hinzugefügt werden, daß sie geliebte Wörter in überreicher Menge besitzt, die sie über ihre Sprachlosigkeit sowohl hinwegtäuschen, da die erbärmlichsten Schullesebücher des Abendlandes sie von Kindheit auf dazu konditioniert haben, als auch die Fortdauer des Zustands, diese Unverwüstlichkeit des Verwesten, gewährleisten; denn sie brauchen bloß laut zu werden, diese Wörter, um Einspruch oder Frage schon in der Seele einzuschüchtern, zu ächten. Wer im Volke fragt schon nach der Effektivität der Bonner Deutschland- und Ostpolitik, wenn die Regierung nur von Zeit zu Zeit kundtut, daß sie in unverbrüchlicher Treue zu den geknechteten Landsleuten im Osten steht, und wer nach den Früchten des Fleißes des staatserhaltenden Staatssekretärs Globke, solange der Fleiß nur ein selbstloser, ja ein beharrlicher, unermüdlicher war. Anders als Musikpartituren bedürfen diese Texte keiner Anweisungen über ihre Tonmodulation, der Nachrichtensprecher im Rundfunk weiß schon ganz von selbst, was eine unverbrüchliche Treue, ein unermüdlicher Fleiß von ihm fordern, wieviel Entrüstung in das Wort geknechtete Landsleute zu legen ist und wieviel Öl in Globkes Selbstlosigkeit. Die Vergeßlichkeit wird gefördert, wahrscheinlich absichtslos, sie fördert sich selber: die Hypnotik des Nur-Expressiven, diese Neigung zur Selbstflucht in traulichen, erbaulichen Ramsch, zur leeren Affektgebärde, die nichts ausdrückt als die Ohnmacht des Machtverlangens, eine kalibanhafte Sucht nach Gewaltigem, nach Schwindel und Rausch, Gleichschritt und Schunkelei, wird da ebenso ausgenützt wie ihr Gegengewicht in der Seele des Volkes, sein kritikloses Kleinbeigeben, betuliches Sowohl-als-auch, das mangels spontanen Qualitätsgefühls ohne anbefohlene Autoritätsleitern nicht auskommt und zwar Verheizungen sich zumuten läßt, sich aber nach wasserlosen Bartwäschen sehnt. Diese meist vom Elternhaus anerzogene, von den Schulen nie aberzogene Furcht vor der Unterscheidung, also aber der Entscheidung, welche die Wesensmitte der Zivilfeigheit ist, durch die in Deutschland sich die Mißgunst erhält, diese Kleinheit sogenannter Kulturinteressen, welche dem Hohen das Gehobene immer vorzieht, ist für den Geist der Literatur sowohl Hemmnis als auch Provokation. Denn die Literatur, hier noch nicht nach ihrem empirischen Befund in Deutschland, sondern nach ihrer Idee verstanden, ist weder Genußmittel noch Kulturarabeske, sondern die Unterwühlung der Autorität. Sie muß diese unterwühlen, um herauszubekommen, wie wahr, also standhaft, ihre Fundamente sind; sie ist der DM-Test der Macht, daher wird jede Macht, die den Test zu scheuen hat, sie verabscheuen, der sorglos Mächtige allein sie lesen, lieben und fördern. Sie ist nicht Rausch, sondern Rechenschaft; nicht Selbstvergessen, sondern Erinnerung, nicht Erbauung, sondern Kritik, nicht Beschönigung, sondern Urteil und Form, vor allem aber ist sie nie die vorhersehbare Bestätigung eines Affektes, sondern dessen Überraschung und Auflösung, wie es einem Gesetz, das immer sich selbst schreibt, entspricht.
Und unter dem letzteren Gesichtspunkt, um nun sofort auf die Empirie unserer Literatur zu kommen, auf ihre Chance, die Seelen im Land zu revolutionieren und die Gesellschaft zu ändern, wird es sehr schnell klar, warum der schon genannte Hochhuth unsere Öffentlichkeit ungleich mehr beunruhigt hat als kürzlich etwa Gisela Elsner5: ein Unterschied, bei dessen Abwägung ich die offenbare Differenz der Wirkungsmöglichkeiten zwischen einem Theaterstück von so unmittelbarem Herausforderungscharakter seiner zeitgeschichtlichen Thematik und These auf der einen, einer esoterisch fabulierenden Prosa auf der anderen Seite schon in Rechnung stelle, den Vergleich also gar nicht absolut, sondern relativ ziehe, und der Unterschied doch eindrucksvoll bleibt. Woran liegt er? Die Unterwühlung der Autorität verlangt deren Konfrontation, welche im ›Stellvertreter‹ eben dort die Spannung schafft, wo deren Ausbleiben in den ›Riesenzwergen‹ bemerkt wurde, mit ihrem eigenen Anspruch und Selbstanspruch, ihrer immanenten Idee, sie muß also ein Menschenbild, das nicht selbst schon geschrumpft ist, voraussetzen, um die Schrumpfung zu erweisen und wirken lassen zu können; neunzehnhundertvierundsechzig wie je. Sonst wird eine Erzählung zu ihrer eigenen Inhaltsangabe, bleibt die Darstellung des Grauenhaften zuletzt dessen Registration, glückt traditioneller Stilisierung gar noch die kältere, glaubwürdigere Verfremdung als einer zu Tode gerittenen Verfremdungsmethode, die die Gegenwelt nirgends durchscheinen läßt. Was die Riesenzwergliteratur schwächt, ist nicht die Genauigkeit ihrer Optik, schon gar nicht ihre Grausamkeit, nicht ihr kalter, unbestechlicher Haß, dieser sogenannte Negativismus nach der A. A.-erleuchteten Sprache der Goethe-Häuser, denn nur die Verneinung des Nichtigen ist in einer Zeit, über die dieses regiert, positiv. Nicht ihr Negativismus schwächt die ›Riesenzwerge‹, sondern gerade ihr Positivismus, das Wort jetzt in seinem genauen, erkenntnistheoretischen Sinn, als Reduzierung der Erkenntnis auf Perzeption, deskriptive Bestandsaufnahme, die den herauszufordernden Mitmenschen eben von vornherein gar nicht erreicht. Denn entweder erkennt er sich, das ist die eine Möglichkeit, darin niemals, oder es geht durch ihn hindurch, tut ihm so weh wie ihn ein Röntgenstrahl schmerzt, überhaupt also nicht: da eine reine Faktizität zwar durchleuchtbar, ihrer eigenen Definition nach aber moralisch nicht ansprechbar ist. Nicht, daß diese Tatsächlichkeit die Erlebnisse des kleinen Leinlein nicht läse, nicht in diesem Sinn ist sie unerreichbar durch ihn, im Gegenteil, sie baut ihn gleich ein, findet morgens beim Aufwachen ihn womöglich sofort auf der Bettdecke, bis der Kellner am Schluß ihm doch die Zahl noch, die nach zehn kommt, verrät. Unverraten bleibt, ebenso sehr dem Publikum wie dem Lothar, was die Stunde geschlagen hat und was man gerade bei Hochhuth erfuhr, daß die Bloßstellung falscher Machtansprüche, in ihren vor uns liegenden Abschnitten, nur noch geleistet werden kann, wenn die Aggression an ihre Adresse gelangt.
Entgegen dem ersten Anschein ist das nicht ausschließlich ein Verdienst der zeitgeschichtlichen Spezifizierung des Angriffspunktes. Mindestens so sehr ist es eines der Erreichung des Publikums selbst durch Evokation des Gewissens, denn eben Angriffsziel der literarischen Unterwühlung ist ja nicht nur die jeweilige falsche Autorität, der sie gilt, sondern immer zugleich schon deren um Seelenruhe besorgte Interessenvertretung, mit der die Autorität wie mit einer Satellitenbesatzung über die Gemüter der Bevölkerung wacht. Die Evokation des Gewissens wiederum, welches nie das Freudsche Über-Ich ist, sondern gerade die Auflehnung gegen dieses, kann ihrem Wesen nach keine Sache des Programms, der planenden Absichten sein; es erledigt sich damit der Scheinkonflikt zwischen der reinen Literatur und der sogenannt engagierten, der auf Verwechslung zweier Perspektiven für eine und dieselbe Sache beruht, während eben der Schein des Konflikts glauben machen will, es seien umgekehrt zwei verschiedene Sachen, die da unter einer Perspektive sich streiten; worin bestünde der Streit? Das Maß des literarischen Engagements, nicht als politischer Vorsatz, der gar nicht interessiert, sondern als Leistung, ist die Fähigkeit des literarischen Produkts, eine Welt in sich einzufangen, sie aufzuhellen, umzudeuten, also zu ändern, und es gibt keine Beispiele sogenannter reiner Literatur, abermals auf die Leistung, nicht den ästhetischen Vorsatz gesehen, für die vom lyrischen Gedicht bis zum scheinbar politikfernen Roman nicht ganz das gleiche gilt – die Alternative ist also müßig, ja unsinnig. Nur dort, wo die engagierte Literatur nicht engagiert genug, die reine nicht rein genug ist, ist jene nicht diese, diese nicht immer schon jene; um das aber ganz zu erfahren, muß man freilich sich vor Augen halten, daß das Engagement auch als politisches Engagement, dort, wo es sich dokumentiert, also durchsetzt, eben nie in einer Absicht, einem Vorsatz des Literaten beruht, sondern im Aufforderungscharakter der Dinge selbst, welche in ihrer Unerträglichkeit seine Aufmerksamkeit auf sich sammeln, seinen Wahrheitssinn herausfordern, seinem Rechtsgefühl anstößig sind. Ich führe das aus, um dem so mißverständlichen wie naheliegenden Vorwurf zu wehren, die Literatur werde hier auf Angriff und Zersetzung festgelegt; vielmehr betreibt sie diese aus freien Stücken, ist überhaupt ja auf nichts jemals festzulegen, daß sie die genannten aber betreibt, ja zunehmend für nichts anderes Zeit findet, liegt einfach an der Besonderheit jetzt des Aufforderungscharakters der Dinge selbst, der genannt wurde, denn es steht nun einmal um die Dinge, die res humanae in unserem Lande, nicht gut. Es gibt naheliegende, allzu naheliegende Evidenzen für diese Feststellung – ich will sie nicht anrühren. Nicht von deutscher Justiz, deutscher Politik, deutscher Gesetzgebung, nicht von Schulen und Hochschulen sprechen, ich habe es vor einem Jahr, in dem nichts besser wurde, ziemlich ausführlich getan6, und schon gar nicht von deutscher Vergangenheit, allerdings auch von deutscher Zukunft kein Wörtchen, solange allzu wenig gesichert ist, ob sich dieser Substantiv mit seinem Adjektiv noch verträgt.
Es genügt vielmehr für meinen Zweck, den Blick dort auf die Gesellschaft zu richten, wo als Schlüssel zu ihrer Zivilisationsstufe eben ihr Verhältnis zur Literatur selber sich zeigt. Die Mäzene von vorgestern, zunächst, viele von ihnen wurden vertrieben, aus dem Land oder dem Leben, diese Mäzene aus dem alten Berlin, aus Dahlem und Grunewald, aus dem Kohlenpott kamen sie damals schon selten, sie sind nicht mehr, das ist nicht neu – aber wie könnte etwas neu sein, dort, wo es eben etwas Neues nicht gibt? Natürlich gilt das nur cum grano salis. Und noch in den Tundren des Nordens wächst ja windgekrümmt alle paar Meilen ein Baum. Die Existenz eines Kulturkreises im Bundesverband der deutschen Industrie etwa ist gesichert, sowohl finanziell als auch ideell, sie ist keineswegs ein hartnäckiges Gerücht. Vielmehr ist sie, wie ja alles am Rhein, eine harte Tatsache, der Kulturkreis selbst aber ist ein zarter, verschüchterter Keim – böswillig muß der heißen, böswillig und unpädagogisch, der so hilfsbedürftige Schwäche, sie nur weiter noch einschüchternd, etwa rügt. Lassen wir die Mäzene doch, wie es ihrer Bescheidenheit frommt, vor sich hingrünen, in ihrem Garteneck am Dackelgrab, zwischen den Fleißigen Lieschen, dem Phlox, nicht nur dort ja gibt es Literaturverständnis, auch der Führer der Freien Demokraten, Erich Mende, hat nach einem Zeitungsbericht erst kürzlich wieder »Goethe, Schiller und Gustav Freytag« gesagt7. Einfach mit der Türe ins Haus, ohne die klassischen Klingelstöße, Gustav Freytag zu sagen, hätte Mende sich vielleicht nicht getraut, anderseits bleibt denkbar, daß auch den beiden andern zuletzt nicht zu trauen ist, wenn man ohne Gustav als Geleitschutz sie einfach ihrem Bund überläßt.
Bei Grass und Böll hatte er die Vorbilder vermißt. Schließlich könnten sie auch, wo es einen solchen Marktbedarf dafür gibt, welche liefern. Nicht bei der Werbeindustrie aber, bei Kant fand er doch noch das Bild8. Das könnte sensationell sein, wenn in Deutschland nicht auch Kant eben so zuverlässig, weil ehrwürdig wäre – ehrwürdig einerseits, anderseits aber, soweit er, wenn auch mißverstanden, tatsächlich gewirkt hat, schon lange so folgenschwer: diese alles auf sich nehmende, alles entschuldigende, verführerische Gouvernante, die Pflicht!
Nein, es steht bedenklich um ein Volk, wenn aus der Nachbarnation, dieser mit ihm angeblich so befreundeten, der sein liebendes Interesse also sich zuwandte, ein Gelächter in seine Nachtträume gellt – was mag das sein? Das ist Cocteau. Der über das Extrem hinaus unverheiratete Dichter – immer noch lacht er aus dem Grabe, worüber, Sie wissen es schon.9
Weiterschlafen, er hört auch wieder auf. Warum sollte gerade diese Kleinigkeit Konsequenzen haben? Und was erwartet man eigentlich von einer Staatsmacht, die schon mit ihrer eigenen Literatur nicht verkehrt? Imponderabilien nennt man das in Deutschland, will damit sagen, daß man es nicht anfassen kann, daß es infolgedessen nicht wirklich ist, der Materialismus freilich ist eine marxistische Infamie.
Das ist das Milieu, meine Damen und Herren, das ist, wie es schon zu Zeiten von Karl Marx war, die deutsche Ideologie10 und ihre bewunderungswürdige Konsequenz. Ein Imponderabile ist die Lächerlichkeit, denn da man auch diese nicht anfassen kann, wie könnte sie einen töten? Vielleicht anderswo auf Erden, hier nicht.
Aber es steht bedenklich um ein Land, das zu kulturellem Austausch Goethe-Häuser in aller Welt baut; dasjenige in Paris dann auf das Niveau eines Sprachlehrinstituts reduziert; schließlich die Misere bemerkt – und wo die Abhilfe dann an ihrem Voranschlag scheitert, weil der Ausersehene, Friedhelm Kemp, die Verhältnisse in Paris eben kennt11.
Was für Verhältnisse? Solche, in denen der Geist nie mit Almosen abgespeist wurde, Lächerlichkeit töten kann, Kosten, nur weil man sie anfassen kann, nicht notwendig das Wirklichste, das einzige Ponderabile sind. Und es steht bedenklich um ein Land, wo nichts eben je Konsequenzen hat: wo aus Kleinem wie Größerem Konsequenzen gar nicht denkbar sind.
Es steht um es bedenklich, wenn ein Kardinal der römischen Kirche, der in litteris getrost römischer sein könnte, das muffigste aller Schullesebücher protegiert, allabendlich in der Münchner Lach- und Schießgesellschaft wird aus dieser Verfälschung der Welt vorgelesen, mit verteilten Rollen, das Publikum ist hingerissen, aber Kardinäle halten sich den Kabaretts eben fern12.
Ich will nicht über die Höhe der Redner im Bundestag sprechen, mit oder ohne Titel, mit oder ohne Doktor, welcher ohnehin ja für gar nichts mehr bürgt, seit so mancher seiner Träger dann Volksrichter, KZ-Arzt oder auch schlicht unser Doktor wurde – das angestammte Schullesebuch aber hat einst alle diese Artikulanten genährt.
Schon seine Spielarten um 1927, die dem Döpfner-protegierten um die Strecke Berlin – Miesbach voraus waren, leisteten doch Vorschub dem wüsten Ungeschmack, der immer auf das Gemüt sich beruft. Die Heimatkunst keimte schon, den Absturz in entwicklungsländische Tiefen, der in der Zwischenzeit statthatte, zeichnete die Textauswahl vor. Aus Geistesunordnung entstanden, Unordnung weiter vermittelnd, bot man die Romantiker vor den Klassikern und Lessing weit später als etwa Hauff. Von Schiller, darin lag Methode, gab es in den Büchern nur das Parodierbarste, Stählernste, von Platen immer das ›Grab im Busento‹, kein Ghasel, kein graziles Sonett, sonst hauptsächlich Freiligrath, alle Freiligraths unserer Literaturgeschichte, aber keine Zeile von Büchner, keine von Nestroy, kaum eine von Novalis, von Kleist.
Jean Paul existierte nicht, Grabbe genau ebenso wenig, Hölderlin nur in seinen schillerisierenden Anfängen, Heine war der Autor der ›Loreley‹. Von Börne keine Spur. Von den Modernen will ich gar nicht erst anfangen. Der Lateinlehrer hielt Trakl für einen Schleppkahn auf der Donau bei Wien. Wie ein Selbstmißverständnis von Liberalität, dem Geist wie Ungeist immer zu Goldschnittrücken, kulturellem Dekor werden, ohne Verbindlichkeit für die Existenz, soviel Besseres mit Gustav Freytag verschnitt, so brach der letztere in der Tat, in Zusammenarbeit mit Löns und mit Rosegger, längst selbstgefälligem Stubengeruch, rassisch röhrender Verballhornung, Bahn.
Längst war so die Beule, aus der es weitereitert, seit die Menschheit sie aufstach, im Wachsen, das Grundverhältnis der Deutschen zum Wort, also zum Menschlichen selber, gestört, wurde die Literatur hierzulande teils verfälscht, zum andern Teil unterschlagen, zu einem dritten als Gipsgoethe in eine unpraktische Höhe entrückt, wo ihr Text nicht mehr entzifferbar war, während unten man, als handelte es sich um Wilhelm, dem Herrlichen eben huldigte, mit niedergeschlagenem Blick. Anstecken ließen sich, auch wenn sie gegen Adlerhelme immun waren, alle – unser deutsches Anno Santo, das Goethe-Jubeljahr: steht im Jahres- und Jahrhundertrückblick zu Silvester 1899 in der alten ›Frankfurter Zeitung‹, der doch anderweitig freisten, unbestechlich wachsten im Reich. So rauschte der Kult. So entfernte er dem Geschmack seine Vorbilder. Nebenan lasen die Kutscher ihren Racine, hier die akademischen Gartenzwerge, den Olympier immer vor dem Blick, auf der Zunge, den ›Wilden Jäger‹ von Wolff – aber Sie wissen vielleicht nicht, wer Julius Wolff war13? Er stand meistens neben Gustav Freytag, also erkundigen Sie sich doch einmal in Bonn.
Kann, wo Butzenscheiben das Licht trüben, welches erstrahlen? Wo die Mediokrität mit List gefördert wird, wo sie eine gesellschaftliche Funktion erfüllt, wo sie den Menschen als Panzer gegen jeden Zweifel an ihrer eigenen Gemütsechtheit dient, kann das Niveau des Parlaments da besser sein als es ist, also von abendländischem Glanze? Und kann dort, wo das Pensum der Schulen kein Collegium logicum vorsieht; wo zwar jeder Studienrat die Stimme dämpft, wenn er vor seinen Primanern Fichte oder Kant sagt, deren Texte aber nicht gelesen werden, da es anders als in Frankreich die Philosophie als Gymnasialfach nicht gibt14, das Denken so erzogen sein, daß es seine öffentlichen Aufgaben meistert? Es kann höchstens schon beunruhigt werden, wie Hochhuth es eben beunruhigte, aber aus der Beunruhigung keine Konsequenzen ziehen, denn nur erzogen fände es zu solchen den Mut. Was für einen Mut – um etwa von sozialdemokratischen Parlamentariern zu sprechen? Nun, den zum Beispiel, eine Kompetenzanmaßung beim Namen zu nennen, einem Minister eine Rüge zu erteilen – Sie erinnern sich gewiß noch des Falls, zum dritten Mal naht hier Hochhuth, so beunruhigt hatte er in Deutschland das Publikum, daß in Bonn einigen Abgeordneten das mißfiel.