Kitabı oku: «Baltrumer Wattenschmaus», sayfa 3

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Zwei Tage waren vergangen, seit Anika zu seiner Unterstützung eingetroffen war. Zwei Tage, in denen nichts passiert war, was seine Aufmerksamkeit erfordert hätte. Weder hatten die Kollegen aus Oldenburg Näheres zu dem oder der Toten sagen können, noch hatte sich Paul Abarth gemeldet. So hatte er genügend Zeit, seiner Kollegin die Insel zu zeigen. Immer hatte sie ihr Notizbuch dabei und konnte schon so manche Frage daraus streichen. Auch die nach dem Rosengartentor hatte er mit Hinweis auf die unendlich vielen Kaninchen und die hungrigen Rehe beantwortet.

Zu Anfang hatte er sie nicht richtig einschätzen können. Sie war ein ruhiger, beinahe zurückhaltender Typ, der alles, was er sagte, interessiert aufnahm. Doch manchmal durchbrach sie ihre Zurückhaltung, lachte fröhlich und kommentierte seine Ausführungen unbeschwert und lebhaft. Nur von ihrer Zeit in Barsinghausen schien sie ungern zu erzählen. Er hatte ein, zwei Mal versucht, etwas aus ihr herauszulocken, doch vergebens. Dann hatte er es aufgegeben. Es musste auch nicht sein. Hauptsache, sie kamen in ihrer Zeit auf der Insel miteinander klar.

»Worüber denkst du nach?«

Röder zuckte zusammen und hätte sich beinahe mit dem Brötchenmesser in den Finger geschnitten, als Sandra ihn aus seinen Gedanken holte.

»Ach, ich habe überlegt, was ich Anika noch nicht gezeigt habe. Gestern waren wir auf dem Friedhof und haben uns Kramers Grab angesehen.«

»Gibt es da schon Neuigkeiten?«, fragte Sandra und schenkte sich einen Kaffee ein. »Ich habe übrigens deine Kollegin gefragt, ob sie bei uns mit frühstücken wollte. Sie hat abgelehnt. Freundlich, aber bestimmt. Ich habe ihr dann nur erzählt, wo sie unseren Laden findet. Falls sie an Biolebensmitteln interessiert ist.«

»Ich denke, sie braucht ganz viel Ruhe«, erwiderte Röder. »Irgendwas ist mit ihr. Keine Ahnung, was es sein könnte.«

»Na gut. Ich muss gleich in den Laden, Eva ablösen. Die hat heute schon früh angefangen.«

»Und es macht dir immer noch Spaß?«, fragte Röder, obwohl ihm die Antwort durchaus bekannt war.

»Natürlich. Ich habe übrigens eine Bitte. Könntest du heute Nachmittag mal im Laden vorbeischauen? Wir wollen einen Kühlschrank anschließen, und zu diesem Zweck muss ein ziemlich schwerer Schrank umgesetzt werden.«

»Kein Problem, mache ich gerne.«

»Übrigens kommt übermorgen Wiebke. Wir wollen die weiteren Liefermodalitäten für das Gemüse besprechen.«

»Wird mein Freund Arndt auch dabei sein?«

Sandra schaute ihren Mann etwas verunsichert an und meinte: »Ich denke, der hat anderweitig zu tun.«

Das war schade. Er hätte ihn gerne wiedergesehen. Aber seit Arndt seinen Dienst als Hauptkommissar bei der Auricher Kripo aufgegeben und sich mit seiner Frau Wiebke einen Bauernhof in der Krummhörn zugelegt hatte, sahen sie sich nicht mehr so häufig. Röders schlechtes Gewissen machte sich bemerkbar. Auch er hätte die beiden auf dem Festland öfter besuchen können. Schließlich fuhren täglich Fähren ans Festland! Sandra hatte es getan, und so war die Zusammenarbeit mit »Kleemanns Hof« und die Idee eines Bioladens auf der Insel entstanden.

Sein Telefon machte sich bemerkbar.

Es war Paul Abarth, der ihn aus der Frühstücksbeschaulichkeit holte. »Wilko ist heute unentschuldigt nicht zum Unterricht erschienen.«

Röder schaute auf seine Uhr. »Der Unterricht hat doch gerade erst angefangen.«

»Richtig. Aber ich habe mit dem Vater telefoniert. Der Junge ist nicht mehr zu Hause.«

»Und was sagt die Schwester?«

»Die liegt laut Auskunft des Vaters mit Erkältung im Bett und weiß nichts.«

Röder bemerkte große Unruhe in der Stimme des Schulleiters. »Gut. Ich komme mit meiner Kollegin in Kürze bei Ihnen vorbei. Dann sehen wir weiter.«

Er beendete das Gespräch und unterrichtete Anika. Es dauerte keine fünf Minuten, da stand sie in der Küche vor Sandra und Michael. »Können wir los?«

Röder stand auf. »Momentchen. Darf ich mir vorher eine Jacke überziehen?«

»Natürlich, aber wir sollten so schnell wie möglich …«

»Ich beeile mich.« Er schnappte seine Regenjacke, winkte Sandra zu und folgte seiner Kollegin zum Gartenhäuschen. Er stellte fest, dass sein Vorderreifen ziemlich platt war. Normalerweise überließ er den wechselnden Hilfssheriffs die Fahrzeugpflege, weil er dazu einfach kein Talent – so redete er es sich zumindest ein – und auch keine Lust hatte.

»Brauchst du eine Luftpumpe?« Anika blickte mit Zweifel in den Augen auf sein Vorderrad. »Aber beeil’ dich.«

Er stöhnte leicht. Er sah ein, dass er, ohne sein Techniktalent zu zeigen, aus der Nummer nicht wieder rauskam, also pumpte er. Es ging leichter als gedacht. Gleich darauf fuhren sie über den Roten Platz.

»Gut, dass Sie da sind«, begrüßte Paul Abarth die beiden. Röder konnte ihm ansehen, dass er sich große Sorgen machte.

»Bitte berichten Sie uns, was genau das Gespräch mit den Eltern gebracht hat.«

»Setzen Sie sich erst einmal«, erwiderte Abarth, als sie in seinem Büro angekommen waren. »Also ich war da, fand jedoch nur die Mutter vor. Sie hatte keine Ahnung, wovon ich sprach, und beteuerte, dass alles in Ordnung sei. Sie habe nie bemerkt, dass ihr Sohn sich verändert hätte.«

»Waren die Kinder bei dem Gespräch anwesend?«, fragte Anika.

»Nein, nicht direkt. Die Tochter war im Kinderzimmer. Der Sohn angeblich bei Nachbarn.«

»Bei wem genau?«, fragte Anika.

»Keine Ahnung. In dem Haus sind zwei weitere Eigentumswohnungen. In der einen wohnt Elmar Diesterweg. Der hat sich wohl, wie Frau Jessen berichtete, seinen Lebenstraum mit dieser Wohnung erfüllt. In der anderen lebt Ilona Klinker und manchmal auch ihr Mann.«

Röder kannte die beiden. Sie hatten viele Jahre eine Pension betrieben, bevor sie sie ihrem Sohn überschrieben hatten. Franz Klinker war seitdem meistens unterwegs, um die Welt zu erkunden. Andere Stimmen sagten allerdings, dass er sich von seiner Frau getrennt habe und deswegen am Festland sei.

»Aber Nachbarn ist ein weiter Begriff. Wo Wilko zu dem Zeitpunkt genau war, weiß ich nicht.« Paul Abarth fuhr sich durch seine wuscheligen Haare, dann schüttelte er bedauernd den Kopf. »Was halten Sie von der Sache?«

Röder stand auf. »Wir werden der Sache nachgehen. Mal schauen, ob was dran ist. Und Sie möchte ich bitten, mal ganz vorsichtig die Mitschüler aus Wilkos Klasse zu befragen. Es könnte sein, dass er seinen Altersgenossen gegenüber aufgeschlossener war.«

»Das mache ich gerne. Und – danke.« Auch Anika Frederik und der Schulleiter erhoben sich. »Ich möchte selbst gerne wissen, warum mich die Sache so verfolgt«, sagte er. »Es ist eigentlich nichts passiert. Dumme Sprüche und Fehlstunden hat es bei Schülern gegeben, seitdem Schulen existieren. Natürlich gibt es hier ebenfalls einen bunten Querschnitt von Charakteren. Aber wir leben im Grunde genommen in einer heilen Welt, verglichen mit mancher Großstadtschule. Da fällt es eben mehr auf, wenn ein Kind sich verändert.«

»Wir melden uns.« Anika und Röder verließen das Schulgebäude genau in dem Moment, als die Glocke klingelte. Röder fühlte sich angenehm in seine Kindheit versetzt. Zumindest an die Grundschule hatte er positive Erinnerungen. Wie hatte die Klassenlehrerin mit dem Dutt geheißen? Fräulein Lebesam. Genau. Alle Kinder hatten versucht, das Beste aus sich rauszuholen, um Fräulein Lebesam zu gefallen. Und sie hatte alles getan, um den Kindern mit großer Zuneigung möglichst viel beizubringen.

Im Ostdorf angekommen, wollte Röder gerade den Klingelknopf drücken, als sich die Tür von innen öffnete und Ilona Klinker vor ihnen stand. »Super, dass Sie da sind. Sonst hätte ich bei Ihnen angerufen.«

»Wieso?«, fragte Röder einigermaßen verwirrt.

»Na, riechen Sie das nicht? Kommen Sie rein, Sie beide! Hier stinkt es mal wieder zum Gotterbarmen. Ich habe allmählich die Schnauze voll!«, schrie sie. »Jeremy hat schon Asthma deswegen.« Sie zeigte auf einen braunen Dackel, der sich mühsam die Treppe hinunterbewegte.

»Aber was sollen wir …?«

»Sie sollen es ihm verbieten. Jeden, jeden, jeden Tag stinkt es.«

Röder schnüffelte, auch Anika hielt ihre Nase in die Luft. Gut, man konnte riechen, dass gekocht wurde. Aber es war nicht unangenehm.

»Ich habe in unserer Pension jeden Tag am Herd stehen müssen. Immer war ich vom Essensdunst umgeben. Das will ich nicht mehr. Dann kann ich mich auch gleich wieder bei meinem Sohn in die Küche begeben!«

»Wer ist denn derjenige, der in diesem Haus kocht?«, fragte Anika.

Ilona Klinker zeigte nach oben. »Der da. Der Diesterweg im ersten Stock. Ich wohne genau darüber. Im zweiten!«

»Haben Sie es schon mal mit Lüften versucht?«, fragte die Polizistin.

Röder ahnte, dass das genau die falsche Frage war. Er sollte Recht behalten.

»Glauben Sie, ich bin blöd? Was meinen Sie, wie es stinken würde, wenn das Flurfenster nicht Tag und Nacht offen wäre!«, schrie Ilona Klinker erneut.

Jetzt wurde auch Röder böse. »Schreien Sie uns nicht an. Sie entschuldigen uns. Wir haben zu tun.« Er schob sich an der aufgebrachten Frau vorbei und klingelte an Jessens Tür.

»Die kann ich auch nicht ab mit ihrer ständigen Streiterei«, schickte Klinker ihnen hinterher, als Hans Jessen sie hereinließ.

»Wir kommen wegen Ihres Sohnes«, erklärte Röder, nachdem er Hans Jessen seiner Kollegin vorgestellt hatte.

»Ja, und?« Hans Jessen ließ sich auf das Sofa fallen, das fast den ganzen Raum beanspruchte. Abgesehen von dem Fernseher, der die halbe gegenüberliegende Wand einnahm. »Ist er nicht in der Schule?«

»Nein. Deswegen sind wir hier. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«

Jessen schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Und machen Sie sich Sorgen deswegen?«, fragte Anika.

Wieder schüttelte der Mann den Kopf. Diesmal kräftiger. »Warum sollte ich? Er ist ein Freigeist, wie meine Frau immer behauptet. Also was soll ich mir Gedanken machen?«

»Weil Sie ein eigenständig denkender Mensch sind?«, fragte Anika.

Jessen lachte auf. »Das sollten Sie mal meine Frau hören lassen. Die würde das glatt abstreiten.«

»Wo ist Ihre Frau jetzt?«

»Am Festland. Sie sucht Sponsoren.« Jessen deutete auf den Fernseher. »Sie dreht Filme und nennt das dann Kunst. Und weil das manchmal etwas kostet und ich nur das Gehalt eines Bürotigers in der Reederei mit nach Hause bringe, sucht sie fremdes Kapital. Zum Beispiel für dieses Riesengerät zum Abspielen der Kunstwerke. Würde gerne wissen, wie sie das immer wieder schafft. Aber vielleicht möchte ich es doch nicht wissen.«

»Dann haben Sie sich heute freigenommen?«

»Ja. Weil Meta krank ist. Ich konnte sie nicht allein lassen.«

In diesem Moment hörte Röder ein schwaches »Papa« aus dem Nebenzimmer. Anika sprang auf. »Ihre Tochter ruft. Darf ich zu ihr?«

Jessen nickte. »Gleich die erste Tür rechts. Aber erschrecken Sie sie nicht.«

»Keine Sorge.« Schon war Anika verschwunden.

»Sie haben wirklich keine Ahnung, wo Ihr Sohn ist, Herr Jessen? Bevor ich die ganz große Suche lostrete, möchte ich alle Infos haben«, mahnte Röder eindringlich.

»Nein, ich weiß es nicht. Bin aber guter Hoffnung, dass er kommt. Ich mache mir keine Sorgen. Allerdings wundere ich mich, dass die Polizei Zeit für eine solche Lappalie hat. Sie kreuzen hier gleich zu zweit auf – Donnerwetter!«

Röder konnte es kaum fassen. Er würde vermutlich nicht so entspannt auf dem Sofa sitzen, wenn sein Kind verschwunden wäre. Auf der anderen Seite – es war erst eine kurze Zeit, die der Junge weg war. »Hat er Hobbys, die ihm zurzeit wichtig sind? Angeln oder eine andere Beschäftigung, die er draußen ausführt?«

»Nein. Manchmal ist er mit seinen Kumpels unterwegs, aber das ist doch normal«, bemerkte Jessen.

Klar, die Zeit draußen zu verbringen, war normal, dachte Röder. Es war nur die Frage, womit er die Zeit im Freien ausfüllte. »Ich hörte, Ihre Frau und Sie streiten sich öfter? Könnte sein Verschwinden damit zu tun haben?«

»Ach, hat die alte Klatschtante von oben ihr Maul aufgerissen?« Jessens Augen blitzten wütend. »Die soll sich mal an ihre eigene Nase fassen. Der ist der Mann schon vor Jahren abgehauen. Der darf nur wiederkommen, wenn in der Wohnung etwas repariert werden muss und kein Handwerker zu kriegen ist.«

»Apropos Wohnung – wohnen Sie zur Miete oder gehört Ihnen die Wohnung?«

»Ich weiß nicht, was Sie das angeht, aber uns gehört die Wohnung. Obwohl ich mir oft genug wünsche, dass ich einfach den Vertrag kündigen und wegziehen könnte«, gab Jessen zu.

Röder wunderte sich. Woher hatten die Jessens das Geld für eine Wohnung? Aber die Frage danach verkniff er sich. Tatsächlich ging es ihn auch wirklich nichts an.

»Eine letzte Frage: Sagt Ihnen der Spruch: ›Wer leben will, muss töten‹ etwas?«

»Nein. Wieso?«

»Das war ein Satz, den Ihr Sohn in der Schule losgelassen hat«, erklärte Röder.

»Den hat er bestimmt bei einem Kumpel aufgeschnappt«, winkte Jessen ab.

»Bist du durch?« Anika war zurück.

Röder hatte das Gefühl, dass sie etwas mit ihm zu besprechen hatte, das nicht unbedingt für Hans Jessens Ohren gedacht war.

»Ich denke ja. Oder haben Sie mir noch etwas mitzuteilen?«, wandte er sich erneut an Jessen.

»Nein. Habe ich nicht«, kam es aufgebracht zurück.

»Teilen Sie uns sofort mit, wenn Ihr Junge wieder auftaucht. Sollte er bis zwei Uhr nicht zu Hause sein, werden wir eine Suche einleiten.« Sie verabschiedeten sich.

Im Treppenhaus roch es immer noch nach Essen. Sie klingelten bei Elmar Diesterweg, doch niemand öffnete.

»Wir gehen vor die Tür«, schlug Anika vor.

»Also, was hast du erfahren?« Röder konnte seine Neugier kaum bändigen.

»Ehrlich gesagt, nichts. Das Mädel war wirklich krank. Auf meine Frage, ob sie wüsste, wo ihr Bruder sein könnte, schüttelte sie nur den Kopf. Ich hatte allerdings stark das Gefühl, dass sie mir etwas verschwieg«, gab Anika Auskunft. »Soll ich sie mir noch einmal vornehmen? Sie begreift sicher gar nicht, wie wichtig ihre Hilfe sein könnte.«

»Lass es erst einmal gut sein. Wir warten ab und fragen später nach.«

»Du meinst nicht, dass wir handeln sollten? Wir können doch die Insulaner zusammentrommeln. Die Feuerwehr. Die Lehrer. Wir könnten alle Nachbarn befragen, ob die etwas mitbekommen haben.«

»Nein. Wir warten bis zum Unterrichtsende am frühen Nachmittag. Vielleicht taucht er bis dahin in der Schule auf.«

»Wie du meinst.« Sie schnappte sich ihr Rad und fuhr so schnell los, dass er kaum folgen konnte. Man gut, dass er ihr nicht von seinem Auftrag im Bioladen erzählt hatte. Dafür hätte sie bestimmt kein Verständnis gezeigt. Apropos Bioladen – er würde jetzt dorthin fahren. Dann konnte er sich nachmittags um die wichtigen Dinge des Lebens kümmern.

6

»Es ist ganz sicher, dass dein Unterricht heute ausgefallen ist?« Elmar Diesterweg konnte es nicht so ganz glauben.

»Doch. Sonst wäre ich nicht hier, oder?«, antwortete Wilko bestimmt.

Er hatte den Jungen im Flur getroffen, gerade, als er das Haus verlassen wollte. Wilko hatte sich ihm angeschlossen, als er ihm erzählt hatte, dass er Queller pflücken wollte. Der Meeresspargel, wie er auch genannt wurde, schmeckte vorzüglich zu Lachs oder Lammbraten. Am Nachmittag erwartete er drei Damen, die sich zu einem Kochkurs in seiner Küche angemeldet hatten.

Sie überquerten den Weg, der am alten Ostdorf vorbei zum Heim des Niedersächsischen Turnerbundes führte, und erreichten bald den Heller, auf dem Tausende von Vögeln brüteten. Diesterweg hoffte, dass er einige der jungen Pflänzchen fand, die nicht vom Gänsekot verdreckt waren.

»Kann ich später mit dir das Essen zubereiten?«, fragte Wilko.

»Heute nicht. Da bekomme ich Besuch. Aber übermorgen kannst du gerne zu mir kommen«, erwiderte Diesterweg und legte seinen Arm um Wilkos Schultern, als er dessen enttäuschtes Gesicht sah. »So, gleich haben wir die Verlandungszone erreicht. Das ist der Ort, wo wir die Pflanze finden sollten.«

Die Vegetation wurde allerdings eher weniger als mehr in diesem schmalen Streifen zwischen Hellerwiesen und Wattenmeer. Hier konnten es tatsächlich nur Pflanzen aushalten, die kein Problem damit hatten, regelmäßig vom Salzwasser überspült zu werden. Und zu diesen Pflanzen gehörte der Queller. Und genau das gab ihm diese wunderbar salzige und leicht pfefferige Note. »Da schau mal. Da ist er.« Er bückte sich und kniff die grüne Spitze der Pflanze ab. »Salicornia europaea. Davon gibt es zehn bis 30 Arten. Sie sind fast nicht auseinanderzuhalten. Aber das macht nichts. Sie schmecken alle. Aber wenn du sie pflückst, mach es bitte so wie ich. Nicht die ganze Pflanze, sondern nur den oberen Teil. Der ist frisch und angenehm im Geschmack. Die Pflanze ist um diese Jahreszeit noch sehr klein, aber wenn sie älter wird, ist der Rest manchmal holzig und zu salzig.«

»Ich achte drauf.« Jetzt lächelte der Junge wieder und brachte ihm nach kurzer Zeit eine ganze Handvoll der frischgrünen Spitzen.

Er legte sie in den Korb aus Stroh und freute sich bereits auf die Zubereitung. Der Queller war nicht die einzige Pflanze, die nutzbar war. Vor zwei Wochen hatte er Wegerich gepflückt und die Blätter zu einem leckeren Salat verarbeitet. Ab Juli würde er den Samen dieser Pflanze sammeln und Speiseöl daraus bereiten.

»Machst du den Queller als Salat oder Gemüse? Du musst mir unbedingt zeigen, wie das geht. Für Mama, weißt du?«, bat Wilko.

»Meinst du nicht, dass sie das auch ohne meine Hilfe kann? Sonst darf sie sich auch gerne an meinem Kochkurs beteiligen. Ich werde sie mal fragen«, überlegte Diesterweg laut.

»Nein. Besser nicht«, wehrte Wilko unwillig ab.

Was war das? Hatte er etwas verkehrt gemacht? Der Junge hatte es wohl nicht so ganz leicht mit seinen Eltern. Er kannte das. Auch er hatte eine Kindheit hinter sich, an die er sich nur ungern erinnerte. Am schlimmsten war der Hunger gewesen. Es war nicht so, dass seine Eltern kein Geld gehabt hätten, nein, es hatte beiden nur die Lust auf regelmäßige Mahlzeiten gefehlt. Nur bei seiner Oma war der kleine Elmar immer gut versorgt worden. Sie ließ ihn, auch, als er ganz jung war, schon in die Töpfe schauen. Er konnte bis heute schwören, dass er allein aus diesem Grund Koch geworden war. Wahrscheinlich war die Erinnerung an seine Oma auch der Antrieb, warum er sich dieses Jungen angenommen hatte. »Komm mal her«, rief er zu ihm herüber. »Schau mal, was hier liegt.« Eine Nonnengans mit einem beinahe gänzlich abgerissenen Kopf lag zwischen den spärlichen Gräsern.

Wilko rupfte einen weiteren Stiel ab, kam langsam zu ihm und beugte sich über das tote Tier. »Mann, die hat es aber erwischt. Wie ist das passiert?«

Diesterweg zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, ob Mensch oder Tier der Verursacher war. Wir nehmen sie mit und entsorgen sie.« Er war sich allerdings im gleichen Moment nicht mehr so ganz sicher, ob das eine gute Idee war. Zu präsent war ihm die Situation vor einigen Wochen in den Dünen. Bei einem Spaziergang hatte er im Gebüsch ein großes Netz entdeckt. Darin hatten sich zwei Stockenten verfangen und waren gestorben. Sie konnten nicht lange tot gewesen sein, sie sahen recht frisch aus. Er hatte die Netzfalle abgebaut, damit sich nicht weitere Tiere dort verfingen. Netz und Enten hatte er mitgenommen. Er konnte nicht einsehen, warum er die Vögel nicht in die Bratröhre stecken sollte. Auf dem Rückweg in den Dünen kam ihm dummerweise ein Insulaner entgegen und fragte mit viel Zynismus: »Na, besorgst du dir deine Essenszutaten schon in den Dünen? Wir kaufen alles in den hiesigen Märkten. Dafür sind sie da!« Er, Diesterweg, hatte zunächst keine Antwort gehabt, so überrascht war er gewesen, doch dann hatte er versucht, dem Mann klarzumachen, dass er alles so vorgefunden hatte. Doch der Mann hatte nur abgewinkt. »Stockenten, auch Wildenten genannt, sollen sehr lecker sein. Lass sie dir schmecken. Aber lass dich nicht erwischen. Die Jagdzeit für die Tiere ist vorbei.«

Ein paar Tage später fiel in einem Gespräch auf der Straße das Wort Stockente, als er vorbeikam. Er hatte keine Ahnung, ob es ihn betraf. Wollte auch nicht nachfragen.

Wilko griff in die Federn des Tieres und breitete die Flügel auseinander. »Die sieht echt cool aus. Schau mal, die gestreiften Flügel.«

»Weißt du denn, warum dieses Tier Nonnengans heißt?«

»Nee.«

»Wenn der Kopf noch dran wäre, könntest du es sehen. Sie hat ein weißes Gesicht und einen schwarzen Scheitel. Nacken und Hals sind auch schwarz, daher erinnert die Färbung an die frühe Tracht katholischer Nonnen.«

Der Junge schaute Diesterweg verschmitzt an. »Du kennst dich echt gut aus. Aber weißt du auch, wie sie gebraten aussieht?«

»Stand noch nicht auf meinem Speiseplan.« Diesterweg lachte.

»Darf ich mitessen?«

Elmar Diesterweg schaute überrascht hoch und erkannte Ole Zander, den Wattführer, der in der gleichen Straße wohnte.

»Klar. Kein Problem!« Diesterweg lächelte. »Willst du gleich einen Kurs belegen? Wir können natürlich auch eine Gemeinschaftsaktion überlegen. Du gehst mit den Leuten ins Watt, dann pflücken wir alle zusammen den Queller, und ich frage in einer der Hotelküchen nach, ob wir die nutzen können. Wäre nicht das erste Mal. Eine ähnliche Sache mache ich demnächst mit dem Nationalparkhaus. Wir werden im Watt Tische und Stühle aufbauen und dort essen. ›Wattenschmaus‹ haben Enna Klar und ich die Veranstaltung genannt. Ich überlege gerade, was wir servieren. Es sollte auf jeden Fall etwas mit der Umgebung, also dem Wattenmeer, zu tun haben. Wenn du dabei sein möchtest, musst du dich bei ihr anmelden.«

»Kann ich drüber nachdenken. Aber jetzt lern erst mal den Nachwuchs an. Macht Wilko gerade ein Praktikum bei dir?«, fragte Ole.

»So könnte man es vielleicht nennen.«

»Bis dann.« Ole Zander zeigte auf die weite Schlickfläche zwischen Insel und Festland, auf der kaum Wasser zu sehen war. »Ich muss ins Watt. Die Leute warten schon am ›Verhungernix‹ auf mich.«

Elmar Diesterweg sah hinter dem Mann her, der mit seinem schweren Rucksack und der Grabeforke in der Hand durch den Schlick Richtung Hafen stapfte.

»Brauchst du noch mehr? Wieviel soll ich pflücken?«, fragte Wilko.

»Ich denke, es reicht beinahe. Schau. Da vorne steht ein Büschel, davon nehmen wir etwas mit, dann ist es gut.«

»Aber …«

»Nein. Wir pflücken nur so viel, wie wir brauchen. Das habe ich dir schon oft gesagt, oder?« Elmar Diesterweg hatte plötzlich keine Lust mehr. Er wollte so schnell wie möglich nach Hause. Hoffentlich hatte der Wattführer nicht gedacht, er habe die Gans höchstpersönlich zu Verzehrzwecken getötet. Er hätte besser darauf hinweisen sollen, dass er lediglich den Queller als Nahrung nutzen wollte.

»Ja, ja, ich habe verstanden«, nörgelte Wilko. »Die Großen bestimmen und die Kleinen müssen folgen. Wie bei meinen Eltern.«

Es tat Diesterweg weh, was der Junge sagte. Er hatte sich so um ihn bemüht. Hatte zugehört, wenn Wilko mal wieder mit verheultem Gesicht vor seiner Tür gestanden hatte. Hatte versucht, ihm das Gefühl zu geben, dass er ihn trotz der jungen Jahre respektierte und ihn ernst nahm. Er war kurz davor, ihm eine ziemlich abweisende Antwort zu geben, aber er riss sich zusammen und sagte nur: »Du kannst mir zu Hause helfen, den Queller zu waschen und vorzubereiten. Übermorgen gehen wir wieder zusammen raus und sammeln und kochen danach das perfekte Menü. Was hältst du davon?«

Wilko schaute ihn von der Seite an. Der Trotz war einem strahlenden Lächeln gewichen. »Okay, Boss. So wird es gemacht. Heute kochst du mit deinen Frauen und übermorgen sind wir dran.«

»Vielleicht finden wir auch Löffelkraut. Davon ein paar der scharfen Blätter in den Salat, das ist auch sehr lecker. Löffelkraut ist übrigens so reichhaltig an Vitamin C, dass es früher auf Segelschiffen gegen Skorbut eingesetzt wurde.«

Wilko schaute ihn fragend an. »Skorbut?«

»Das ist eine Vitaminmangelkrankheit. Da fielen den Seeleuten die Zähne aus.«

»Aha«, überlegte Wilko. »Daher hat man das Labskaus erfunden. Das kann man schließlich auch ohne Zähne schlucken.« Er kicherte.

Auch Diesterweg lachte. »Da magst du recht haben.« Gemeinsam gingen sie zurück über den Heller nach Hause.

»Wie war das noch?«, fragte Wilko. »Ist das eigentlich Nationalparkgelände? Dürfen wir hier laufen? Wir haben das nämlich gerade in der Schule. Ruhezone I, Ruhezone II und so.«

»Ach«, erwiderte Diesterweg versonnen. »Wo kein Kläger ist, ist auch kein Richter.«

»Was heißt das?«

»Das heißt, wenn keiner mitbekommt, wenn jemand etwas Verbotenes getan hat, kann die Person auch nicht verurteilt werden, verstehst du?«

»Oder jemand kriegt es mit, aber sagt nichts.«

Elmar Diesterweg schwieg einen Moment, dann meinte er: »Die Möglichkeit besteht natürlich auch.«

Als sie die Haustür öffneten, stand Hans Jessen vor ihnen und starrte sie wutentbrannt an. »Ach, so war das mit: Man muss töten, um zu leben.«

»Was meinen Sie?«, fragte Diesterweg verblüfft.

»Was ich damit meine?« Hans Jessen lachte kreischend auf und deutete auf das kopflose Tier, das Diesterweg im Gras neben dem Fahrradständer abgelegt hatte. »Als ob Sie das nicht wüssten! Schlagen im Beisein meines Sohnes Gänsen den Kopf ab, nur damit Sie was für den Kochtopf haben!«

Waren jetzt alle verrückt geworden? Es musste doch klar sein, dass man erstens Nonnengänse nicht mal eben so einfangen und dass man zweitens Nonnengänse gar nicht verwerten konnte. Sie schmeckten einfach nicht.

»Es ist doch gut, wenn man aufmerksame Nachbarn hat. Die Szene kam Ole seltsam vor. Da hat er mich gleich angerufen. Auch weil er sich wunderte, dass Wilko nicht in der Schule war.«

Du liebe Güte, dachte Diesterweg. Das ist das zweite Mal, dass jemand etwas in den falschen Hals bekommt. Er mochte nicht darüber nachdenken, wie schnell sich auch diese Geschichte auf der Insel herumsprechen würde.

»Aber der Junge hatte frei. Der Unterricht war ausgefallen«, stotterte Diesterweg. Er merkte, wie Wilko neben ihm unkontrolliert zu zittern anfing. Jessen machte einen Schritt auf seinen Sohn zu, griff in sein T-Shirt. »Du gehst jetzt rein. Mit dir rede ich später.«

Der Junge rührte sich nicht.

»Los. Rein mit dir!«, schrie Jessen sein Kind an.

Was soll ich machen, überlegte Diesterweg. Würde der Mann Wilko schlagen? Dann musste er eingreifen. Oder würde das die Lage für das Kind verschlimmern? Er wollte um nichts in der Welt den Vater weiter aufregen. »Herr Jessen, die Gans haben wir tot auf dem Heller gefunden. Wir waren unterwegs und haben Queller für ein Gericht gesammelt, das ich heute Nachmittag kochen will. Wilko interessiert sich so sehr für das Kochen.«

Wilko schaute ihn angsterfüllt an. Hatte er etwas Verkehrtes gesagt?

»Dann war mein Sohn schon öfter bei Ihnen in der Wohnung? Mal sehen, was die Polizei dazu sagt!«

»Aber was hat die damit zu tun?«, fragte Diesterweg verdattert. Allmählich wurde die Lage für ihn unübersichtlich.

»Das können Sie sich immer noch nicht denken? Der Junge geht nicht zur Schule, nur damit er mit Ihnen kochen kann? Dahinter steckt mehr als nur Queller zu sammeln. Man muss töten, um zu leben – irre!«

»Nein. Wenn ich es Ihnen doch sage!«, versuchte Diesterweg Jessen zu überzeugen.

Jetzt liefen Wilko die Tränen über das Gesicht.

»Papa, was ist das für ein Krach?« Elmar Diesterweg sah Meta, blass und mit verwuschelten Haaren, im Nachthemd in der offenen Wohnungstür stehen. Gleichzeitig kam Ilona Klinker die Treppe hinunter. Ihr Dackel folgte ihr, ungelenk wie immer, seinen übergewichtigen Bauch von Stufe zu Stufe schiebend.

Klaus Jessen wandte sich um. »Nichts, mein Kind, gar nichts. Geh wieder ins Bett. Wilko und ich kommen auch gleich. Und Sie, Frau Klinker, geht es gar nichts an, was hier passiert. Aber wenn Sie es genau wissen wollen, schütze ich gerade meine Kinder vor einem per-…«

»Nein!«, schrie Diesterweg. »Nicht vor den Kindern.« Dann fügte er leise hinzu: »Wir können uns gerne unterhalten, wenn wir allein sind. Aber wir sollten jetzt wirklich …«

Hans Jessen hörte nicht mehr zu. Er schob Wilko grob den Flur entlang, verschwand mit ihm und Meta in der Wohnung und knallte die Tür zu.

Elmar Diesterweg hätte sich nicht gewundert, wenn die Klinker einen gehässigen Kommentar losgelassen hätte. Doch die Frau drehte sich wortlos um und ging die Treppe hoch. Der Hund folgte ihr mit durchdringendem Jaulen.

Er nahm sein Körbchen mit dem Queller. Die Lust am Kochen war ihm vergangen. Zumindest für heute. Aber es nützte nichts. Die Damen vom Kochclub würden darauf keine Rücksicht nehmen.

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Yaş sınırı:
18+
Litres'teki yayın tarihi:
25 mayıs 2021
Hacim:
283 s. 6 illüstrasyon
ISBN:
9783839262467
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