Kitabı oku: «Baltrumer Wattenschmaus», sayfa 4

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Röder hatte im Bioladen gerade die letzte Schraube in die Wand gedreht, als Hans Jessen ihm mitteilte, dass Wilko zu Hause sei.

»Und – wo hat er gesteckt?«, fragte Röder.

»Mit dem Diesterweg aus unserem Haus war er zum Queller pflücken. Wilko hat mir bestätigt, dass er dem Mann vorgeschwindelt hat, die Schule sei ausgefallen. Da hat ihn Diesterweg ohne Nachfrage einfach mitgenommen.«

»Na, dann haben sich unsere Sorgen um den Jungen ja in Luft aufgelöst«, war Röder erfreut.

»Wie man es nimmt. Ole Zander hat gesehen, wie Wilko und der Diesterweg eine tote Gans mit aus dem Watt genommen haben. Ist doch nicht normal, oder? Ich meine, der muss das Tier nicht in Wilkos Beisein töten. Wilko ist erst elf.«

»Wenn es Sie beruhigt, werde ich meine Kollegin vorbeischicken. Die kann mit Ihrem Sohn und Herrn Diesterweg reden. Ich denke, sie hat ein sehr gutes Gespür dafür, ob mit dieser Sache etwas nicht stimmt«, schlug Röder vor.

»Gute Idee. Machen Sie einen Termin mit unserem Chefkoch, dann melden Sie sich bei uns. Wir sind den ganzen Nachmittag da«, erwiderte Jessen.

Als der Mann das Gespräch beendet hatte, überlegte Röder, was er Anika mit auf den Weg geben konnte. Die Stimme des Mannes hatte weder wütend noch ängstlich geklungen, aber auch nicht gefestigt. Mehr so, als ob er mit der Angelegenheit ziemlich überfordert war. Er hoffte, dass Anika den richtigen Ton anschlagen würde. Er hielt sie für eine recht kompetente Kollegin, doch wenn es sich um Kinder in Notsituationen handelte, schien sie ein wenig zu überreagieren. Vielleicht täuschte er sich auch, und es war nur normal, dass Frauen entsprechende Gefahrenlagen anders beurteilten. Schließlich war es bisher nicht sehr häufig vorgekommen, dass ihm eine weibliche Hilfe zugeteilt worden war. Bis auf Marlene. Aber das war ein anderer Fall.

»Hilfst du uns, die Kisten hereinzutragen?« Sandra rüttelte leicht an der Leiter.

Er erschrak und wäre beinahe runtergefallen, wenn seine Frau ihn nicht gehalten hätte. »Ist doch gut, wenn eine schützende Hand über einem wacht«, lächelte sie.

»Stimmt. Besonders, wenn die Hand vorher dafür verantwortlich war, dass die Leiter überhaupt erst wackelte«, erwiderte er. Draußen war der Pferdewagen vorgefahren. Der Kutscher schlug die Seitenklappe nach unten und schob einige Kisten an den Rand der Ladefläche.

»Dann wollen wir mal.« Eine Kiste nach der anderen trug Röder in den Laden. »Muss die Kühlkette nicht eingehalten werden?«, versuchte er, sein neu erworbenes Fachwissen anzuwenden. Sandra hatte ihn, während sie mit ihrer Freundin Eva den Bioladen eingerichtet hatte, ausführlich daran teilhaben lassen.

»Ach«, beruhigte Sandra ihn. »In den Kisten und Kartons sind Nudeln, Reis und Dosensuppen. Da muss das mit der Kühlkette nicht sein«, fügte sie leicht ironisch hinzu. »Wenn morgen die Bestellung von Milch, Butter, Joghurt und so weiter angeliefert wird, dann kommt das in blauen Kühlbehältern.«

Richtig. Die standen auch immer beim »Frischemarkt« und beim »Inselmarkt« herum. Sie stapelten die Waren in einer Ecke des Ladens, dann rief er Anika an. Sie versprach, umgehend bei Jessens vorbeizuschauen und sich ein Bild zu machen.

Kaum hatte er sein Handy in der Hosentasche verstaut, meldete es sich erneut. Sein Chef aus Aurich war dran. Röder hörte interessiert zu, was Müller ihm zu sagen hatte.

»Mit der Abendfähre kommen zwei Kollegen rüber. Die wollen ein paar Sachen näher recherchieren bezüglich der Knochenfunde. Es wäre nett, wenn du zwei Zimmer besorgen könntest. Sie wollen mindestens für eine Übernachtung bleiben.«

»Das dürfte in dieser Jahreszeit kein Problem sein«, war Röder überzeugt. »Im Hotel ›Sonnenstrand‹ ist immer etwas für uns frei, wenn wir nett darum bitten.« Seit vielen Jahren waren Henning und Birgit Ahlers, die Besitzer des Hotels, kompetente Ansprechpartner, die nicht nur Zimmer, sondern regelmäßig auch ihren Clubraum für die Polizeiarbeit zur Verfügung stellten. Die Baltrumer Wache war für mehr als zwei Personen nicht ausgelegt. »Wer kommt denn?«

»Herbert Pankok aus Bremen. Da gibt es nämlich eine vielversprechende Spur. Aus unserem Kommissariat wird auch einer mit anreisen. Das wird sich gleich entscheiden. Nur, dass du Bescheid weißt. Wäre schön, wenn du die Kollegen vom Schiff abholst und einweist.« Damit war das Gespräch beendet.

Röder wunderte sich. Sonst hatte sein Chef durchaus mehr Zeit, wenn sie Telefonkontakt hatten. Aber vielleicht hatte gerade jemand sein Büro betreten und er musste sich anderen Aufgaben zuwenden. Wieder steckte er das Telefon ein. Er war gespannt, wer an Pankoks Seite auftauchen würde. Vielleicht Marvin Lingenberg, der bereits einige Male auf der Insel bei Mordfällen ermittelt hatte und sich inzwischen recht gut auskannte.

»Soll ich mit auspacken helfen?«, fragte er in der Hoffnung, dass der Kelch an ihm vorüberging. Er hatte Glück. Sandra zog es vor, die Ware Stück für Stück nach eingehender Begutachtung selbst in die Regale zu stellen.

»Gut. Ich bin auf der Wache, falls du mich brauchst. Später fahre ich zum Schiff.«

»Drehst du mit Amir eine Runde?«, fragte sie.

»Mache ich. Ich will sowieso mal eben zum Wasser gucken.« Er verabschiedete sich und fuhr nach Hause, wo sein Heidewachtel bereits wartete. Zumindest erweckte es den Anschein, so, wie der Hund ihn sehnsüchtig anschaute, als Röder die Küche betrat.

Der Hund sprang sofort auf, als Röder die Leine vom Haken nahm. »Also, los geht’s.« Er schaute in den Dienstraum, aber Anika war nicht da. Wahrscheinlich war sie bereits auf dem Weg zu Jessens.

Auf der Strandmauer waren einige Spaziergänger unterwegs. Die meisten Tagesgäste, die morgens mit dem Schiff gekommen waren, hatten ihre Strandmuscheln aufgebaut und sich im Sand ein gemütliches Nest geschaffen, das sie noch nicht bereit waren aufzugeben. Sie würden später mit der »Baltrum III« zurück ans Festland fahren. Die große Fähre war bereits unterwegs nach Neßmersiel. So regte sich buntes Treiben, obwohl es erst Mitte Mai und Vorsaison war. Auch die Strandkörbe, die die Mitarbeiter des Bauhofes aus dem Winterschlaf geholt hatten, waren gut belegt. Röder wandte sich nach links und ging an den Buhnen vorbei bis zur Kuckucksdüne. Er wunderte sich immer wieder, wie hartnäckig die Natur ihren Platz eroberte. Die Strandmauer, ein Gebilde aus beinahe nichts als Beton und Steinen, wies über die ganze Länge ganz schmale Einbuchtungen auf, in die sich Sand gesetzt hatte. Darin trotzten Löwenzahn, Gänseblümchen, Disteln und viele andere Arten ungeschützt Sturm, Regen und Salzwassergischt.

Das Wasser lief bereits wieder auf. Er schaute auf die Uhr. Noch eine Stunde, dann würde die »Baltrum I« in Neßmersiel die Motoren anschmeißen.

Er ließ die Strandmauer hinter sich und ging zurück ins Dorf. In Höhe des Nationalparkhauses sah er Ole Zander auf dem Fahrrad vom Hafen kommen.

»Na, Wattwanderung beendet?«, rief er ihm zu.

»Ja, schon eine ganze Weile. Habe mich mit Gästen unterhalten, die seit 30 Jahren auf die Insel kommen und alles kennen. Besser als die Einheimischen«, lachte er.

»Das kenne ich«, bestätigte Röder. Dann fragte er den Wattführer, was genau er beobachtet hatte, als er Elmar Diesterweg und den Jungen gesehen hatte.

»Genau das, was ich Hans bereits gesagt habe. Der Diesterweg und Wilko bückten sich öfter, als ob sie etwas suchten oder pflückten. Dann, kurze Zeit später, war ich bei ihnen und sah, dass eine Nonnengans tot im Gras lag. Wilko schlug vor, sie zu braten.«

»Das hast du seinem Vater erzählt?«

»Ja. Denn es ist verboten, Nonnengänse zu töten. Sie stehen unter strengstem Schutz. Es war so schräg irgendwie. Diesterweg hat mich sogar zum Essen eingeladen. So dachte ich, Hans sollte wissen, was ich beobachtet habe«, erklärte Ole Zander.

»Danke für deine Offenheit«, sagte Röder. »Falls dir was einfällt oder wenn du etwas hörst, was zur Aufhellung dient, melde dich bitte bei uns.«

»Geht in Ordnung.« Der Wattführer stieg auf sein Rad, winkte kurz und fuhr weiter.

Der Inselpolizist machte einen großen Bogen, ging am Hotel »Fresena« links ab durch das Deichschart und an der evangelischen Kirche vorbei. Er wollte wissen, ob die Turmfalken im Kirchturm ihr Nest gebaut hatten. Tatsächlich, da saßen die beiden Elterntiere in der Nische. Zu Hause angekommen, verbannte er Amir in sein Körbchen in die Küche, dann fuhr er los zum Hotel »Sonnenstrand«.

Henning Ahlers stand auf der Terrasse und wischte die Stühle ab. »Da haben sich doch wieder die Möwen verewigt«, begrüßte er den Polizisten.

»Tja«, lachte Röder, »immer Ärger mit der Natur. Schrecklich.«

»Was führt dich zu mir? Doch nicht etwa die gefundenen Knochen?«

»Doch. Es kommen gleich zwei Kommissare, und wir brauchen zwei Zimmer. Die Dienstwohnung ist belegt. Da wohnt Anika Frederik, meine Kollegin«, erklärte Röder.

»Dann komm mal mit rein. Ich wollte sowieso mit Birgit ein Tässchen Tee trinken. Wenn du also möchtest …«

»Gerne.« Röder würde nur im Notfall einen Nachmittagstee bei Familie Ahlers ausschlagen.

In der kleinen Küche war es gemütlich wie immer. Birgit stellte die Tassen auf den Tisch, dazu Kluntjes und Sahne, ganz so, wie der Ostfriese seinen Tee liebte. Auch ein paar Butterkekse fehlten nicht. Röder hatte das Gefühl, als ob die Außenwelt keinerlei Zutritt hatte. Es war einfach nur gemütlich auf dem alten Ostfriesensofa. Aus der großen Hotelküche kam hin und wieder das Scheppern von Töpfen, aber selbst das störte nicht.

»So, sag schon! Warum bekommst du Verstärkung?«, fragte Henning gespannt. »Du weißt doch, als Mitglied der Feuerwehr bin ich zum Stillschweigen verpflichtet.«

»Und ich als seine Ehefrau natürlich auch«, fügte Birgit lachend hinzu.

»Ganz ehrlich – ich habe keine Ahnung. Die haben wohl etwas herausgefunden, aber was genau, das wollen die beiden Kollegen mir nach ihrer Ankunft mitteilen. Es kommt ein Kommissar aus Bremen, Herbert Pankok, und jemand aus Aurich, der sich hier wohl auskennt. Leider hatte mein Chef nicht genügend Zeit, mir zu sagen, wer der Glückliche ist.«

»Na gut, dann warten wir mal ab. Die Zimmer sind bereit, und wenn ihr den Clubraum braucht – nur zu. Erst in der nächsten Woche kommt der Doppelkopfclub. Bis dahin solltet ihr mit euren Ermittlungen durch sein«, sagte der Hotelchef.

»Du hast zurzeit weibliche Hilfe? Wenn ja, wo steckt sie denn?«, fragte Birgit.

»Im Ostdorf. Ein Junge war nicht in der Schule erschienen, da gibt es wohl einige Probleme«, gab Röder Auskunft. Mehr würde er nicht sagen. Das mussten die beiden nicht wissen.

»Ach, es geht um Wilko? Der wohnt mit seiner Familie doch in dem Haus mit den drei Eigentumswohnungen hinterm Deich, nicht wahr? Da, wo auch der schwule Koch wohnt«, sagte Henning.

Birgit schaute ihren Mann wütend an. »Es ist doch völlig egal, was für eine sexuelle Präferenz jemand hat.« Sie wandte sich an Röder. »Neulich wollte der Redakteur einer Tageszeitung von uns wissen, ob wir in einer Anzeige auf der Suche nach einem Hausmeister m, w, und auch d setzen wollten. Ich wusste überhaupt nicht, was der meinte, und habe ihn gefragt, ob damit deutsch gemeint sei. Nein, divers, hat der geantwortet. Ich war verblüfft, das kannst du dir denken. Mir ist es wichtig, dass die Person ihre Aufgaben vernünftig erfüllt, nicht, mit wem sie ins Bett steigt!«

»Beruhige dich, mir geht es genauso. Es ist mir nur rausgerutscht, weil der vor einigen Jahren mal in einigen Häusern Kochkurse angeboten hat. Unser Koch hat ebenfalls teilgenommen. Quasi zur Weiterbildung, aber der Diesterweg hat ihn wohl nach dem vierten Bier ein wenig angebaggert«, erzählte Henning.

»Kann ich deinen Koch mal sprechen?«, fragte Röder.

»Leider hat er letzten Herbst aufgehört. Seine Frau mochte hier nicht sein. Die sind zum Festland zurück«, erklärte Birgit.

»Aber seine Telefonnummer hast du bei Bedarf?«

Henning nickte.

»Aber woher wusstest du von Wilko?« Diese Frage interessierte den Inselpolizisten brennend.

»Weil heute die fünfte Klasse der Feuerwehr einen Besuch abgestattet hat. Ich habe die Kinder herumgeführt. Zu Beginn habe ich das gefragt, was der Kasper auch immer fragt, nämlich: Seid ihr alle da? Und eines der Kinder sagte: ›Alle bis auf Wilko.‹ Das ist die Auflösung des Rätsels.«

»Also, wenn ihr eh schon alles wisst – ja, der Junge war mit Diesterweg in der Verlandungszone, Queller pflücken. Und der Vater, Hans Jessen, war darüber stinkesauer, weil Diesterweg angeblich eine Nonnengans zum eigenen Verzehr getötet hat. Anika ist hin, um die Wogen zu glätten.«

»Ich glaube, in diesem Haus ist sowieso kein gutes Klima«, ergänzte Birgit. »Ilona Klinker hat dort auch eine Wohnung, und die Frau kann ganz schön rabiat werden, wenn etwas gegen ihre Mütze läuft. Die hatten im Februar Eigentümerversammlung bei uns im Clubraum. Da ging echt die Post ab.«

»Hast du gehört, worum es da ging?«

»Nicht wirklich«, meinte Henning. »Nur einmal, als ich frische Getränke brachte, schlug die Klinker mit der Faust auf den Tisch und rief: ›Ich will den Rest auch kaufen, damit endlich Ruhe ist in diesem Haus.‹«

Röder stand auf. »Danke für den Tee und die Neuigkeit. Ich muss los.«

»Bis später. Wir sind gespannt, wen du uns mitbringst«, sagte Birgit zum Abschied.

»Ich auch«, erwiderte Röder. Wobei es eigentlich egal war, ob Gero oder Marvin dabei sein würde. Er kam mit beiden gut aus.

Als er den Hafen erreichte, legte das Schiff gerade an. Der Landgang wurde ausgefahren, und die ersten Gäste kamen von Bord. Und mitten zwischen den vielen Gesichtern sah er eines, was ihm nur zu bekannt vorkam. Das gab es nicht. Das konnte nicht sein. »Was machst du denn hier?«

Arndt Kleemann lachte ihn übermütig an. »Darf ich mich vorstellen: Ich bin neuerdings ermittelnder Beamter der Polizeiinspektion Aurich/Wittmund.«

Röder wollte antworten, doch die Stimme versagte. Stattdessen nahm er seinen Freund in den Arm, bis er merkte, wie jemand an seiner Dienstjacke zupfte.

»Mein Name ist Herbert Pankok. Und wer hat mich lieb?«

8

»Na, haben Sie sich den Mann schon vorgenommen?« Hans Jessen stand am offenen Fenster und schaute Anika zu, wie sie verzweifelt versuchte, ihr Fahrrad abzuschließen. »Das müssen Sie nicht. Hier wird kein Rad geklaut. Schon gar kein Polizeidienstrad.«

Dienstrad? Sie blickte auf das Gestänge, doch nirgendwo konnte sie einen Hinweis darauf entdecken, dass man es als polizeieigen hätte erkennen können. Und wenn, würde es einen eifrigen Dieb auch nicht von seiner Tat abhalten. »Haben Sie Zeit?«

»Ich habe. Allerdings ist alles gesagt, oder?«

Anika Frederik antwortete nicht, sondern ging ins Haus und fragte sich, ob der Mann tatsächlich die Wohnungstür öffnete.

Doch er erwartete sie bereits im Flur. »Wollen Sie reinkommen?«

»Sind Ihre Kinder da?«, fragte sie.

»Ja, Meta liegt im Bett und Wilko sitzt an seinen Hausaufgaben. Ich habe sie mir telefonisch geben lassen. Wäre ja noch schöner, wenn er ohne sie durchkommen würde, wenn er schon nicht am Unterricht teilnimmt.«

»Darf ich mit ihm reden?«

Jessen zögerte. »Ich habe bereits alles versucht, ihn zum Reden zu bringen, aber er schweigt.«

»Alles?«, erwiderte Anika scharf.

»Ich habe keine Gewalt angewendet. Ist nicht mein Stil. Zumindest nicht bei Kindern. Kann ich ruhig sagen. Meine Akte kennen Sie sicher.«

Nein, die kannte Anika nicht. Röder hatte sie bisher nicht erwähnt.

»Also, was ist nun? Wenn wir Licht in die Angelegenheit bekommen wollen, ist es wichtig, dass …«

»Wilko. Die Frau von der Polizei will mit dir reden«, rief Jessen und riss eine Tür auf. Gleich darauf stand der Junge zitternd vor ihr.

»Wir gehen ins Wohnzimmer«, forderte Jessen die Polizistin auf, doch Anika winkte ab. »Ich würde gerne mit Wilko allein sprechen, wenn Sie mir die Erlaubnis geben. Wir könnten das in seinem Zimmer erledigen.«

»Wenn Sie meinen, dass es hilft – bitteschön.« Jessen trat einen Schritt zurück und zeigte auf die offene Kinderzimmertür.

Wilko setzte sich auf sein Bett, und die Polizistin quetschte sich auf den schmalen Kinderstuhl vor Wilkos Schreibtisch. »Möchtest du mir erzählen, wie du Herrn Diesterweg kennengelernt hast und was euch verbindet?«

Wilko nickte, dann begann er flüsternd. »Das war, als meine Eltern rumgeschrien haben, weil Mama immer weg ist wegen ihrer Arbeit. Und wenn sie zu Hause ist, soll sie kochen, hat Papa gesagt. Aber er sagt auch, dass sie nicht gut ist, und wenn sie das nicht bald lernt, haut er ab.«

»Und – kocht deine Mama denn so schlecht? Schmeckt es euch Kindern auch nicht?«, hakte Anika ein.

Jetzt stahl sich ein kleines Lächeln über das Gesicht des Jungen. »Wenn meine Mutter mal kochen muss, dann schlage ich immer vor, dass ich Pizza kaufen gehe. Das klappt fast immer. Sie kann einfach nicht kochen. Daher macht das der Papa. Das schmeckt irgendwie normal. Ich habe immer gedacht, das Essen muss so – langweilig schmecken. Aber seitdem ich mit Elmar koche, weiß ich, wie es auch anders geht. Soll ich Ihnen mal sagen, was wir schon gekocht haben? Labskaus. Das war superklasse. Und nicht etwa mit Corned Beef. Elmar hat gesagt, das nehmen nur die, die keine Lust haben, richtig zu kochen. Nein, wir haben gepökeltes Rind- und Schweinefleisch zerkleinert. Und Matjes und Gurken auch. Dazu haben wir einen Salat aus Brennnessel, Feldsalat und Löwenzahnblättern gemacht. Ganz frisch. Und die Soße dazu – total lecker.«

Anika wusste, dass es besser wäre, den Jungen nicht zu unterbrechen, dennoch winkte sie ab. »Habt ihr außer Kochen sonst Dinge miteinander gemacht?«

Wilko zögerte. »Ja, aber das war nicht schön.«

»Was war es?«, fragte Anika gespannt.

»Nichts. Eigentlich war es nichts«, erwiderte Wilko traurig.

»Bitte, Wilko.« Anika hoffte so sehr, dass der Junge sich öffnete. Dann hatten sie endlich etwas Verwertbares in der Hand.

»Na gut. Wir haben zum Beispiel ›Mensch ärgere Dich nicht‹ gespielt und Elmar hat jedes verdammte Mal gewonnen!« Wilko war aufgesprungen. »Es ist nur ein Spiel und man gewinnt mit Glück. Aber die verdammten Würfel wollten nie so wie ich!«

Anika konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Wenn das wirklich alles war …

»Also wolltest du …«

»Ja, ich wollte kochen lernen und das Mama beibringen. Im Treppenhaus roch es immer so lecker, und ich habe Mama gefragt, ob sie nicht mal bei Elmar was lernen kann, aber sie hat nur gelacht. Darum musste ich das machen! Damit ich ihr das beibringen kann und Papa nicht mehr meckert. Und wenn ich die doofe Schule aushabe, werde ich Koch!«

»Das ist eine gute Idee«, freute sich Anika. »Gibt es noch etwas, was du an Herrn Diesterweg magst?«

»Ja. Wenn ich traurig bin, und ich meine nicht traurig, wie nach dem ›Mensch ärgere Dich nicht‹ Spiel, sondern richtig traurig, dann setzen wir uns zusammen auf das Sofa und er erzählt mir Geschichten aus der Zeit, wo er in Amerika gewohnt hat und so. Das ist schön.«

»Setzt sich dein Papa denn nicht mal mit dir gemütlich auf das Sofa?«

Wilko schüttelte traurig den Kopf. »Papa nie. Der meckert immer nur. Manchmal nimmt er Meta in den Arm, weil die noch kleiner ist. Sagt er. Und Mama merkt einfach nicht, wenn es mir nicht gut geht. Außerdem hat die nie Zeit.«

»Dann sage mir, was es mit diesem ominösen Satz auf sich hat. Wer leben will, muss töten, oder so ähnlich.«

Wilko schaute sie ernsthaft an. »Das ist nun mal so. Wenn wir ein Schnitzel essen, muss vorher das Schwein getötet werden. Das weiß doch jeder.«

»Hat Herr Diesterweg schon einmal in deinem Beisein Tiere getötet?«

Wilko schwieg, dann schüttelte er kaum wahrnehmbar den Kopf. »Nein«, hörte Anika ganz leise.

Anika stand auf. »Danke für deine Offenheit. Darf ich das deinem Vater erzählen?«

»Nein, besser nicht. Aber eigentlich ist es auch egal. Der lässt mich sowieso nicht mehr zu ihm, so sauer wie der ist.« Wilko nahm sein Kopfkissen, knuddelte es zusammen und warf es auf den Boden. »Aber dann gehe ich heimlich. Papa merkt doch sowieso nicht, wenn ich weg bin. Und Mama erst recht nicht.«

Anika konnte das traurige Gesicht des Jungen kaum ertragen. »Bitte, Wilko. Lass ein wenig Ruhe einkehren. Vielleicht besinnen sich deine Eltern und alles wird besser.«

»Wenn Sie meinen!« Es klang nicht sehr viel Zuversicht in Wilkos Stimme. Aber dann fügte er an: »Ich denke darüber nach. Danke fürs Zuhören.«

Anika stand auf. »Okay. Ich schaue mal. Tschüss, Wilko.«

Auf dem Flur stand Wilkos Vater und schaute sie auffordernd an. Sie wusste, was er hören wollte, doch sie fragte nur: »Wollen Sie etwas unternehmen?«

Hans Jessen schüttelte den Kopf. »Bringt doch nichts. Wegen einer toten Gans in der Verlandungszone wird kein Verfahren eröffnet, nicht wahr?«

Sie verließ die Wohnung, ohne sich zu verabschieden. Wilko und auch seine Schwester taten ihr unendlich leid. Nur weil die Erwachsenen Stress hatten, mussten die Kinder es ausbaden. Aber sie wusste, es ging noch schlimmer. Es gab Kinder, die konnten nichts mehr ausbaden, weil sie nicht mehr lebten.

Sie ging die Treppe hoch zur nächsten Tür und klingelte. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann stand Elmar Diesterweg, angetan mit einer bunten Schürze, vor ihr und lachte sie an. Das Lachen erstarb jedoch sofort, als er erkannte, wen er vor sich hatte. »Entschuldigung, ich dachte, es wären die drei Damen vom Kochclub«, Er zog nervös an der Schleife, die die Schürze auf seinem Rücken zusammenhielt. »Heute Abend geht es um die Zubereitung von frischen Smoothies und Cocktails.«

»Ich habe ein paar Fragen«, erklärte Anika. »Aber wenn es jetzt nicht passt …«

»Nein, nein, kommen Sie herein.« Er warf die Schürze auf ein kleines Schränkchen im Flur. »Ich würde Sie gerne ins Wohnzimmer bitten, aber eigentlich müsste ich in die Küche. Ich bereite einiges vor. Die Damen müssten … Darf ich meine Schürze …«

»Herr Diesterweg, nun mal ganz ruhig. Wir gehen in die Küche, Sie arbeiten und ich schaue Ihnen zu. Dabei beantworten Sie mir die eine oder andere Frage. Wäre das in Ordnung?«, schlug Anika vor.

Diesterweg nickte und führte sie in einen modernen Raum, der von einer großen Kochinsel und darüber von einer ebenso gewaltigen Abluft dominiert wurde. »Hier ist mein Arbeitsplatz.« Er zeigte stolz in die Runde.

»Ich bin beeindruckt«, gab Anika zu, konnte sich jedoch eine Frage nicht verkneifen. »Warum riecht es denn im Treppenhaus immer so nach Essen, wenn Sie hier das Beste vom Besten installiert haben?«

»Tja. Die Antwort ist: Kommen Sie mal her!« Er zeigte auf ein Rohr, das durch die Wand nach draußen führte. »Hier ist meine Abluft. Alles, was da rausdünstet, kommt genau in der Ecke neben dem Flurfenster an. Und jedes Mal, wenn die Klinker das Fenster aufreißt, wird es nur schlimmer im Treppenhaus. Es hat übrigens eine Weile gedauert, bis ich das System begriffen hatte.«

Anika schaute den Mann verwundert an. »Aber warum das alles? Das hätten Sie längst ändern können!«

Diesterweg lächelte. »Lassen Sie einem Mann sein Geheimnis. Außerdem finde ich gar nicht, dass es im Treppenhaus stinkt. Ich finde den Geruch sehr angenehm. Wäre doch auch ziemlich niederschmetternd für meine Kochkünste, wenn ich anders denken würde. Aber wahrscheinlich wollten Sie mir ganz andere Fragen stellen, oder?«

»In der Tat. Was war heute auf dem Heller los?«

Elmar Diesterweg nahm ein paar Möhren und schrubbte sie unter dem laufenden Wasserhahn sauber. Dann zeigte er der Polizistin eine Schüssel, in der grüne, gummiartige Stücke lagen. »Da. Queller. Den habe ich mit Wilko gesammelt. Sicher hätte ich nachhaken müssen, ob die Schule wirklich ausfällt, aber er hat es mir glaubhaft versichert.«

»Haben Sie die Gans getötet?«

»Nein. Ich habe auch nicht den geringsten Schimmer, warum sich die Polizei dafür interessiert.«

»Nonnengänse stehen unter strengstem Schutz.«

»Ich weiß. Ich habe keine Ahnung, warum sie kopflos dort herumlag. Ich glaube, Sie gehen besser«, sagte der Mann und begann nun eine Zwiebel in rasender Geschwindigkeit in kleine Stücke zu zerteilen. Plötzlich schrie er auf. Anika sah Blut aus seinem Zeigefinger laufen. »Das haben Sie jetzt davon«, schrie er weiter. »Verdammt, ich muss gleich dieses Essen zubereiten.«

»Kann ich Ihnen ein Pflaster holen?«, fragte Anika, als sie sah, dass das Bluten nicht aufhörte.

»In der Schublade.«

Anika schob die Lade auf und fischte ein Pflaster heraus. Sie hoffte, dass es die richtige Größe hatte, zog das Papier ab und verarztete Diesterwegs Finger.

»So, bevor die drei Damen kommen, sage ich Ihnen etwas und dann gehen Sie: Ich mag Wilko sehr und freue mich, dass er sich so für das Kochen interessiert. Genau, wie ich mich auf die Gäste freue, denen ich mein Wissen weitergeben kann.«

»Wie auch immer – ich kann Ihnen nur raten, den Kontakt zu dem Jungen zu beenden. Seine Eltern sind dagegen. Zumindest, bis sich die Sachlage geklärt hat«, forderte sie den Mann eindringlich auf.

»Das Leben ist kurz, man muss das Beste draus machen.« Sehr zu Anikas Erstaunen lächelte Diesterweg sie freundlich an.

Sie hatte nicht die geringste Ahnung, was er damit sagen wollte, hatte jedoch das Gefühl, dass er ihr den tieferen Sinn hinter seinen Worten nicht erklären würde.

Diesterweg hatte die Küchentür geöffnet und zeigte in den Flur. »Sie finden allein raus? Ich habe zu tun.« Er nahm ein Messer aus der Schublade. »Ich muss Kräuter aus dem Garten holen. Für die Smoothies.«

Was sollte sie machen? Einfach gehen? Es gab keinen Grund für weitere Befragungen. Im Hausflur nahm sie ihr Notizbuch heraus. Sie würde mit Röder die Sache besprechen. Ebenso würde sie nach Jessens Akte fragen. Auch dazu machte sie eine kurze Notiz, steckte das Büchlein wieder ein und verließ das Haus. Ein Zusammentreffen mit der Mieterin von oben brauchte sie nicht mehr.

Was sie jedoch dringend brauchte, war Nahrung. In welcher Form auch immer. Ihr wurde klar, dass sie seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte und nichts Greifbares in der Dienstwohnung finden würde. Sie hatte schlichtweg vergessen einzukaufen. Kochen war sowieso nicht unbedingt ihre Leidenschaft. Wie der Diesterweg sich ständig damit beschäftigen konnte, war ihr schleierhaft. Essen diente dazu, den Körper auf Trab zu halten und nicht, stundenlang in einem Restaurant auf ein Häppchen nach dem nächsten zu warten und zum Schluss halbhungrig 200 Euro auf den Tisch zu blättern. So war es ihrer Freundin passiert. Die schwärmte heute noch davon.

Vielleicht sollte sie auch mal bei Diesterweg in die Lehre gehen, um ihren kulinarischen Horizont zu erweitern. Aber erstens war der Verdacht der illegalen Tiertötung nicht vom Tisch und zweitens hatte sie keine Ahnung, ob Diesterweg wirklich so gut in seinem Fach war. Stattdessen holte sie sich im »Inselmarkt« eine Reispfanne. Das musste für den Abend reichen.

Doch als ihr Telefon klingelte, ahnte sie, dass ihre Reispfanne warten musste. Sie sollte recht behalten.

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25 mayıs 2021
Hacim:
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9783839262467
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