Kitabı oku: «Glaube Liebe Stigmata», sayfa 6

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KAPITEL 9

Adelia saß in der Mitte der kleinen Covenant-Kirche mit den zarten Säulen und der geschnitzten Dachkonstruktion und betete. Am Altarraum hingen noch Lorbeergirlanden von der letzten Hochzeit, die ein paar Tage zuvor wohl zelebriert worden war. Adelia neigte den Kopf. Der Brand von Saint Thomas war, als wäre ihr Zuhause in Flammen aufgegangen und ließ sie immer noch zittern. Dazu noch das Verhalten ihrer Familie, unfassbar, wie sie ihren Geschäften und alltäglichen Dingen nachgingen, als wäre nichts geschehen. Wie konnte man nur so kalt sein? Adelia erzitterte. Sie sah kurz zu Signora Rinaldi, die eine Reihe hinter ihr saß, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen. Schlief sie? Sie schien vollkommen ruhig zu sein. Aber dies war eine Baptisten-Kirche, die Signora war Katholikin, vielleicht beeindruckte sie dieses Gotteshaus nicht. Katholiken waren ja so eigen, was ihre Kirchen und ihre Gebete anging. Adelia erhob sich und räusperte sich. Signora Rinaldi schreckte hoch, bekreuzigte sich und folgte ihr auf die Fifth Avenue zurück.

Einen Block vor Saint Thomas beschleunigte Adelia ihren Schritt und ging auf einen der Feuerwehrleute zu.

»Contessina, was tun Sie da?«, rief Signora Rinaldi ihr hinterher. Sie humpelte, seit sie wieder aus der Convenant-Kirche getreten waren, und jammerte in einem fort über den langen Weg nach Hause. Adelia hatte nicht mehr auf sie warten wollen. »Wir müssen doch auf die andere Straßenseite.«

»Gehen Sie ruhig vor, Signora«, sagte Adelia, ohne sich umzudrehen, »ich komme gleich nach.« Sie erreichte einen Feuerwehrmann, der einen der Schläuche aufrollte. Sein Gesicht war vom Ruß ganz verschmiert. »Sir, darf ich Sie kurz stören?« Der Gestank vor der geschwärzten Kirche nahm ihr kurz den Atem, ihre Augen tränten und der Hustenreiz stieg in ihrer Kehle auf.

Der Mann drehte sich zu ihr. »Ma’am, das ist nicht der richtige Moment. Und Sie gehören schon gar nicht hierher. Gehen Sie lieber nach Hause, bevor wieder ein Stück der Fassade herunterkommt.« Er zeigte auf den Giebel der Kirche. Die obere Spitze fehlte, auf den Stufen vor den Eingangstüren lagen zerbrochene Steinbrocken.

»Um Gottes willen!« Adelia machte einen Schritt zurück. »Bitte! Wie sieht es in der Kirche aus? Hat sich jemand verletzt?«

»Wüst sieht es aus, Ma’am.« Der Mann schob den Helm in den Nacken und wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Ruß und Schweiß bildeten graue Streifen wie aufgemalte Sorgenfalten. »Der Dachstuhl ist über die gesamte Länge eingestürzt, das Gestühl und der Altar sind nur noch ein Haufen Asche. Die Fenster sind allesamt zerborsten. Zum Glück war kein Mensch im Gebäude, als der Brand ausbrach. Also keine Personenschäden.«

»Zum Glück.« Adelia seufzte. »Aber das Kruzifix? Was ist mit dem Kruzifix? Konnten Sie es retten?«

Der Mann schüttelte den Kopf. Er sah müde aus. »Der Brand ist auf dem Altar ausgebrochen. Jemand hat gestern Abend nach der Messe eine Kerze vergessen. Das Kruzifix darüber wirkte wie Zunder und hat die Flammen noch angefacht. Es ist nichts mehr davon übrig.« Er warf die Schlauchrolle auf den Feuerwehrwagen.

Der Druck legte sich mit aller Macht wieder auf Adelias Schultern. Das Kruzifix war zerstört. Jesus war ein zweites Mal gestorben. »Danke für Ihre Mühen«, sagte sie mit kratziger Stimme. Sie schluckte die Tränen hinunter. »Kann ich irgendwie helfen?«

»Nein, Ma’am. Hier ist nichts mehr zu retten. Die Mauern sind einsturzgefährdet. Nur der Turm hat nichts abbekommen.« Er zog seine Arbeitshandschuhe aus, steckte sie in die Taschen seiner Jacke und zog eine Schachtel Zigaretten hervor. »Wollen Sie auch eine?« Er hielt Adelia die Packung hin. »Beruhigt die Nerven.«

Adelia wollte schon den Kopf schütteln, doch dann griff sie zu. Mit zitternden Fingern zog sie eine Zigarette aus der Schachtel und steckte sie sich zwischen die Lippen. »Danke«, presste sie heraus. Schon hatte der Feuerwehrmann ein Streichholz entzündet und hielt es an ihre Zigarette. Rote Glut leuchtete vor Adelias Nase auf, fast wäre ihr die Zigarette heruntergefallen. Sie sog den Rauch ein, es brannte und kratzte in ihrem Rachen. Ihre Lungen schienen zu bersten. Sie hustete, laut, würgend. So undamenhaft. Rasch nahm sie die Zigarette aus dem Mund, atmete tief durch.

Signora Rinaldi trat neben sie. »Contessina, was tun Sie da?« Ihre Stimme überschlug sich fast. »Sie können doch nicht einfach mit einem Unbekannten reden! Und auch noch rauchen. Auf der Straße … o Dio mio …« Der Schweiß lief der Signora die Schläfen hinunter. Ihre Frisur war zusammengefallen, der kleine Hut mit den billigen Kunstblumen verrutscht, der Saum ihres gestreiften Kleides war grau vom Schlamm der aufgeweichten Straße.

»Nicht aufregen, Ma’am«, sagte der Feuerwehrmann und nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette. »Ist ja nichts passiert. Und nach so einem Tag kann man schon mal eine rauchen, oder?«

»Ach, was erlauben Sie sich«, kreischte Signora Rinaldi und fasste Adelia am Ellenbogen. Resolut zog sie Adelia über die Straße und schob sie in den Hauseingang.

Vor den Stufen ließ Adelia die glimmende Zigarette fallen, streckte den Rücken durch und straffte die Schultern. »Sagen Sie Mutter bitte nichts von der Zigarette«, sagte sie.

Signora Rinaldi schüttelte den Kopf, ihr Hut wackelte. Langsam gingen sie hintereinander die Treppe hoch.

»Mutter, wir sind zurück«, verkündete Adelia, als sie in den Salon trat. Könnte sie sich doch nur gleich auf ihr Zimmer zurückziehen, ohne Mutters Getue auch nur eine Sekunde ertragen zu müssen. Bestimmt würde sie wieder an ihrer Kleidung herumnörgeln.

»Kind, wo warst du? Und was hast du da an den Füßen?« Mutter warf ihr einen prüfenden Blick zu. »In nicht mal einer Stunde kommt die Schneiderin zur Anprobe. So kannst du sie nicht empfangen. Bitte mach dich sofort frisch.«

Eigentlich war jede Erklärung sinnlos. »Ich war in der Covenant-Kirche und habe gebetet. Außerdem habe ich erfahren, dass niemand beim Brand verletzt wurde und der Turm unbeschädigt ist.«

»Kind, das ist ja sehr löblich, aber du solltest deine Studien nicht vernachlässigen. Die Tennisstunde hast du bereits geschwänzt, wie ich hörte. Das darf nicht wieder vorkommen. Signora Rinaldi, ist Ihnen nicht wohl? Möchten Sie ein Glas Wasser?« Mutter erhob sich und ging ihr entgegen.

Signora Rinaldi stand mit blassen Wangen und leerem Blick in der Tür. »Sì … äh … ja, danke, das wäre sehr freundlich«, stieß sie hervor. »Darf ich mich einen Moment setzen? Ich breche auch gleich wieder auf. Aber ich konnte die Contessina ja nicht allein nach Hause gehen lassen …«

»Gehen? Was soll das nun wieder heißen?« Mutter sah Adelia mit zusammengekniffenen Augen an.

Noch mehr nutzlose Erklärungen. »Na, das, was die Signora gesagt hat. Wir sind gelaufen, weil doch die Kreuzung gesperrt war. Dieser Spaziergang hat aber gutgetan, nicht wahr, Signora Rinaldi?« Adelia drehte sich zur Signora und formte mit den Lippen tonlos die Worte: ›Sagen Sie ja nichts Falsches.‹

Mit einem tiefen Seufzer ließ sich Signora Rinaldi auf einen der Stühle fallen. »Sì, Contessina, nur diese Hitze …« Sie fächelte sich mit der Hand Luft zu.

»Kind, du kannst doch nicht einfach durch die Straßen laufen. Das schickt sich nicht, und dann noch in diesen Schuhen. Manhattan ist doch kein Tennisplatz! Was sollen denn die Leute denken, wenn sie dich so sehen?«

Typisch Mutter. »Nichts«, sagte Adelia, während sie an dem Glockenstrang zog. Rosa eilte herein. Adelia bat sie, Wasser und Limonade für Signora Rinaldi zu bringen. »Die Menschen da draußen haben wahrlich andere Probleme«, fügte Adelia an.

»Das mag ja sein«, erwiderte Mutter, »aber du musst auch an unseren Ruf denken. Gerade bin ich noch mal die Gästeliste für euren Debütantinnenball im Sherry’s Ende September durchgegangen. Zweihundert Persönlichkeiten der besten Gesellschaft New Yorks haben zugesagt. Endlich werden Lizzy und du eingeführt. Es wird aber auch Zeit, wir müssen schließlich einen Mann für dich finden. Du bist immerhin schon achtzehn.«

Rosa brachte ein Tablett mit Wasser und Limonade, dazu Gebäck und Weintrauben. Sie stellte alles auf den Tisch, schenkte Signora Rinaldi ein Glas Wasser ein, das diese in einem Zug leerte.

»Mutter, bitte. Dieser Ball interessiert mich nicht. Ich will keinen von diesen steifen Bücklingen, die nur ein hübsches Accessoire an ihrer Seite haben wollen. Dafür lerne ich doch nun wirklich nicht lauter Fremdsprachen, oder? Zu irgendwas müssen diese Kenntnisse doch gut sein. Ich will damit etwas machen, ich will arbeiten, ich will helfen … Was brauche ich dafür einen Ball, auf dem ich wie auf dem Markt verschachert werde?« Ausgerechnet an so einem Tag sollte sie auch noch über künftige Ehemänner nachdenken, die sie sowieso nicht wollte. Sollte sie je heiraten, so würde sie nur einen Mann nehmen, den sie wirklich liebte, und nicht einen, der nach Mutters Ansicht über genügend Ansehen und Vermögen verfügte.

Signora Rinaldi steckte eine Haarsträhne unter ihren Hut und erhob sich: »Bene, grazie. Ich gehe. Bis nächste Woche also …«

»Liebe Signora Rinaldi«, sagte Mutter. »Nicht nächste Woche. Wir bringen die nächsten vier Wochen auf unserem Landsitz zu. Im August ist die Hitze in der Stadt ja nicht zu ertragen. Hatte Hensley Sie nicht darüber informiert?«

»Ah, sì … ja, natürlich doch. Bitte verzeihen Sie, diese Ereignisse heute haben mich ganz durcheinandergebracht.« Sie seufzte. »Ja, also dann in der ersten Septemberwoche, nicht wahr? Und Contessina, lesen Sie in der Zeit, per favore, ein bisschen Manzoni. Einen schicklichen Klassiker, nicht immer dieses neumodische Zeug. Das gehört zu einer anständigen Bildung in der italienischen Kultur dazu.«

»Ja, Signora Rinaldi, das mache ich«, sagte Adelia, während sie ihr die Hand reichte. Diese Promessi Sposi waren zwar ein alter Schinken, aber Lucias Treue zu Renzo, die allen Widrigkeiten trotzt, und ihre tapfere Unschuld, mit der Lucia einen Bösewicht zum Glauben bekehrt, berührte Adelia mit jeder Zeile.


KAPITEL 10

Eine Woche später brach Papà auf. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Gleich nach dem Frühstück, einem Milchkaffee und zwei trockenen Keksen, nahm Papà sein Bündel, strich den Mädchen über die Haare, klopfte Matteo auf die Schulter, küsste Mamma innig. Er blickte Francesco tief in die Augen und sagte kein Wort. Francesco sah ihm nach, bis er am Ende der Gasse um die Ecke bog. Hinter ihm zog der Müller seinen Karren mit den Mehlsäcken auf den Markt. Er war spät dran, denn die Stände waren längst aufgebaut und die ersten Frauen kamen bereits mit ihren vollen Körben zurück.

»Guten Morgen, Francesco«, sagte die dicke Nunzia von gegenüber. »Ich hab gerad deinem Vater ne gute Reise gewünscht. Is bestimmt nich leicht für euch, oder?«

Francesco nickte nur und lehnte sich mit dem Rücken an den Türrahmen. Er starrte auf seine nackten Füßen, bis Nunzia endlich begriff, dass er nicht reden wollte, und in ihrem Haus verschwand.

Papà war weg. Vielleicht kam er nie wieder. O Herr, beschütze ihn auf seiner langen Reise. Halte deine Hand über ihn. Geleite ihn auf allen Wegen. Und mach, dass er uns nicht vergisst und wieder zu uns zurückkommt. Die Wunde am Zeh war verheilt, aber die Holzpantinen hatten im Winter gescheuert und helle Narben auf den Fußrücken hinterlassen. Du brauchst nicht zu beten. Das hilft nicht. Francesco zuckte zusammen. Du bist schuld. Du und deine Halsstarrigkeit. Was willst du auch Mönch werden? Hältst dich für was Besseres! Anmaßung. Sünde. Dafür zahlt Papà Schulgeld. Für dich, einen anmaßenden, kleinen Sünder. Dafür muss er nun nach Amerika. Über den gefährlichen Ozean. Vielleicht kommt er dabei um. Dann hast du sein Leben auf dem Gewissen. Francesco schluckte. Ave Maria … Ave Maria, gratia plena, Dominus tecum. Du bist schuld. Benedicta tu in mulieribus, et benedictus fructus ventris tui, Iesus. Du bist schuld. Sancta Maria, Mater Dei, ora pro nobis peccatoribus nunc et in hora mortis nostrae. Amen.

Nach drei Ave-Maria schwieg die Stimme. Francescos Knie zitterten, ein flaues Gefühl breitete sich in ihm aus. Er rutschte an dem Türrahmen hinunter und setzte sich auf die kalten Pflastersteine. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.

Chiara trat neben ihn. »Was ist mit dir?«, fragte sie. »Wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät zu Signor Caccavo.«

»Ich … mir ist schlecht … ich glaub, ich werd krank«, sagte er, während er die Beine anzog und umschlang.

»Du bist ganz bleich im Gesicht. Bleib doch zu Hause und leg dich ins Bett.« Chiara strich sanft über seine Stirn.

»Aber dann schimpft Mamma. Nein, ich komm mit in die Schule.« Francesco stemmte sich hoch. Alles drehte sich.

Nur mit Mühe konnte Francesco dem Unterricht bei Signor Caccavo folgen. Sie lasen das Märchen von Blaubart, nachdem Serafina nicht schon wieder die Vita des heiligen Franz nacherzählen wollte. Francesco sah den blauen Bart des Mannes vor sich, das Blut der ermordeten Ehefrauen, den kleinen goldenen Schlüssel, die Pfeife. Was bedeutete das alles? Warum hatte Signor Caccavo diese Geschichte ausgewählt? Sie war sündig und grausam. Erschöpft kehrte Francesco nach Hause zurück. Er schwankte. Er schwitzte.

Mamma legte ihm die Hand auf die Stirn und schickte ihn ins Bett.

Er stützte sich an der Wand ab, als er die Treppe hinaufstieg. Seine Beine waren schwer wie die Mehlsäcke vom Müller. Ihm war als läge ein Holzbalken über seinen Schultern und drückte ihn nieder. Die Treppe schien kein Ende zu nehmen. Endlich erreichte er das Schlafzimmer und kroch unter die kühlen Laken. Das gleißende Mittagslicht fiel zwischen den Lamellen der Fensterläden hindurch und zeichnete Streifen auf die Terrakottafliesen. Francesco wälzte sich hin und her. An der Zimmerdecke wuchs ein Schatten, er hatte die Umrisse von Blaubart, er färbte die Wände blau und starrte Francesco an. Mit Papàs Augen sah Blaubart ihn an, aber Papà hatte keinen Bart, der war von Signor Caccavo. Francesco tastete auf dem Laken, aber er fand die kleine Pfeife nicht, mit der er hätte Hilfe holen können. Blut tropfte von Blaubarts dürren Fingern, es zerrann auf dem Fußboden, sickerte zwischen die Fliesen, färbte sie noch röter. Immer näher kam Blaubart, war über Francescos Bett, beugte sich zu ihm herunter und entblößte spitze Zähne. Büßen musst du, kleiner Sünder, zischte er, büßen für deine Sünden. Blaubart hielt ein Schwert. Blut tropfte. In der Hölle sollst du schmoren, für deine Sünden. Blaubart holte aus.

»Nein!« Francesco zuckte zusammen. Er atmete heftig. Immer noch fand er die Pfeife nicht. Es war nass unter ihm, und seine Beine hingen fest. Er kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf, er lag in seinem Bett. Die nassen Laken hatten sich um seine Knöchel geschlungen. Draußen ging gerade die Sonne unter und tauchte die Kammer in orangenes Licht. Blaubart war weg.

»Francì, was ist?« Mamma kam zur Tür herein.

Francesco setzte sich auf. »Blaubart wollte mich holen. Und alles war voll Blut. Ich will nicht in die Hölle!«

»Ach, Francì, das hast du dir nur eingebildet.« Mamma legte ihm die raue Hand auf die Stirn. »Du bist immer noch heiß. Ich mach dir Wadenwickel. Komm, leg dich wieder hin.«

Mammas Hand war kühl. Francesco sank in das Kissen zurück und zog das Laken über sich. Als er die Augen schloss, stand Mamma auf. Die Tür quietschte.

Vor dem Fenster gackerten die Hühner. Aus der Ferne drang das Rufen der Arbeiter herein, die vom Feld nach Hause kamen. Ein Esel, vor einen Karren gespannt, schrie. Seine Hufe hallten zwischen den Hauswänden, es rumpelte lange und laut. Francesco dröhnte es in den Ohren. Mamma kam zurück, zog das Laken weg und wickelte ihm nasse, kalte Tücher um die Waden. Er atmete auf. Alles würde gut. Mamma machte ihn wieder gesund. Blaubart konnte gegen Mamma nichts ausrichten. Wieder fühlte er ihre kühle Hand auf der Stirn. Sanft strich sie ihm die Haare zurück.

»Schlaf, Francì. Morgen ist alles wieder gut. So Gott will.«

In der Früh schaffte Francesco es kaum um das Haus herum zum Abort. Seine Beine zitterten, sein Magen krampfte sich zusammen. Er musste sich am Türpfosten festhalten. Kälte kroch in ihm hoch, und er fing an zu zittern. Über dem Loch im Boden summten die Fliegen, der Gestank und der Schimmel an den Holzwänden ließen ihn würgen. Als er den düsteren Austritt verließ, musste er blinzeln, so blendete ihn das Licht, dann schleppte sich ins Haus zurück. Mamma half ihm ins Bett und deckte ihn wieder zu. Sie stellte ihm ein Wasserglas auf den Nachttisch. Kaum lag Francesco, wich der Schüttelfrost, ihm wurde heiß. Unruhig wälzte er sich hin und her. In der Hölle sollst du schmoren, zischte Blaubart. Büßen musst du, büßen. Für deine Sünden. Papà ist fort, wegen dir. Und er kommt nie wieder. Blaubart riss den Mund auf. Sein Bart wogte. Wände, Decke, Laken färbten sich blau, wieder sickerte Blut aus allen Ritzen, Löchern und Fugen. Francesco riss den Arm vors Gesicht. Seine Hand traf auf etwas Hartes, Glattes. Das Glas flog vom Nachttisch.

Francesco schreckte hoch. Der Vollmond tauchte das Zimmer in fahles Licht. Das Kruzifix über dem Bett von Mamma und Papà funkelte. Er kniff die Augen zusammen, blinzelte. Bewegte sich in der Ecke etwas? Es quietschte. Mamma drehte sich in ihrem Bett um. Das zerspringende Glas hatte sie nicht geweckt. Francesco zog die Beine an und umschlang die Knie. Er schaukelte vor und zurück. Wenn er nicht hinsah, ließ Blaubart ihn vielleicht in Ruhe. Das Zittern fing wieder an, und Francesco klapperte mit den Zähnen.

»Pater noster, qui es in caelis«, murmelte er, »sanctificetur nomen tuum. Adveniat regnum tuum. Fiat voluntas tua, sicut in caelo, et in terra. Panem nostrum supersubstantialem da nobis hodie. Et dimitte nobis debita nostra, sicut et nos dimittimus debitoribus nostris. Et ne nos inducas in tentationem, sed libera nos a malo. Amen.«

Es raschelte, trippelnde Schritte liefen unter seinem Bett an der Wand lang. Er reckte den Kopf. Nur eine Maus. Sie verschwand in einer Ritze zwischen Tür und Fußboden. Er zitterte nicht mehr. Mamma schlief. Nichts bewegte sich. Das Zimmer war wie immer. Das Vaterunser hatte geholfen. Gott hatte geholfen. Langsam streckte sich Francesco wieder aus. Er hatte Blaubart vertrieben.

Es war der erste kühle Tag nach einem drückend heißen Herbst, als Francesco aufstand. Sechs Wochen lang hatte er im Bett bleiben müssen. Fieber und Schüttelfrost hatten sich abgewechselt. Nachts hatte Blaubart ihn heimgesucht und gequält, bis Gott ihn vertrieb. Mamma hatte alle drei Tage die Laken gewechselt und Francesco Reis und Kraftbrühe gekocht, was er besser vertrug als ölige Spaghetti.

Blass und auf wackligen Beinen kam er in die Küche.

»Mamma, kann ich eine Orange haben?«

»Natürlich, Francì, Chiara hat vorhin welche vom Markt mitgebracht.« Mamma nahm eine Frucht aus dem Körbchen auf dem Tisch, zog mit einem kleinen Messer die Schale ab und reichte Francesco die Spalten. Er setzte sich an den Tisch und aß einen nach dem anderen, bis ihm der Saft das Kinn hinunterlief.

Flora und Pasqualina lugten zur Tür hinein. Sie sahen anders aus, größer. Pasqualina trug ein altes Kleid von Flora, die wiederum einen Rock und eine Hemdbluse anhatte, in denen Chiara vor zwei Jahren immer herumgelaufen war.

»Geht’s dir wieder besser, Francì?«, fragte Pasqualina und hopste neben seinem Stuhl auf und ab.

Er nickte. »Ich habe euch vermisst«, sagte er. »Wo sind denn Chiara und Matteo?«

»Matteo ist noch auf den Feldern, der Mais ist reif, und er erntet schon seit drei Tagen«, sagte Mamma. »Chiara ist bei Silveria. Sie übt mit Chiara lesen, weil sie das doch schon kann.«

»Wie schön«, sagte Francesco. Silveria war Chiaras beste Freundin, und sie hatte schon mit sechs das Lesen gelernt.

»Salve! Jemand zu Hause?«, rief eine Stimme vor dem Haus, und einen Moment später trat der Postbote durch die offene Küchentür und blieb neben Flora stehen. Er hatte die speckige Postbotenkappe in den Nacken geschoben, dass seine Glatze sichtbar wurde.

»Signor Turi, was macht Ihr hier?«, rief Mamma.

»Na, was wohl? Ich bringe einen Brief.« Mit diesen Worten zog er einen Umschlag aus seiner Postbotentasche und wog ihn in der Hand. »Der kommt von weit her. Aus New York. Da ist eine ganz ulkige Briefmarke drauf.« Er wollte den Brief gar nicht weitergeben.

»Aus New York? Aus Amerika? Von Grazio?« Mamma riss ihm den verknitterten Umschlag aus der Hand. Sie drehte und wendete ihn. »Francì, lies vor! Ist er von Papà?« Sie hielt ihm den Brief hin.

Langsam nahm er den Umschlag und starrte auf die orange Marke. Sie zeigte ein merkwürdiges Männergesicht. Jefferson stand darunter. Und eine 50. Fifty cents und United States of America.

»Nun sag schon, Francì.«

Abgestempelt war der Brief vor drei Wochen in New York. An ›Donna Giuseppa Forgione, Vico Storto, 28, Pietrelcina (BE), Italy‹ stand vorn und auf der Rückseite: ›Grazio Forgione, general delivery, Post Office 1, New York, NY, USA‹. Post von Papà. Er war in Amerika angekommen. Er war nicht tot. Er lebte.

Francesco musste husten. »Ja, er ist von Papà«, sagte er leise.

»Endlich!«, rief Mamma und nahm den Umschlag wieder an sich. Ihre Hände zitterten, als sie ihn öffnete. Ein grüner Schein rutschte heraus und segelte zu Boden.

Pasqualina hob ihn auf. »Sieh mal, Mamma. Ist das Geld?«

»Ja, Schatz. Das ist Geld. Francì, wie viel ist das?«

Francesco las: »Fünf Dollar.«

»Ist das viel?« Pasqualina wedelte damit herum.

»Ich weiß nicht.« Francesco nahm ihr den Schein ab und legte ihn auf den Tisch, dort wo Papà immer gesessen hatte.

»Signor Turi, wisst Ihr, wie viel das ist?«, fragte Mamma.

Der Briefträger zuckte mit den Achseln. »Nee, nicht genau, aber ich schätze mal, das sind ungefähr fünfundzwanzig Lire.«

»O mein Gott, so viel Geld!«, rief Mamma.

»Sind wir jetzt reich?«, fragte Flora und trat an den Tisch. Mit den Fingerspitzen strich sie über den Geldschein.

»Na, reich würde ich euch jetzt nicht nennen«, sagte Signor Turi und lachte. »Wenn Ihr wollt, tausche ich Euch die Dollars in Benevento in Lire um, Donna Giuseppa.«

»Das würdet Ihr tun?« Mamma nahm den Schein vom Tisch und reichte ihn Signor Turi. »Möge Gott es Euch vergelten. Damit können wir die nächste Rate bei Signor Caccavo bezahlen und Chiara bekommt endlich neue Wäsche, die sie mit ins Kloster nehmen kann.«

Francesco griff nach dem Medaillon von Padre Carmelo und drückte es. Papà hatte geschrieben. Papà lebte. Er war kein Sünder.


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