Kitabı oku: «Karmische Rose», sayfa 3

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Alexander Wollenberg – 1956-1962

Das Geschäft seines Vaters lief sehr gut, jedoch hatte Alexander eher künstlerische Ambitionen und Andreas wollte auf die Ingenieurschule gehen. Wilhelm und Helene Wollenberg hatten Alexanders künstlerisches Talent nicht gefördert. Sie verstanden ihren Sohn nicht. Nach langen Diskussionen hatten sie sich schließlich geeinigt, dass er Drogist werden sollte. So hatte er eine Lehre absolviert und war jetzt dabei, sich mit seiner jungen Frau sein eigenes Geschäft aufzubauen.

Er hatte sie im Frühjahr 1956 auf einer Party in Düsseldorf kennengelernt und sich Hals über Kopf in sie verliebt. Vielleicht war es ihr mysteriöses Flair, das sie aufrechterhielt, indem sie nichts über ihre Vergangenheit erzählte. Alexander wusste nur, dass sie zuvor mit einem anderen Mann verlobt gewesen war. Sie erzählte ihm nie genau, aus welchen Gründen die Verlobung gelöst worden war, und ließ nur durchblicken, dass ihre Familie mit der Verbindung nicht einverstanden gewesen war.

Sie war neunundzwanzig Jahre alt und eine gewisse Torschlusspanik mochte auch dazu beigetragen haben, dass sie die Verbindung mit Alexander einging. Im Oktober 1960 heirateten sie.

Als im März 1961, auf dem Höhepunkt seines geschäftlichen Erfolges, bei seinem Vater Kehlkopfkrebs diagnostiziert wurde, geriet das familiäre Gefüge komplett durcheinander. Wilhelm war das Herz der Familie, ein Mann, in dem sich Intelligenz, Geschäftstüchtigkeit, Warmherzigkeit, Fleiß, Humor und Beliebtheit auf eine einzigartige Weise mischten. Seine Krankheit war glücklicherweise kurz. Helene brach nach seinem Tod im August 1961 völlig zusammen und es war klar, dass sie das Geschäft nicht alleine würde weiterführen können.

Alexanders junge Frau war gerade schwanger geworden. Sie hatte ihrem Schwiegervater noch mitteilen können, dass sie ein Kind erwartete, und er hatte sich sehr gefreut. Am nächsten Tag war er gestorben. Alexander und Andreas waren untröstlich und bei der sensiblen jungen Frau kamen alte Existenzängste wieder hoch. Da sie schwanger war, konnte sie keine Beruhigungsmittel nehmen, was ihren Zustand noch verschlimmerte.

Kurz darauf, im dritten Monat der Schwangerschaft, gab es einen schlimmen Streit zwischen ihr und Alexander, der ihr vorwarf, dass sie hysterisch sei und ihm nicht die Unterstützung gebe, die er von ihr brauche. In jenem Moment brannten bei ihr die Sicherungen durch. Sie bekam einen Panikanfall und musste von einem Arzt behandelt werden.

Als ihr Mann im Geschäft war, packte sie einen kleinen Koffer und verließ das Haus. Sie hinterließ keinen Abschiedsbrief, einfach nichts. Als Alexander ihr Verschwinden bemerkte, redete er sich zunächst ein, sie würde sicher nach ein paar Tagen wieder nach Hause kommen. Aber es war nicht so. Nach einer Woche meldete er sie als vermisst.

Er schöpfte in den nachfolgenden Wochen und Monaten alle Möglichkeiten aus, etwas über sie in Erfahrung zu bringen, ohne Erfolg. Auch seine Versuche, über den Verbleib seines Kindes Auskunft zu bekommen, führten ins Nichts. Er schaltete sogar einen Privatdetektiv ein, dessen Recherchen ebenfalls ohne Ergebnis blieben.

Schwankend zwischen Verzweiflung, Wut, Selbstvorwürfen und Resignation begann er an zu trinken. Schließlich fand er sich damit ab, dass er sein Baby wohl nie sehen würde. Es verging jedoch kein Tag, an dem er nicht mit Wehmut, Liebe und Sehnsucht an dieses Kind dachte, von dem er noch nicht einmal wusste, ob es eine Tochter oder ein Sohn war.

Sarah – April 2007

Es war stickig in dem nüchternen, neonbeleuchteten Gerichtssaal an diesem sonnigen Apriltag. Sarah hatte soeben Platz genommen und beobachtete die Menschen um sich herum. Da war ihre Anwältin – blond und mondän. Sie war Mitarbeiterin einer renommierten Stuttgarter Rechtsanwaltskanzlei. Als Sarah sie in diesem Moment sah, mit Sonnenbrille, Kostüm und einer Attitüde, die besser in ein Luxusrestaurant als in einen Gerichtssaal hineingepasst hätte, fragte sie sich, ob sie nicht doch besser einen anderen Anwalt gewählt hätte. Aber in Stuttgart war die Kanzlei Hartmann & Gebert die beste Adresse für Prozesse gegen Geldinstitute und außerdem wäre ein Wechsel zum jetzigen Zeitpunkt schwierig gewesen, zumal sie dann zu einer Kanzlei nach München hätte wechseln müssen, was mit noch mehr Aufwand verbunden gewesen wäre.

Die Zusammenarbeit zwischen den beiden Frauen hatte sich schon seit dem ersten Treffen im Oktober 2005 schwierig gestaltet. Sarah hatte immer das Gefühl, dass die Anwältin sie nicht wirklich verstand. Wenn sie versuchte, Frau Gebert die Motive darzulegen, aus denen heraus sie ihre Bank verklagt hatte, konnte sie sich nie ganz des Eindrucks erwehren, dass diese ihre Absichten nicht ganz begriff. Es war, als ob sie sich auf einer anderen Wellenlänge befand.

Die Anwältin hatte zwar keine gute Meinung von dem Geldinstitut, gegen das Sarah klagen wollte, aber sie war von Anfang an distanziert ihr gegenüber und sie zweifelte am Erfolg eines etwaigen Vorgehens gegen die Bank. »Vielleicht hätte ich nach diesem ersten Gespräch einen anderen Anwalt kontaktieren sollen«, dachte Sarah, als sie sich jetzt in dem grell beleuchteten Gerichtssaal wiederfand. Aber sie hatte entschieden, es mit dieser Anwältin zu versuchen.

Nun saß sie an diesem frühlingshaften Montag hier, atmete die muffige Atmosphäre ein und merkte, wie ihre eigentlich optimistische Grundstimmung ins Wanken zu geraten drohte. Der Richter, der vor ihr saß, war ein junger, gutaussehender Mann, der sich nonchalant gab. Sarah fragte sich, ob er genügend Erfahrung besaß, um ihre Geschichte richtig beurteilen und ein gerechtes Urteil fällen zu können.

Gerade betrat der Anwalt der Bank, begleitet von deren Assessorin, den Gerichtssaal. Er hatte ein rotes Gesicht und war übergewichtig – er sah aus wie jemand, der zu viel aß und trank und sich damit einen Ausgleich zu seinem Beruf schuf. Er bedachte Sarah mit einem Blick, als hätte sie ihn tätlich angegriffen. Es war ihr sofort klar, dass dieser Mann alles versuchen würde, um die Bank aus dem Schlamassel herauszuholen und Sarah und ihre Geschichte zu diskreditieren. Die Assessorin machte einen eher schuldbewussten Eindruck und versuchte, dies hinter einem möglichst neutralen Gesichtsausdruck zu verbergen. Außerdem waren noch Sarahs Ehemann und ihre beste Freundin im Saal.

Die Verhandlung begann. Der junge Richter räusperte sich. Er blickte Sarah mit einer Mischung aus Neugier und kaum spürbarer Missbilligung an. »Dann fangen Sie mal an zu erzählen, Frau Breuner. Und bitte, möglichst lückenlos.«

Sie holte tief Luft. Zwei Tage vorher hatte sie die letzte Besprechung mit Frau Gebert gehabt, die ihr erzählt hatte, der gegnerische Anwalt sei ein ›netter Mensch‹ und vor Gericht gehe es ›gesittet‹ und ›normal‹ zu. Nun, als sie die extrem angespannte und feindselige Atmosphäre im Raum spürte, fragte sie sich, ob die Anwältin ihr die Wahrheit gesagt hatte. Sie hatte Frau Gebert gefragt, ob sie noch etwas tun könne, um sich gut vorzubereiten, aber diese hatte lässig abgewinkt. Sarah solle einfach die Wahrheit erzählen.

So begann sie: »Im Mai 2004 beauftragte ich einen Privatdetektiv, nach meinen leiblichen Eltern zu forschen, nachdem ich einige Gespräche mit dem Jugendamt in Stuttgart und Berlin geführt hatte, in deren Verlauf mir mitgeteilt wurde, dass mir leider keine Auskünfte erteilt werden könnten.«

Sie hielt kurz inne und ließ die unangenehmen Gespräche Revue passieren, bei denen sie wie eine lästige Fliege abgewimmelt worden war mit den lapidaren Worten: »Mit Ihren Adoptiveltern wurde vereinbart, dass keinerlei Auskünfte über Ihre leibliche Familie erteilt werden dürfen.«

Weder Tränen noch Wut noch die Intervention ihres damaligen Anwaltes hatte etwas genutzt. Schließlich hatte sie in ihrer Verzweiflung einen Privatdetektiv beauftragt, der angeblich auf solche Fälle spezialisiert war.

Sie räusperte sich und fuhr fort: »Der Detektiv fing an, für mich zu arbeiten. Ich musste recht hohe Vorschüsse an ihn bezahlen. Nach einiger Zeit teilte er mir mit, dass er fündig geworden sei. Meine leibliche Mutter lebe wahrscheinlich in Argentinien. Wir vereinbarten, dass er in das Land reisen würde, um weitere Nachforschungen anzustellen.«

»Es wurden weitere Gebühren fällig, die ich alle von meinem Konto überwies. Eines Tages sah ich auf meinem Kontoauszug, dass ein Betrag von 45.000 € per Lastschrift von einem mir unbekannten Anwalt aus Argentinien eingezogen worden war, ohne dass ich eine Autorisierung dazu gegeben hätte. Ich ging sofort zu meiner Bank, um die Rückbuchung des Betrags zu veranlassen, aber ein paar Tage später teilte man mir lapidar mit, das sei leider nicht möglich.«

Sie schluckte trocken und merkte, wie die Gefühle von damals wieder in ihr hochstiegen – Ungläubigkeit, Entsetzen, Wut und Hilflosigkeit.

»Von dem Privatdetektiv habe ich nie wieder etwas gehört«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu.

Der Richter schaute sie zweifelnd an und fragte: »Frau Breuner, an welchem Tag hatten Sie denn das Gespräch in Ihrer Bank, um das Geld zurückbuchen zu lassen?«

»Am 3. Juni 2005.«

Sie hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, da sprang der gegnerische Anwalt auf und rief in feindseligem Ton: »Nein, das stimmt nicht. Es war der 30. Mai 2005.« Der Richter schaute Sarah an und als sie nichts sagte, diktierte er in sein Diktiergerät: »Die Zeugin hat sich im Datum geirrt.«

Sie fühlte sich verunsichert, denn sie war davon ausgegangen, dass die Geschichte als solche und nicht die genauen Termine und Uhrzeiten wichtig seien. Jedenfalls hatte ihre Anwältin ihr das so vermittelt. Wenn sie gewusst hätte, dass die Zeiten so wichtig waren, hätte sie sich eine Liste erstellt. »Vielleicht wäre das aber auch die Aufgabe von Frau Gebert gewesen«, dachte sie in diesem Moment.

Sie fuhr fort: »Ich hatte, nachdem der Detektiv in Buenos Aires angekommen war, telefonisch und per E-Mail mit ihm korrespondiert und die Gebühren überwiesen, die er von mir verlangt hatte. Zu dem Zeitpunkt war ich mir sicher, dass er vertrauenswürdig war.«

Dann machte sie eine kurze Pause, die der gegnerische Anwalt wiederum nutzte. »Wie konnten Sie nur so naiv sein«, stieß er in aggressivem Ton hervor.

Sarah fühlte sich in ihrer Glaubwürdigkeit angegriffen und blickte hilfesuchend zu ihrer Anwältin. Diese verfolgte das Ganze mit neutralem Gesichtsausdruck. Sarah fragte sich, warum sie nicht eingriff, denn sie fühlte sich zusehends unter Druck.

Der Höhepunkt der Befragung war erreicht, als der Richter wissen wollte, mit welchem Mitarbeiter der Bank sie das erste Gespräch über die Rückbuchung geführt hatte. »Mit meinem Kundenberater, Herrn Manfred Müller.« Der gegnerische Anwalt brüllte los: »Ich habe hier eine Erklärung von Herrn Müller, dass er zum fraglichen Zeitpunkt in Urlaub war. Ich werde Sie wegen Prozessbetrugs verklagen!«

Sarah war schockiert. Die Gespräche mit der Bank waren zwei Jahre her und sie hatte mit mehreren Mitarbeitern des Geldinstituts über die Rückbuchung gesprochen, nicht nur mit einem, war sich aber relativ sicher, dass sie das erste Gespräch mit Herrn Müller geführt hatte.

Sie fühlte sich immer unwohler und fragte sich, was in diesem Gerichtssaal für ein Spiel gespielt wurde. Immer noch griff ihre Anwältin nicht ein. Sarah spürte das Mitgefühl ihrer Freundin, die ihr schräg gegenüber saß, aber auch deren Verunsicherung, und gleichzeitig die Bestürzung ihres Ehemannes, der hinter ihr saß.

Nach zwei Stunden war die Befragung abgeschlossen und der Richter schickte Sarah nach draußen. Er würde als Nächstes den Hauptzeugen der Bank, Sarahs Kundenberater Manfred Müller, befragen. Als sie sich ermattet auf der Holzbank niederließ, fühlte sich ihr Kopf an, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen. Nach etwa zehn Minuten trat ihre Anwältin aufgebracht auf den Gang. Sie kam mit energischen Schritten auf sie zu und sagte: »Frau Breuner, ich muss Sie darauf hinweisen, dass die gegnerische Seite Sie wegen Prozessbetrugs verklagen kann, falls sich herausstellen sollte, dass das erste Gespräch in der Bank nicht mit Herrn Müller, sondern mit einem anderen Mitarbeiter geführt wurde.«

Sarah verstand weder den feindseligen Ton ihrer Anwältin noch wusste sie, was sie falsch gemacht hatte.

Sie wandte sich an Frau Gebert. »Man kann die Sache doch nicht einfach herumdrehen und die Anklägerin zur Beklagten machen.«

Die Anwältin verzog das Gesicht zu einer missbilligenden Grimasse. »Frau Breuner, Sie müssen sich jetzt sofort entscheiden, ob Sie den Prozess weiterführen oder aufhören wollen. Wenn Sie weitermachen, kann es sein, dass man Sie wegen Prozessbetrugs belangt.«

Sarah straffte sich, atmete durch und erwiderte mit fester Stimme: »Ich werde weitermachen.« Die Anwältin verschwand ohne ein weiteres Wort im Gerichtsaal.

Sarah setzte sich wieder auf die Holzbank. Ihr war schwindelig und sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen. Ihr Kopf war wie in Watte gehüllt. Sie schloss einen Moment die Augen und wünschte sich, einfach unsichtbar zu sein.

Das Öffnen der Türe zum Gerichtssaal riss sie aus ihren Gedanken. Die Anwältin bat sie in kühlem Ton, in den Gerichtssaal zurückzukehren. Sarah ging zu ihrem Platz. Der Richter verkündete, dass an diesem Tag noch kein Urteil ergehen werde, weil noch weitere Zeugen von der Bank vernommen werden sollten. Der neue Termin wurde auf November 2007 festgelegt. Die Verhandlung war beendet. Sarahs Anwältin verabschiedete sich knapp und ohne weitere Erklärungen oder gar aufbauende Worte für ihre Mandantin.

Als sie mit Helmut und Annelie auf der Straße stand, hielt ihr unwirkliches Gefühl an. Sie fühlte sich wie in einem Traum, aus dem sie gerne aufgewacht wäre, aber das war in diesem Augenblick anscheinend nicht möglich. Helmut musste zur Arbeit. Annelie versuchte, sie zu trösten, war aber selbst so betroffen, dass ihr dies nur begrenzt gelang. Nachdem die beiden Frauen zu Mittag gegessen hatten, brachte Sarah ihre Freundin zum Bahnhof und fuhr dann nach Hause. Sie fühlte sich so erschlagen, dass sie nicht fähig war, auch nur einen Handschlag zu tun.

Den Nachmittag verbrachte sie mit Kopfschmerzen auf dem Sofa. Als sie mit Helmut und ihrer Tochter Leonie beim Abendessen saß, brachte sie kein Wort heraus. Sie ging früh ins Bett, denn am nächsten Tag hatte sie einen vollen Terminkalender und wollte ausgeruht sein.

Sarah hatte seit etlichen Jahren eine gut gehende psychotherapeutische Praxis in Stuttgart. Sie liebte ihre Arbeit und nahm diese sehr ernst. Dazu gehörte für sie auch, dass sie ihren Klienten immer in einem souveränen und ausgeruhten Zustand begegnete. Klarheit, Präzision und Tiefgang machten die Qualität ihrer Arbeit aus und waren die Schlüssel ihres Erfolges.

Als sie am nächsten Tag erwachte, hatten sich die Kopfschmerzen noch verstärkt und sie dachte: »Irgendwie muss ich diesen Tag hinter mich bringen und dann brauche ich einen Termin bei meiner Supervisorin.«

Sie schaffte es, mithilfe von zwei Aspirin und großer Willensanstrengung ihre Aufgaben zu erfüllen. Als der letzte Klient ihre Praxis verlassen hatte, nahm sie ihre Autoschlüssel und machte sich auf den Weg zur Praxis von Geneviève, bei der sie glücklicherweise noch am gleichen Abend einen Termin bekommen hatte.

Sie schilderte die Erlebnisse vor Gericht, ihre Kopfschmerzen, das Gefühl, von ihrer Anwältin völlig im Stich gelassen zu werden, die Angriffe des gegnerischen Anwaltes und die undefinierbare Haltung des Richters.

Als Geneviève sie fragte, was das Schlimmste an dem Tag gewesen sei, brach Sarah in Tränen aus. »Die Kälte meiner Anwältin zu sehen und zu spüren, war das Allerschlimmste.«

»Und was hast du in dem Moment gedacht?«

»Ich habe mir gewünscht, unsichtbar zu sein.«

»Und an was erinnert dich das?«

Unter Tränen entgegnete Sarah: »An meine Adoptivmutter. Sie war auch so kalt zu mir. Und ich hatte immer Angst, dass sie mich angreifen würde.«

»Wenn das eine solch große Wunde ist, dann wäre es vielleicht gut, wenn wir eine Rückführung in deine Kindheit machen und schauen, wo und unter welchen Umständen diese Wunde entstanden ist. Was hältst du davon?«

Sarah nickte. Minuten später lag sie auf der bequemen Couch. Geneviève leitete sie an: »Atme tief durch, vergegenwärtige dir nochmals die Situation vor Gericht, und dann geh zurück in der Zeit, in deine Kindheit hinein und in die Situation, wo es die gleichen Gefühle gab.«

Schon als die Supervisorin angefangen hatte zu sprechen, war ein Bild aufgetaucht. Sarah sah sich als etwa zehnjähriges Mädchen neben ihrer Adoptivmutter auf einer Bank sitzend. Liselotte weinte und Sarah dachte: »Am besten wäre es, unsichtbar zu sein.«

Und dann war sie auch schon mittendrin in der Geschichte.

Sarah – Mai 1973

Es war ein ungewöhnlich heißer Pfingstsonntag. Sarahs Cousin Stefan war bei ihnen zu Besuch. Er war zwei Jahre jünger als sie. Liselotte, ihre Adoptivmutter, mochte ihn, da er der Sohn ihrer Schwester war und ein bisschen wie ein Ersatzsohn für sie. Sie schenkte ihm viel Aufmerksamkeit.

Heiner, ihr Adoptivvater, mochte ihn nicht, fügte sich aber wie immer den Wünschen seiner Frau. An diesem Tag wollten sie in ein Restaurant zum Spargelessen gehen. Als sie dort ankamen, sahen sie, dass es sehr voll war, und die Kellnerin teilte ihnen mit, dass sie entweder nur Spargelsuppe essen könnten oder ungefähr eine Stunde lang warten müssten, bis es wieder gekochten Spargel geben würde. Schließlich einigten sie sich darauf, noch eine Stunde spazieren zu gehen. Alle hatten Hunger.

Stefan wurde langsam missmutig. Liselotte sagte zu Sarah: »Kümmere dich um deinen Cousin.« Selbst Heiner verbarg seinen Unmut angesichts des Wartens nicht und als sie schließlich an einem Tisch im Lokal saßen, war die Stimmung gespannt.

Sie bestellten das Essen und die Getränke. Liselottes Gesicht war leicht gerötet und ihr Hals fleckig. Als Sarah diese Warnzeichen sah, bemühte sie sich noch mehr, ganz ruhig und brav zu sein. Plötzlich machte Stefan eine unglückliche Bewegung und schüttete dabei seine Limonade um. Ein Teil der Limonade ergoss sich auf Heiners Sonntagshose.

Er, der normalerweise friedlich war, begann zu brüllen. »Du blöder Hund!«, schrie er das Kind an. »Du ungezogener Bengel, du hast meine Hose versaut!« Stefan begann zu weinen. Liselottes Gesicht wurde noch röter. Sie sagte in scharfem Ton: »Halt den Mund, Heiner. Er hat es doch nicht absichtlich getan.«

Sarah merkte, dass die Gäste von den anderen Tischen zu ihnen herüberschauten, und sie fing an, sich schrecklich zu schämen. Indes eskalierte die Situation völlig. Stefan stand heulend vom Tisch auf und Liselotte fuhr sie an: »Lauf deinem Cousin hinterher und tröste ihn.« Sie stand auf und hörte gerade noch, wie ihre Mutter zu ihrem Vater sagte: »Diese Ehe mit dir ist nicht zum Aushalten. Ich werde mich scheiden lassen.«

Sarahs Bauch krampfte sich zusammen, als sie das hörte. Dann rannte sie Stefan hinterher. Er lief immer weiter vor ihr weg, bis er an einen kleinen Fluss kam. Dort machte er Halt, zog sich die Schuhe aus und wollte mit den Füßen ins Wasser. Sie hielt ihn zurück und sagte: »Das dürfen wir nicht. Wir haben doch unsere Sonntagsschuhe an. Und die dürfen wir nicht ausziehen.«

Er lachte sie aus und sagte in aufsässigem Ton: »Ist mir doch egal, was du darfst oder nicht darfst. Ich mache, was ich will. Deine Eltern haben mir gar nichts zu sagen.« Sie wurde langsam wütend auf ihn und dachte: »Meine Mutter wird mich beschuldigen, wenn er etwas Verbotenes tut.« Sie forderte Stefan auf: »Komm jetzt, zieh die Schuhe wieder an. Wir müssen ins Restaurant und essen.«

Er tat so, als ob er sie nicht gehört hatte, und watete mit bloßen Füßen im Wasser umher. Es gefiel ihm sichtlich. Kurz entschlossen zog Sarah auch die Schuhe aus, ging ins Wasser und packte ihren Cousin am Ärmel. »Komm jetzt, wir gehen.«

Aber sie hatte nicht mit seinem Widerstand gerechnet. Er zog seinen Arm so heftig weg, dass er ins Schwanken geriet und dann der Länge nach ins Wasser fiel. Geschockt, aber gleichzeitig unfähig, sein Fallen zu verhindern, dachte sie: »Oh Gott, das wird Schläge geben.«

Sie half ihm, wieder aufzustehen. Er weinte und schlug nach ihr. »Du bist schuld, dass ich ins Wasser gefallen bin!«, schrie er. »Jetzt bin ich nass und kann nicht mehr ins Restaurant.« Er schluchzte, dann schrie er noch mal: »Du bist schuld!«

Sarah schwankte zwischen Wut, Angst und Verzweiflung. Sie hätte ihn am liebsten noch mal ins Wasser geschubst und wäre dann einfach weggelaufen. Aber das konnte sie nicht. Denn ihre Eltern warteten ja in dem Restaurant. Ihre Mutter war bestimmt schon sehr wütend und es war nicht auszudenken, was passieren würde, wenn sie noch länger auf sich warten lassen würden.

So packte sie Stefan am Arm. »Wir gehen jetzt.« Und tatsächlich ließ er sich widerstrebend von ihr zum Restaurant ziehen. Als sie dieses betraten, war es leerer als zuvor. Es war inzwischen auch schon halb drei. Die meisten Gäste hatten das Mittagessen bereits beendet oder setzten ihren sonntäglichen Schmaus mit Kaffee und Kuchen in einem der zahlreichen Gartenlokale fort. Heiner und Liselotte saßen noch an ihrem Tisch und hatten bereits zu essen begonnen. Zwei unberührte Teller standen daneben. Der Spargel sah bereits recht kalt aus.

Als ihre Mutter die beiden erblickte, fragte sie mit schriller Stimme: »Sarah, was ist mit Stefan passiert?« Bevor diese auch nur ihren Mund öffnen konnte, antwortete ihr Cousin bereits: »Tante Lilo, Sarah hat mich ins Wasser gestoßen.« Liselotte stand auf, kam auf ihre Tochter zu und ohrfeigte sie vor aller Augen. Sarah schlug beschämt die Augen nieder.

Heiner bat: »Lass doch das Kind in Ruhe. Wir wissen doch gar nicht, was wirklich passiert ist.« Liselotte antwortete mit schriller Stimme: »Halt du den Mund, du hast hier gar nichts zu sagen.« Ihr Vater verstummte, Sarah rang mit den Tränen und Liselotte wandte sich liebevoll Stefan zu. »Komm, mein Schatz, setz dich hin und fang an zu essen. Ich habe Gott sei Dank noch trockene Kleidung im Auto. Die hole ich jetzt für dich.«

Sie würdigte Sarah keines Blickes mehr. Heiner sagte: »Komm, setz dich und fang an zu essen. Sonst wird es kalt.« Sarah fuhr sich mit der Hand über die feuchten Augen. Dann setzte sie sich. Liselotte und Stefan waren hinausgegangen. Heiner seufzte und strich seiner Tochter über die Wange. »Mach dir nichts draus, mein Schatz. Du weißt ja, wie deine Mutter ist.«

Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Am liebsten würde ich mit dir weggehen, meine Süße. Wie wäre das, nur du und ich? Wir würden ein schönes Geschäft aufmachen und wären einfach glücklich?« Dann aß er weiter.

Sarah fühlte sich unbehaglich. So sehr sie sich auch bemühte, seinen Worten irgendetwas Tröstliches abzugewinnen, es gelang ihr nicht. Dann versuchte sie zu essen, aber sie bekam kaum einen Bissen herunter. Das nagende Hungergefühl kollidierte auf seltsame Art und Weise mit ihrer Angst, ihrer Wut und ihrer Verzweiflung. Ein Teil von ihr wollte essen, der andere Teil hätte sich am liebsten übergeben.

Sie kaute minutenlang an jedem Bissen des kalt gewordenen Spargels. Nach zehn Minuten kamen Liselotte und Stefan wieder zurück. Stefan hatte trockene Kleidung an. Er begann zu essen und sagte nach zwei Bissen jammernd: »Der Spargel ist kalt. Ich mag ihn nicht.« Mit diesen Worten schob er seinen Teller zurück. Sarah hielt die Luft an. Wie würde ihre Mutter reagieren?

Liselotte lächelte ihren Neffen süß an. »Das ist doch kein Problem, Stefan. Wir rufen einfach die Kellnerin und sagen ihr, dass sie den Spargel noch mal aufwärmen soll.« Sarah verspürte einen Stich. Für einen Moment traf sich ihr Blick mit dem ihres Vaters. Sie konnte in seinen Augen lesen, dass er dasselbe dachte wie sie.

Dann wandte er sich an Stefan. »Stell dich nicht so an. Sarah isst ihren Spargel doch auch.« Das hätte er besser nicht gesagt. Sofort veränderte sich Liselottes Gesichtsfarbe. »Heiner, es ist nicht zum Aushalten mit dir. Warum musst du mir immer in den Rücken fallen? Wenn du nicht so schwierig wärst, wären wir glücklich.« Mit diesen Worten warf sie ihre Serviette auf den Tisch, nahm Sarah bei der Hand und sagte: »Sarah, wir gehen.«

Sarah war völlig überrumpelt. Sie hatte gerade drei Bissen Spargel gegessen, ihr war übel, sie fühlte sich beschämt durch die öffentliche Ohrfeige, aber trotzdem war es ausgeschlossen, ihrer Mutter zu widersprechen. Als sie draußen waren, brach Liselotte in Tränen aus.

»Ich halte dieses Leben und diesen Mann nicht mehr aus«, schluchzte sie. »Wir gehen weg – du und ich. Du bist doch mein einziger Schatz.« Mit diesen Worten nahm sie das Mädchen in den Arm.

Sarah fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen. Gerade war sie noch von ihrer Mutter beschimpft und geohrfeigt worden und jetzt war sie ›der einzige Schatz‹. Ihre Angst und Wut wichen einer großen Verwirrung, die in der Frage gipfelte: »Wer bin ich eigentlich?«

Liselotte hatte sich auf eine Bank gesetzt und ließ ihren Tränen freien Lauf. Sarah setzte sich neben sie und hielt ihre Hand. Sie überlegte angestrengt, was sie sagen könnte, um ihre Mutter zu trösten. Oder sagte sie besser nichts? Man konnte nie wissen, in welchen Hals sie bestimmte Äußerungen bekam. So beschränkte sie sich darauf, die Hand der Mutter zu halten und sich zu bemühen, das Rumoren in ihrem Bauch zu ignorieren. Sie dachte angestrengt: »Am besten wäre es, unsichtbar zu sein.«

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