Kitabı oku: «Forschung in der Filterblase», sayfa 4

Yazı tipi:

Demokratie schaffen: Die Öffentlichkeit und die Wissenschaften

In welcher Gesellschaft leben wir? Die Beantwortung dieser Frage ist deshalb wichtig, weil sie hilft, die Rolle zu verstehen, welche die Wissenschaftskommunikation in der Gesellschaft spielt.30 «Gesellschaft» ist ein Terminus der Soziologie, der auf die Bestimmung der «Welt» zielt, in der die Menschen leben. Allerdings ist die Soziologie sich nicht einig: Sie führt verschiedene Gesellschaftsdeutungen und Zeitdiagnosen im Angebot, die je mit verschiedenen theoretischen Prämissen und analytischen Zugängen zum Forschungsgegenstand verbunden sind: Bürgergesellschaft, Digitalgesellschaft, Klassengesellschaft, Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft … Hier ist nicht der Ort für eine Forschungsdiskussion. Für meine Untersuchung bediene ich mich des Begriffs der Wissensgesellschaft. Er ist hilfreich, weil er auf die steigende Bedeutung von Wissenschaft und Forschung in der Gesellschaft abzielt – was aber nicht heissen soll, dass nicht auch andere Merkmale der Gesellschaft bedeutsam sind, etwa die soziale und ökonomische Ungleichheit oder die Ausweitung des Dienstleistungssektors.

Die Wissensgesellschaft unterstellt erstens, dass Forschung heute der wichtigste Produktionsfaktor ist und also von riesiger ökonomischer Bedeutung. Insbesondere in der Schweiz ist die wissenschaftspolitische Rede vom innovativen Wissenschaftsstandort mit derjenigen von der Wohlfahrt der Volkswirtschaft und dem Gemeininteresse verknüpft. Zweitens besagt der Begriff Wissensgesellschaft, dass heute die ganze Gesellschaft von wissenschaftlichem und professionellem Wissen durchwirkt ist, wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. In der Tat bestehen quasi keine von wissenschaftlichem Wissen freien Räume mehr; in früheren Zeiten wären dies etwa die von Erfahrungswissen gesättigte Landwirtschaft gewesen oder die von religiösem Glauben erfüllten sakralen Sphären. Das Wissen der Vorfahren, Traditionen und das religiöse Wissen haben massiv an Bedeutung verloren. Der von den Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre konstatierte neue «Geschichtswert» in den Bereichen Kultur und Tourismus, wo alles möglichst alt, traditionell und authentisch sein soll, ist just ein Symptom dafür.31 Der wichtigste Ort der Wissensproduktion sind die Hochschulen. Hier erwerben jährlich Tausende junger Menschen nicht nur Diplome, sondern im Idealfall die Fähigkeit zu experimentieren, zu forschen, komplexe Texte zu lesen, wissenschaftlich zu arbeiten und nachzudenken – und neues Wissen zu generieren. Die Hochschulen haben in den letzten Jahrzehnten einen spektakulären Ausbau erfahren, die Studierendenzahlen steigen weiter.

KOMMUNIKATIV HANDELN

Die Wissensgesellschaft ist indes älter. Man kann ihre Entstehung in das 18. Jahrhundert datieren. Wissen, Bildung und Forschung sind nämlich nicht nur machtvolle ökonomische Produktivkräfte, die heute angeblich den Wohlstand und das Wachstum der postindustriellen Nationen fördern. Sie sind auch ein Garant für die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger am Gemeinwesen. Wie das? Der Schlüsselbegriff lautet «Öffentlichkeit». Es war zunächst das bürgerliche Publikum, das die Öffentlichkeit bildete – nun jenseits der höfischen Repräsentation, die das Volk nur als jubelnde oder grüssende Staffage für seine herrschaftlichen und genealogischen Inszenierungen brauchte, jenseits aber auch der gebildeten Welt und der sogenannten Gelehrtenrepublik. Die Bürgerinnen und Bürger gewannen in neuen Vereinen und Salons, in literarischen Fehden, in freien Zeitschriftenbeiträgen und privaten Korrespondenzen ein neues, egalitäres Selbstbewusstsein. Der neue Raum der Öffentlichkeit ermöglichte den «vernünftigen kommunikativen Umgang» der Bürger miteinander – wobei die Medien, die neuen Zeitungen und Zeitschriften, eine zunehmend wichtige Rolle spielten, indem sie die Kommunikation vermittelten. Das Publikum der Medien waren nicht einfach bloss passive Konsumenten, sondern auch Sprecherinnen und Adressaten, die voneinander lernten und die einander Rede und Antwort standen, wie Jürgen Habermas schreibt.32

Die Entwicklung von der «kulturräsonierenden Öffentlichkeit» zu einer schliesslich durch die Massenmedien vermittelten Sphäre geschah indes nicht ohne den Ausschluss konkurrierender Öffentlichkeiten, etwa der jakobinischen, der plebejischen, der bäuerlichen und insbesondere der weiblichen – die Historikerin Karin Hausen hat darauf hingewiesen. Die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit ging einher mit dem Einschluss der Frau ins Haus, das sie mit ihrer Seele beleben sollte. Das Haus wurde zur weiblichen Sphäre, die politische Öffentlichkeit zur männlichen.33 Eine Frau, die selbstständig an die Öffentlichkeit trat, wurde im Lauf des 19. Jahrhunderts als «Öffentliche» gebrandmarkt – als Dirne. Dagegen sollte Politik «unbelastet von der Konkurrenz zwischen Geschlechtern als ein vernünftiges Allgemeines allein durch Männer definiert, vollzogen und kontrolliert werden». Noch in den Jahrzehnten vor und nach 1800 waren Frauen öffentlich politisch aktiv gewesen: die berühmten «Salonnières», also adlige Damen, die in ihre Gemächer zu politischen Diskussionen einluden, nicht weniger als die feministischen Frühsozialistinnen, die Demonstrationen organisierten.

Habermas schreibt der über Medien vermittelten öffentlichen Kommunikation der Bürgerinnen und Bürger eine sozialintegrative Kraft zu. Dank ihr bricht die Gesellschaft nicht auseinander. Die Menschen verständigen sich über die Ausgestaltung der Gesellschaft, das heisst sie bringen Argumentationen vor, führen Reden und Widerreden und einigen sich auf eine Wahrheit. So kommerzialisiert die Medien auch sein mögen, so sehr sie sich einer wirtschaftlichen oder politischen Macht andienen, sie müssen offenbleiben für die Anliegen der Bürgerinnen und Bürger. Den Wissenschaften kommt in Habermas’ Demokratietheorie ein wichtiger Part zu. Erstens sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bedeutsame Akteure in der öffentlichen Sphäre. Sie sind sowohl als Experten, die mit wissenschaftlicher Legitimität ausgestattet sind, weil sie an einer Hochschule lehren, als auch als Intellektuelle, die auf wissenschaftlichem Gebiet Reputation besitzen, in die öffentlichen Diskurse involviert, indem sie ihr Wissen und ihre Forschung einbringen. Sie stehen für Wahrheiten ein, die theoretisch für alle zugänglich sind und sich nicht auf einen kleinen Kreis von Auserwählten oder Eingeweihten beschränken. Sie vertreten nicht vor allem ihre eigenen Anliegen oder die des Staates oder der Ökonomie, sondern eben die Interessen der «Republik» oder von Minderheiten. Aufgrund ihres profunden Wissens tragen Forschende zum Pluralismus der Öffentlichkeit bei. Sie bereichern und stimulieren die öffentliche Kommunikation mit Reflexionswissen. Dieses ist zu unterscheiden vom lexikalischen Wissen oder dem anwendungstauglichen Wissen des Experten, das eine Handlung anleiten soll. Das Reflexionswissen hält zum Nachdenken über die Gesellschaft an: Wie wollen wir leben?

Die Wissenschaftler können zum Beispiel, wie Habermas dies tut, darauf hinweisen, dass die öffentliche Kommunikation – und damit die Demokratie – gefährdet ist, wenn die Medien unter zu grossem staatlichem oder ökonomischem Druck stehen; wenn der Journalist nicht frei und kritisch berichten kann, verfehlt er seine Funktion.34 Oder die Forschenden können daran erinnern, dass die Bürger imstande sein müssen, vernünftig am Diskurs teilzunehmen; wer ungebildet, sozial depriviert und politisch ausgeschlossen ist, kann nicht partizipieren. Oder die Forschenden geben zu bedenken, dass der mediale Diskurs sich nicht im Modus der Unterhaltung erschöpfen sollte; die Personalisierung, die Dramatisierung von Ereignissen, die Simplifizierung komplexer Angelegenheiten und die Polarisierung von Konflikten: Sie führen zum Rückzug der Bürgerinnen und Bürger ins Private. Weiter spielt das wissenschaftliche Wissen für die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Lebenswelt eine wichtige Rolle, wie Habermas festhält. Dank ihrer wissenschaftlich bereicherten Kultur wissen sie implizit – oder sie sollten es wissen –, dass «ihre Deutungssysteme durch interne Sinnzusammenhänge» konstituiert sind, dass sie sich «symbolisch auf die Wirklichkeit» beziehen, mit Geltungsansprüchen verbunden, der Kritik ausgesetzt und einer Revision fähig sind. Ohne dieses Wissen könnten die Bürgerinnen und Bürger nicht vernünftig miteinander reden.

In der Wissensgesellschaft ist der Einzelne – wiederum idealtypisch gesehen – als Angehöriger einer Kommunikationsgemeinschaft imstande, die objektive Welt und seine intersubjektiv geteilte soziale Welt gegen seine subjektive Welt und die Welten anderer Kollektive abzugrenzen. Diesen Raum verschafft ihm die «Lebenswelt». Sie soll die Menschen vor der Kolonialisierung durch das «System» schützen, also vor den Imperativen der Ökonomie und der Bürokratie, vor dem Kapitalismus und der Verwaltung. Bedroht und zerstört wird die Lebenswelt, wenn die Handlungsbereiche der Menschen monetarisiert und bürokratisiert werden. Zur Reproduktion der Lebenswelt trägt unter anderem die Kultur bei. Sie umfasst den Wissensvorrat, aus dem sich die Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über die Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen.35 Der Wissensvorrat besteht in der Wissensgesellschaft mehr denn je auch aus wissenschaftlichem Wissen. Er ist dann relevant, wenn die Menschen, so Habermas, «ihre Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern» und Kompetenzen erwerben, die sie «sprach- und handlungsfähig machen», also instand setzen, «an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei die eigene Identität zu behaupten». Das tun sie auch, indem sie Massenmedien und wissenschaftsjournalistische Beiträge konsumieren.36

Gemäss Habermas bietet also die Wissensgesellschaft mit ihrem Reflexionswissen die Chance ihrer Humanisierung – jenseits der Leidensverminderung durch die medizinischen Fortschritte und der Perfektionierung des Alltagslebens durch die Technik. Auch dank des wissenschaftlichen Wissens werden die Menschen zu reflexiven Wesen, die nicht nur ihre eigenen Vorteile verfolgen, sondern sich mit anderen über ihre und die Probleme anderer verständigen, solidarisch handeln und soziale Entwicklungen stoppen, die der Res publica schaden. Im kommunikativen Handeln ihrer Mitglieder schlummert das Potenzial des guten Lebens. Und für die Republik und die Lebensqualität ihrer Mitglieder sind eben theoretisch alle Bürgerinnen und Bürger zuständig. Wissenschaftlerinnen und Laien sind gleichermassen legitimiert, mitzureden und darüber zu bestimmen, wie die Republik einzurichten sei. Die Chance der Wissensgesellschaft ist allerdings janusköpfig: Ebenso ist eine Wissensgesellschaft denkbar, in der die Wissenschaften durch das System in Beschlag genommen werden – eine Technokratie. Wenn der Kapitalismus und die Verwaltung die Wissenschaften so für ihre Zwecke zurichten, dass die Profite für einzelne Unternehmer grösser werden und die Abwicklung der Fürsorgefälle noch reibungsloser verläuft, wenn die Informatikerinnen und Programmierer der weltumspannenden Technologiefirmen behaupten, die Lösung für die Probleme der Menschheit liege in der Auswertung ihrer gesammelten Daten, dann wird die Gesellschaft dehumanisiert.

Garantin dafür, dass die Wissenschaften nicht aus dem Ruder laufen, ist die informierte Öffentlichkeit. Das sie bereichernde Wissen der sich äussernden Gelehrten ist indes – wie Habermas unfreiwillig selbst zeigt – oft in einer komplexen Fachsprache formuliert. Daher eben bedarf das Wissen der Kommunikation, Vereinfachung, Vermittlung, Popularisierung. Manchmal allerdings formuliert auch ein Habermas leuchtende Sentenzen: «Erst wenn die Sozialwissenschaften keinen Gedanken mehr entfachten, wäre die Zeit der Gesellschaftstheorie abgelaufen.»37 Sein Gedanke: dass die Wissensgesellschaft mehr ist als ein Innovationshub.

HELVETISCHER PRAGMATISMUS

Habermas’ Theorie liefert die Belege für die Bedeutung der Wissenschaften für die moderne, demokratisch verfasste Gesellschaft sowie für die Verbreitung wissenschaftlichen Wissens in die Öffentlichkeit – via Medien und Massenmedien. Allerdings bleiben drei Punkte unterbelichtet: erstens die Eigenlogik des Wissenschaftssystems, zweitens die Eigenheiten des schweizerischen Forschungssystems, drittens die aktuellen medialen Umbrüche. Sie sollen Habermas’ Theorie erweitern.

Was machen die Wissenschaften? Niklas Luhmann hat im Rahmen seiner Systemtheorie ein überzeichnetes Bild des Subsystems Wissenschaft geschaffen, das dennoch den Blick für die Inkommensurabilität beziehungsweise für die Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Wissenschaften und Öffentlichkeit sensibilisiert.38 Luhmann ist wie Habermas der Ansicht, dass die Gesellschaft von Wissen durchdrungen sei. Die Leistungen des Wissenschaftssystems sind ihm zufolge enorm: Es arbeitet an Technologien, die eventuell wirtschaftlich brauchbar sind, liefert Stoff für das Erziehungssystem, beobachtet und interpretiert die öffentliche Meinung und die wirtschaftliche Entwicklung, produziert demografische Daten zur Information der Politik und Gutachten für Gerichtsverfahren, es fördert die Heilung von Krankheiten und dringt im Rahmen der Mutterschafts- und Eheberatung in den Familienalltag ein. Kurzum: Ohne Wissenschaften geht nichts.

Das Wissenschaftssystem geniesst gemäss Luhmann einen besonderen Status. Es ist anders als die anderen Subsysteme verfasst, weil es die eigene Arbeitsleistung nicht asymmetrisch einem dadurch bedienten Publikum gegenüberstellt, wie dies die Systeme der Erziehung, der Medizin, der Massenmedien, der Religion oder des Rechts machen. Die Lehrer wenden sich an Schüler und Eltern, die Ärztinnen an Patienten, die Kleriker an Laien und die Juristen an Klientinnen. Für die Wissenschaft aber gilt, wie Luhmann den Soziologen Walter Bühl zitierend festhält: «Das Publikum der Wissenschaftler sind die Wissenschaftler.»39 Und darum ist das Wissenschaftssystem für das ausserwissenschaftliche Publikum schwer verständlich – auch für Wissenschaftler anderer Disziplinen. Wissenschaftliches Wissen steht dem Alltagswissen entgegen, ja «delegitimiert» es: «Das wissenschaftliche Wissen ist im Alltag immer das bessere Wissen.»40 Trotzdem gewinnt es kaum Relevanz. Die Menschen beharren auf dem Wissen, das ihnen einleuchtet, auch wenn es wissenschaftlich widerlegt worden ist; sie glauben eher an einen kosmisch-zwischenmenschlichen Energiefluss als den Sozialwissenschaften. Niemand handelt so, als ob die Relativitätstheorie wahr sei, fast alle interagieren mit Menschen des anderen Geschlechts, als ob die Erkenntnisse der Genderforschung nicht bestehen würden. Nur im Wissenschaftssystem gilt der binäre Code wahr/falsch. Die anderen Systeme funktionieren nach anderen Codes – so das Massenmediensystem nach dem Code Information/Nichtinformation. Was für den Wissenschaftler wahr ist, muss für die Journalistin nicht unbedingt eine Information sein – und ist daher nicht von vornherein von Interesse. Und das bedeutet: Einerseits ist mit Luhmann nicht davon auszugehen, dass die Massenmedien ein realistisches Bild des wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritts liefern. Was die Wissenschaften in den Labors und Schreibstuben machen, ist etwas anderes, als was die Massenmedien sagen, dass sie machten.

Es klingt das idealtypische Bild an, das der Soziologe Max Weber vom «inneren Beruf zur Wissenschaft» gezeichnet hat: Der Wissenschaftler versuche, die verwirrende Vielfalt der empirischen Wirklichkeit denkend und begrifflich zu ordnen, indem er sich, entlastet vom Zwang des alltäglichen Handelns und der Verwertbarkeit seines Tuns, am Geltungsanspruch der Wahrheit ausrichtet, die freilich immer eine relative ist, weil wissenschaftliches Wissen permanent veraltet und durch neues ersetzt wird. Das wäre der «Geist der Forschung».41 Andererseits ist mit Luhmann nicht davon auszugehen, dass die breite Öffentlichkeit, selbst wenn die Massenmedien ein realistisches Bild von der Forschung zeichneten, dieses rezipieren würde. Kurzum: Wie auch immer die medial vermittelte Austauschbeziehung von Wissenschaft und Öffentlichkeit vonstattengeht: Komplikationsfrei ist sie nicht. Was in der Wissenschaft passiert, versteht die Gesellschaft nicht oder kaum, und was die Medien zu den Wissenschaften publizieren, würde von diesen nicht unbedingt favorisiert. Eine erfolgreiche Wissenschaftsstory muss nicht von exzellenter Forschung handeln.

Als Paradefall einer Forschung, die nahe an der Gesellschaft ist, gilt die «anwendungsorientierte Forschung»; sie soll einen unmittelbaren Nutzen haben, weil man sie unmittelbar anwenden und verwerten kann. Auch diese Idee entgeht nicht Luhmanns Polemik: Die anwendungsorientierte Forschung sei wie ein «vorweihnachtlich geschmücktes Warenhaus». Man sei geblendet vom Glanz der Auslage, aber wenn man etwas suche, finde man es nicht – weil es nicht existiert.42 Es ist eine Eigenheit des schweizerischen Forschungssystems, dass es nur die Anwendungen von Wissen betont, die nützlich sind: Medikamente, Roboter, Brücken. Der Pragmatismus der Schweiz schlägt sich im Bild von Wissenschaft und Forschung nieder, das sie propagiert. Bezeichnend dafür ist, dass hierzulande die Figur des öffentlichen Intellektuellen, der die Macht des Faktischen mit ungehörigen Gedanken herausfordert, nahezu unbekannt ist. Die Schweiz mag keine räsonierenden und spintisierenden Philosophinnen; gross ist das Misstrauen gegenüber «Klugschwätzern». Vielmehr mag die Schweiz Experten, also Leute, die für ein Problem eine realistische und praktikable Lösung anbieten: Politologen, Juristinnen, Ökonomen, Naturwissenschaftlerinnen. Es ist nicht der Intellektuelle, es ist der visionäre Ingenieur oder Datenanalytiker, der in der Öffentlichkeit hohes Ansehen geniesst.

Die erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg kontrovers thematisierten Folgekosten des technologischen Fortschritts haben die Reputation der Natur- und Technikwissenschaften ebenso wenig geschwächt wie der wiederholt konstatierte Vertrauensverlust gegenüber Wissenschaftlern und ihren Expertisen. Das zeigen die Ergebnisse des Wissenschaftsbarometers, einer vom Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich regelmässig durchgeführten repräsentativen Befragung der Schweizer Wohnbevölkerung.43 Rund tausend Schweizerinnen und Schweizer ab 15 Jahren werden in der deutsch-, französisch- und italienischsprachigen Landesregion befragt. Nur rund 15 Prozent gaben 2016 zur Antwort, sie hätten ein geringes Vertrauen in Wissenschaft und Forschung und seien desinteressiert. Der Rest, also die grosse Mehrheit, sieht sich als wissenschaftsaffin und ist der Ansicht, die Wissenschaft verbessere unser Leben. Darunter stellt sie sich vor allem die Naturwissenschaften und die Medizin vor. Allerdings: Die Telefonumfrage ist selbst recht wissenschaftspragmatisch. Mit qualitativen Interviews von gezielt ausgewählten Personen wäre mehr zu erfahren über die Einstellungen, Hoffnungen und Vorbehalte der Bevölkerung gegenüber dem Wissenschaftssystem. Wenn ein Nichtakademiker von der Universität gefragt wird, ob er sich für Forschung interessiere, wird er in der Regel mit Ja antworten, weil er vom Experten am anderen Ende der Leitung keine Verachtung ernten will. Wenn er antiakademisch und antiintellektuell eingestellt ist und die Hochschulen für Geldvernichtungsmaschinen hält, wird er wahrscheinlich nicht an der Umfrage teilnehmen.

Die führenden Politiker der Schweiz haben in der Regel die praxisbezogenen Studiengänge der Jurisprudenz oder Ökonomie absolviert, die als beste Vorbereitung für eine Karriere in Staatsdienst und Privatwirtschaft gelten. Sie sind gewappnet gegen hochfliegende Ideen, und sie geben sich besser nicht intellektuell, wenn sie die Gunst ihrer Wählerinnen und Wähler nicht verlieren wollen. Wieso ist das so? Naturwissenschaften und technische Wissenschaften sind in der Bevölkerung und bei Politikerinnen deshalb populärer als die Geistes- und Sozialwissenschaften, weil ihre Leistungen augenfälliger sind. Brücken sieht man und kann man befahren – in der Regel stürzen sie auch nicht ein. Und Brücken, Tunnels und Medikamente bedeuten den meisten Menschen in ihrem Alltag mehr als akademische Schriften, Textdeutungen, Bildanalysen und historische Analysen – die klassischen Primärprodukte der «Humanities». Auszunehmen davon ist ein Stück weit die Medizin: Sie wird von alternativen Kreisen als gesundheitsschädlich und profitorientiert wahrgenommen.

Hinzu kommt das Profil der schweizerischen Hochschullandschaft. Die zehn Universitäten, in der Mehrzahl Volluniversitäten, sind in kantonalem Besitz, die beiden Hochschulen indes mit dem grössten Renommee gehören dem Bund und sind technische Institutionen: die ETH Zürich (ETHZ) und die ETH Lausanne (EPFL). Die ETHZ ist, obschon eine der jüngeren Hochschulen der Schweiz, die in der Öffentlichkeit wohl am meisten geachtete Ausbildungsstätte, zusammen mit der EPFL, die sogar erst 1969 gegründet wurde. Letztere hat in Bezug auf Rankings, wirtschaftliche Partnerschaften und Reputation einen beeindruckenden Aufstieg hingelegt. Das Rolex-Learning-Center ist zu ihrem architektonischen Wahrzeichen geworden. Wie keine andere Hochschule steht die EPFL für die segensreiche Verbindung von Wissen, Innovation und Kapital.

Und was war vor der Ingenieursbegeisterung? Noch im 18. Jahrhundert verfochten Gelehrte wie der Basler Philosoph Isaak Iselin das Projekt einer nationalen Bildungsstätte, die sich an der Universitätsidee orientierte. Und der erste und zugleich – bis heute – letzte Bildungsminister der Schweiz, Philipp Albert Stapfer, legte während der Helvetischen Republik (1798–1803) erneut das Konzept einer gesamtschweizerischen Universität auf den Tisch. Es verschwand allerdings mit dem Ende der Republik von der Bildfläche. Die Idee der Nationaluniversität kam mit der Gründung des schweizerischen Bundesstaates von 1848 ein knappes halbes Jahrhundert später nochmals zur Sprache. Doch das Parlament konnte sich nicht auf das Profil der neuen Institution einigen. Die Universitätskantone fürchteten die nationale Konkurrenz, die katholischen Kantone die Dominanz der protestantischen Städte. Jahrelang stritten sich Expertenkommissionen über die Frage. Eine Mehrheit fand das Projekt erst, als man es auf die technischen Fächer redimensionierte. 1854 wurde die «eidgenössische polytechnische Schule» schliesslich gegründet: die ETHZ.44 Die Autoren der ETH-Geschichte «Transforming the Future» sehen in der neuen Schule die polytechnische Fundierung des alten helvetischen Traums einer nationalen Universität. Die Curricula des Polytechnikums, das auf den klassischen Fächerkanon einer Universität verzichtete, passten zur aufstrebenden technisch-industriellen Moderne. Die Institution sollte das Wissen für den Aufbau einer zukünftigen nationalen Infrastruktur hervorbringen und zugleich die Professionalisierungs- und Karrierechancen der nationalen Elite verbessern. Günstig für die Entwicklung der Schule war die damalige politische Konjunktur in Europa: Aufgrund des repressiven Klimas, das an anderen Ingenieurschulen in demokratiefeindlichen Monarchien herrschte, kamen renommierte Professoren und motivierte Studenten nach Zürich.

Nicht nur die Politik, sondern auch die Industrie stand hinter dem Aufstieg der Naturwissenschaften in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und zwar nicht nur in der aufstrebenden Schweiz. Instruktiv ist das Beispiel des Physiologischen Instituts in Leipzig, das der Historiker Timothy Lenoir untersucht hat.45 Vorsteher der bald schon international hoch angesehenen «Anstalt» war der Anatom Carl Ludwig, der zuvor an den Universitäten Zürich und Wien gelehrt hatte. Preussen investierte in die Naturwissenschaften, weil es die Wissenschaften für die Bedürfnisse der Landwirtschaft, der Industrie und des Militärs einspannen wollte. Ludwigs Vorgänger verfolgten als Wissenschaftler im Sinne Humboldts noch die «einheitliche Wissenschaft des Lebens» und propagierten das Betreiben der «Wissenschaften um ihrer selbst willen», die nicht nützlich zu sein hätten, sondern vorab «schöpferische Geister» bräuchten. Die praktische Forschungsausbildung im Labor galt als unwichtig. Anders Ludwig: Er merkte, dass die Wissenschaften nun praktisch zu sein hätten, und koordinierte die wissenschaftliche Forschung mit den materiellen Interessen des Staates. Er schuf die Wissenschaft, die das Modernisierungsprogramm brauchte.

In der Schweiz wie auch in anderen Nationen sind Wissenschaft und Forschung in den letzten Jahren vermehrt in den Fokus des Staates geraten, der auf ihren volkswirtschaftlichen Nutzen abhebt. Man kann darin eine Legitimation für die massiv gestiegenen Ausgaben für Forschung, Wissenschaft und Bildung sehen. In der Schweiz gestaltete sich der ordnende Zugriff des Staates auf die Wissenschaften aufgrund der föderalen Verfasstheit des Landes nicht hindernisfrei. Doch 2012 wurde das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) neu gegründet. Es gehört zum Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung. Der eidgenössische Wirtschaftsminister ist zugleich also der Bildungs- und Forschungsminister und präsidiert die Schweizerische Hochschulkonferenz. Die Bereiche Bildung, Berufsbildung, Forschung, Technik und Ökonomie sind zusammengerückt. Das SBFI umfasst neu auch das ehemalige Bundesamt für Berufsbildung und Technologie, das vorher dem Wirtschaftsdepartement angegliedert war.

Im Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung befasst sich nicht nur das SBFI mit Forschung und Innovation, sondern auch das Staatssekretariat für Wirtschaft, der ETH-Rat und der Schweizerische Wissenschaftsrat. Die Karriere des Wissenschaftsrats ist ein weiterer Beleg für den ökonomischen Pragmatismus der schweizerischen Wissenschaftspolitik. Gegründet im Jahr 1965, sollte das 15 Professorinnen und Professoren umfassende «unabhängige Organ des Bundesrats» diesen wissenschaftspolitisch beraten, Publikationen verfassen und Wirkungsprüfungen und Begutachtungen durchführen. Der Wissenschaftsrat sollte auch Mängel und Schwachstellen des Wissenschaftsplatzes identifizieren. So hat er darauf hingewiesen, dass die Bologna-Reform zur Verschulung der Studiengänge und zur «Verbetrieblichung» der Hochschulen geführt hätte; durch die Autonomisierung seien sie nicht nur unternehmerischer, sondern auch bürokratischer geworden. «Innovation» sei keine Aufgabe der Forschungsorgane und dürfe nicht zulasten des wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns gehen. Die «Ökonomisierung» von Bildung und Forschung sei höchst ambivalent. Doch der Wissenschaftsrat ist institutionell geschwächt worden. Er hat an Bedeutung verloren.46

Der «Forschungsplatz Schweiz», wie die neue helvetische Identitätsformel heisst, ist offiziell erfolgreich. Die Schweiz belegt in den einschlägigen Rankings zu Forschung, Innovation, Impact und Patenten immer wieder die vordersten Ränge. Die Politik sieht in den Hochschulen Wachstumsmotoren inmitten der Wissensgesellschaft. Wissenschaftspolitik wird zu Standortpolitik. Und Forschung gilt als die wichtigste ökonomische Ressource überhaupt. Es wäre lohnenswert, die Karriere des Forschungsbegriffs in der wissenschaftspolitischen und akademischen Sphäre nachzuzeichnen. Forschung ist in der Wissensgesellschaft zu einem Signal geworden, das für Fortschritt, Innovation, Wachstum, Nützlichkeit und so weiter steht. Die Universitäten, die sich die längste Zeit primär als Lehranstalten sahen, heben verstärkt ihren Forschungscharakter hervor – und bezeichnen sich als «Forschungsuniversitäten». Genf und Zürich sind Mitglieder der 2002 gegründeten League of European Research Universities. 2016 ist ein neuer Verbund gegründet worden: The Guild of European Research-Intensive Universities. Er zählt 19 Mitglieder, darunter Bern. Auch die Fachhochschulen kehren ihre Forschungsanstrengungen hervor, obschon sie sich mit den angewandten Wissenschaften beschäftigen und daher nicht die klassische zweckfreie und kreative Grundlagenforschung betreiben. Interessanterweise hat sich das Bild verkehrt: Mit ihrer Betonung der Praxisnähe und Anwendbarkeit des Wissens, die zu handfesten Produkten führe, gelten die Fachhochschulen heute als mindestens so forschungsaffin wie die Universitäten, die oft «nur» Theorien und Methoden hervorbringen.

Die heutige Verfassung des Hochschul- und Forschungssystems ist auf die Einführung des New Public Management in den 1990er-Jahren zurückzuführen. Die Hochschulen sollen sich nun unternehmerisch reorganisieren, Management statt Bürokratie ist angesagt. Das Ideal der langfristigen Planung, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dominant war, ist dem Prinzip der situativen Steuerung oder Governance gewichen. Diese favorisiert netzwerkförmige und kooperative Ansätze. Die Verteilung der Gelder geschieht kompetitiv. Wissenschaftler und ihre Institutionen haben sich zu legitimieren, indem sie sich im Wettbewerb um Forschungsgelder als exzellent und in Evaluationsverfahren als produktiv ausweisen. Für die Vermittlung von Wissenschaft heisst das: Sie ist mit dominanten Vorgaben konfrontiert, die den Raum des Sagbaren einschränken. Die staatliche Wissenschafts- und Forschungspolitik spurt den Diskurs vor, der grob gesagt die Einfachheit der Möglichkeit postuliert, den pragmatischen Nutzen eines erfolgreich anwendungsbereiten Wissens hervorzustreichen. Wer sich wissenschaftskommunikativ diesem dominanten Diskurs widersetzte, müsste sich gründlich erklären.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺1.235,44