Kitabı oku: «Das Gesetz des Wassers», sayfa 3

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DREI

Pünktlich um sieben Uhr steht der bestellte Mietwagen vor dem Hotel. Tanner unterschreibt die notwendigen Dokumente. Auch dass er mit dem Auto unter gar keinen Umständen nach Polen fahren werde. Der kleine BMW hat tatsächlich eine Klimaanlage. Das war gestern eigentlich seine einzige Forderung an das Auto gewesen. Es sieht nämlich nicht aus, als würde der neue Tag kühler werden.

Nachdem er die Grenze passiert hat, kann er für eine Weile das Auto austesten. Dann verlässt er die Autobahn und fährt gemächlich über Nebenstraßen durch die Landschaft.

Die Klimaanlage im Auto arbeitet zufrieden stellend, Tanner lehnt sich zurück, lässt die Rebberge und Bauerndörfer, die auffallend sanft in die Hügel eingebettet sind, vorübergleiten.

Ein tiefes Wohlgefühl breitet sich in ihm aus. Die Quelle dieses Wohlbefindens sitzt in seinem Bauch. Die Nacht mit der blonden Barfrau ist von einer überraschenden Zärtlichkeit erfüllt gewesen. Wie ist es möglich, dass sich zwei fremde Menschen einzig durch die Berührung ihrer Körper für einen Augenblick so, äh … berühren können? Ist das ganze Gerede über die Liebe vielleicht doch nur Gewäsch? Vielleicht ist das alles nur von den Hormonen, den Körpersäften und dem Duft abhängig. Sie haben kaum ein Wort gesprochen. Als er zu ihr ins Bett stieg, hat sie ihm mit einer so rührenden Vertraulichkeit ihre schönen Brüste dargeboten, als sei es in ihrem Leben das erste Mal. Sie hob sie mit beiden Händen an, presste sie leicht. Dann blickte sie ihn mit ihren dunklen Augen an, ließ die Brüste los, lehnte sich zurück und spreizte langsam ihre Beine. Diese Bewegung hatte erstaunlicherweise nichts Obszönes. Sie öffnete ganz einfach, ohne Scham, ihren Schoß und bot ihm seinen Anblick. Gemeinsam betrachteten sie das Wunder. Da erfasste ihn eine Leidenschaft, wie er sie lange nicht mehr gespürt hatte. Und sie trug ihn in immer neuen Wellen durch die halbe Nacht. Bevor sie das erste Mal kam, hat sie ihm ihren Namen ins Ohr geflüstert. Und nach seinem Namen gefragt. Als er am Morgen mit einem Gefühl der Ruhe und Dankbarkeit aufwachte, war sie weg.

In diesem Moment wird ihm klar, dass er soeben die Abzweigung verpasst hat. Er wendet und nähert sich langsam dem kleinen Ort.

Das Dorf besteht aus einem heillosen Durcheinander von alten Bauernhöfen und neuen, gesichtslosen Gebäuden. Einzig der kleine Dorfkern in Richtung Kirche lässt etwas von einer vergangenen Harmonie ahnen. Das Rathaus, an dem Rathaus steht, ein pseudohistorisches Gebäude aus der Zeit des Führers, befindet sich gerade im Umbau. Gleich neben der Baustelle sind einige weiße Bürocontainer mit großen Fenstern scheinbar nachlässig aufeinander geschichtet. Hier werden während der Umbauphase die amtlichen Geschäfte getätigt. Die Standesbeamtin arbeite leider heute nicht, erklärt ihm ihre Stellvertreterin, nachdem er sein Anliegen formuliert hat. Da er aber extra aus der Schweiz gekommen sei – sie macht dabei ein so bekümmertes Gesicht, als sei er mindestens aus Übersee angereist – werde sie versuchen, ihm die notwendigen Auskünfte zu erteilen. Kurz darauf erscheint sie mit einem riesigen, altertümlichen Wälzer. Sie beugen sich beide über das stark nach Verfall riechende Buch. Nach kurzer Zeit des Blätterns legt sie, die hilfsbereite Stellvertreterin, mit einem kleinen triumphierenden Lächeln ihre schmale Hand auf eine bestimmte Seite.

Da ist der Geburtseintrag ihres Großvaters Gustav Adolf Land!

Sie lächelt den Mann aus dem fernen Land an. Leider kann er die alte deutsche Schrift nicht lesen. Stolz liest sie ihm die knappen Eintragungen mit fester Stimme vor.

Aha, er ist also tatsächlich geboren.

Etwas irritiert schaut sie ihn an.

Und auch gestorben. Sehen Sie, hier unten an der linken Ecke steht ein Eintrag. Ihr Großvater ist am 1. Juli 1941 in H. gestorben.

Dabei steht auch die Nummer vom Sterbebuch. Alles korrekt eingetragen.

Bevor sie das Buch mit Schwung zuschlagen kann, bittet er sie um eine Kopie. Stirnrunzelnd überlegt sie eine Weile, ob sie dazu befugt ist. Schließlich siegt die Einsicht, dass er ja extra von weit her gekommen sei. Tanner bedankt sich höflich und zückt seine Brieftasche. Sie wehrt sofort ab und meint, nein, nein, wir machen das ganz inoffiziell. Sie lächelt ihn mit einem kleinen verschwörerischen Schmunzeln an. Nachdem sie ihm die Kopie betont verstohlen ausgehändigt hat, zieht sie ihn schnell in ein anderes Büro.

Wir haben hier ein Exemplar des Kirchenbuches, das kürzlich gedruckt wurde. Da können Sie auch noch nachschauen.

Richtig eifrig ist sie nun geworden. Sie legt ihm das Buch auf einen Tisch. Sie verlässt das Zimmer und meint, das könne er nun alleine lesen, es sei ja gedruckt, und zwar in modernen Buchstaben. Lachend schließt sie die Tür.

Tatsächlich findet er sofort den entsprechenden Eintrag. Sein Großvater hatte neun Geschwister. Noch etwas, das er nicht wusste. Und er erfährt, dass praktisch die ganze Familie, mit Ausnahme seines Großvaters, um die Jahrhundertwende nach Amerika ausgewandert ist. Und auch hier steht schwarz auf weiß, dass er 1941 in H. verstorben sei. Aber was heißt H.? Warum weiß das seine Familie bis heute nicht?

Was war so schlimm, dass man nichts davon wissen wollte? Eine Fahrt in seinen Geburtsort und ein Blick in ein Dokument genügen, um an diese einfachen Fakten heranzukommen. Verschollen? Warum verschollen? Er war in H. wohnhaft gewesen und daselbst gestorben! Zehn Jahre, bevor Tanner zur Welt kam. Aber was hatte er in H. gemacht? Die Frage ist auch, wie er ausgerechnet dahin gekommen ist. Ist er wieder gesund geworden und hat dort ein neues Leben angefangen?

Er geht noch mal ins Büro der hilfsbereiten Stellvertreterin und bedankt sich artig. Sie schenkt ihm wieder ein verschwörerisches Lächeln. Das Rot ihrer Lippen ist eindeutig kräftiger als vorher. Bei seinem Eintritt hat sie verschämt etwas in ihre Handtasche gesteckt. Tanner winkt ihr zu und geht eilends aus dem Büroprovisorium.

Am anderen Ende der Dorfstraße leuchtet weiß der schlanke Kirchturm. Auf dem breit geschwungenen Kirchdach hockt rittlings ein großer Korb. Eine Brutaufforderung an Störche. Das Grundgerüst zum Nestbau ist allerdings leer. Wahrscheinlich haben die wenigen Störche heutzutage eine breite Auswahl an Wohnmöglichkeiten. Nein, diesmal gehen wir nicht dahin, werden sie sich gesagt und das nächste Dorf ausgewählt haben. Es ist, als ob der leere Nistplatz die verlorene Seele des Dorfes symbolisiert. Eigentlich ist alles da: die Hügellandschaft, das Licht, einige alte Häuser, die Kirche, der Dorfbach. Neugierig blickt Tanner in den Innenhof eines alten Bauernhofes, dessen Eingangstor an den Eingang einer Burg erinnert. Zwei dickliche Hofhunde preschen plötzlich bellend und keuchend um die Ecke. Tanner geht sofort in die Knie und streckt seine Hand aus. Etwas irritiert stoppen die beiden zähnefletschenden Ungetiere und gucken ihn mit schräg gestelltem Kopf an. Aus der Remisentüre dringt eine scharfe Stimme. Jetzt erscheint die Gestalt zur Stimme, die beruhigend und in sympathisch badischem Dialekt auf die Hunde einredet. Ein groß gewachsener, knochiger Bauer mit weißem, spärlichem Haar begrüßt Tanner. Der erhebt sich, stellt sich vor und fragt den Bauern, ob er die Familie seines Großvaters kenne.

Er streicht sich über den Kopf und meint, dass von dieser Familie ja seit langem niemand mehr hier am Ort lebe. Tanner fragt, ob er wenigstens wisse, wo die Familie gelebt habe, aber er schüttelt den Kopf und beeilt sich wieder zu seiner Arbeit zu gehen. Kaum ist der Bauer in der Remise verschwunden, stehen die beiden Hunde sofort wieder auf und beginnen zu knurren. Tanner tritt den Rückzug an und setzt seinen Gang durchs Dorf fort.

Irgendwie hat er sich seinen Besuch im Geburtsort seines Großvaters etwas anderes vorgestellt. Aber wie? Dass er ihm hier begegnen würde? Nein, aber vielleicht hat er gehofft, ein Dorf anzutreffen, das seit der Zeit unverändert vor sich hin schlummerte, wodurch er sich die damalige Zeit besser hätte vorstellen können.

Hinter der Kirche liegt ein überraschend großer Friedhof. Wenigstens gibt es hier Schatten.

Mal sehen, vielleicht erzählen die Toten mehr als die Lebenden.

Langsam und aufmerksam die eingravierten Namen lesend, schreitet er den vorwiegend in glatt poliertem Dunkel gehaltenen Grabsteinen entlang, als ob er eine Parade abnehmen würde. Nach der Qualität der Steine zu urteilen, muss es sich im Durchschnitt um eine reiche, zumindest gut situierte Gemeinde handeln. Immer wieder fallen gleiche Familiennamen auf. Aber auf Anhieb kann er den Familiennamen seines Großvaters nicht entdecken. Kein Wunder, wenn die meisten schon vor hundert Jahren nach Amerika ausgewandert sind. In einer separaten Abteilung des Friedhofs entdeckt Tanner, gruppiert um ein bronzenes Denkmal, ein regelrechtes Massengrab. Die Opfer eines Grubenunglücks. An die siebzig Opfer bei einem einzigen Unglück. Offensichtlich handelte es sich um ein Kalibergwerk, das Anfang der Siebzigerjahre stillgelegt wurde. Ist mit der Schließung das Leben im Dorf erloschen?

Im Moment, als Tanner sich auf eine Bank setzen will, klingelt sein Mobiltelefon. Zuerst hört er eine Weile nur ein Rauschen, dann von ganz weit weg eine fremde Stimme. Er muss einige Male ins Telefon rufen, bis er den Namen versteht.

Hier ist Michiko … Michiko! Sie haben uns doch Ihre Telefonnummer gegeben. Ich arbeite im Schlaraffenländli. Sie waren bei mir, gestern. Wissen Sie, wer ich bin? Sie waren ja nur ganz kurz bei mir – Tanner unterbricht ihren Redeschwall, den sie leise und keuchend von sich gibt, als ob sie Angst habe, dass jemand sie belauscht. Er sagt ihr, dass er sie nicht so schnell vergessen hätte.

Ja, Entschuldigung, seien Sie mir bitte nicht böse. Ich muss Sie dringend sehen. Ich muss Ihnen etwas ganz Wichtiges sagen! Etwas, das ich unter keinen Umständen am Telefon sagen kann, verstehen Sie? Es ist ganz wichtig. Können Sie heute Nacht kurz vor Mitternacht beim Brunnen am Theater sein, bitte? Wissen Sie, dieser Brunnen mit den lustigen Maschinen …? Der Rest geht im Rauschen einer plötzlichen Störung unter. Dann endet die Verbindung abrupt. Oder hat sie aufgelegt, um ihm die Möglichkeit zu nehmen, Nein zu sagen? Er beschließt, sie zurückzurufen. Ihre Nummer ist jetzt in seinem Telefon gespeichert. Ihre Angst, die er so deutlich gespürt hat, legt sich kalt um sein Herz. Seine Hand zittert leicht, als er ihre Nummer wählt. Viermal ertönt das Zeichen, dann meldet sich eine Automatenstimme. Beunruhigt beendet er seinen Versuch. Er steht immer noch still, unfähig sich zu bewegen.

Auch Michiko ist unfähig, sich zu bewegen. Die kräftigen Hände des Mannes, der hinter ihr steht, umschlingen ihren Hals. Hart stößt er seine Erektion an ihren Körper. Panik steigt in ihr auf. Sie spürt den Atem in ihrem Nacken. Sie kann nicht sprechen und nicht schreien.

Nicht, dass sie keine Luft bekommen hätte, aber die Angst schnürt ihr die Kehle zu. Die Hände betasten beinahe zärtlich ihr Gesicht. Dann umfasst die eine ihre Stirn, die andere wandert zu ihrem Genick. Sie weiß, was die Finger dieser Hand suchen. Eine bestimmte Stelle zwischen ihren oberen Halswirbeln. Und sie weiß, dass er die Stelle finden wird. Diese Hände haben immer alles gefunden, alles bekommen, was sie je suchten. Die Erkenntnis macht sie unvermittelt ruhig. Einst liebte sie diese Hände, die ihren Körper besser kennen als sie selbst. Sie spürt die anderen Männer im Raum, aber sie kann sich nicht umdrehen. Ihr Kopf ist wie im Schraubstock. Sie schließt die Augen. In ihren letzten Sekunden sieht sich als Kind. Sie spielte so gerne am Wasser. In ihren Ohren beginnt es zu rauschen. Dann spürt sie nur noch die Hitze in ihrem Genick.

Tanner steht immer noch starr. Seine Hand umklammert das Telefon.

Was will sie ihm mitteilen? Was kann so schlimm sein, dass sie es nicht am Telefon sagen kann?

Wohl oder übel muss er sich bis zu ihrem Treffen gedulden. Es muss ja irgendwie mit dem Tod des Japaners zusammenhängen. Was sollte sie ihm sonst zu sagen haben? Sie haben sich ja kaum kennen gelernt. Er hat sie zwar nackt gesehen, sie sogar kurz berührt, und zwar genau so lange, um mit Sicherheit sagen zu können, dass ihre herrliche Brust nicht nur aus Natur besteht, aber dann durchschnitt dieser grelle Schrei … und gleich darauf war er auch schon wieder draußen, ausgestoßen aus dem Schlaraffenland. Ohne von den Früchten genossen zu haben.

VIER

Zurück in der Stadt, weckt Tanner auf dem Zivilstandesamt ein paar Beamte auf, die von der übermächtigen Hitze überwältigt, ihre Siesta halten, ihm aber über seinen Großvater nichts, aber rein gar nichts, erzählen können, denn er existiert in ihren Unterlagen nicht. Natürlich, er ist weder in dieser Stadt geboren noch gestorben. Und geheiratet hatte er Tanners Großmutter wahrscheinlich in Deutschland oder in ihrem Geburtsort.

Meine Herren, Sie können wieder in Ihren Dornröschenschlaf zurücksinken … verzeihen Sie die Störung!

Mehr Glück hat Tanner in dem herrlich kühlen Staatsarchiv, über dessen Tor ein denkwürdiger Satz in Goldlettern prangt: Gott lässt seiner nicht spotten.

Interessanter Hinweis, denkt Tanner amüsiert, aber was ist damit gemeint? Ist es eine Feststellung oder eine furchtbare Drohung? Droht der Satz mit dem berühmten Blitzschlag, der denjenigen treffen soll, der sich über Gott lustig macht?

Tanner geht in den Lesesaal im ersten Stock. Nachdem er knapp sein Anliegen dargelegt hat – und zwar flüsternd, denn die Atmosphäre legt Flüstern nahe –, verweist ihn der zuständige Beamte, dessen Gesichtshaut längst die Farbe und Konsistenz von alten vergilbten Dokumenten angenommen hat und der offensichtlich gerade mit seiner Frau telefoniert, mit majestätischer Geste zu einem immensen Bücherbord voller Adressbücher der Stadt und bemerkt lässig, man müsse jede Suche ganz banal im Adressbuch beginnen, alles Weitere ergäbe sich dann schon. Tanner verbeugt sich stumm vor so viel Weisheit und begibt sich zu besagtem Bücherbord. Tatsächlich stößt er nach ein wenig Blättern auf erste Lebensspuren seines Ahnen.s 1924 taucht sein Name das erste Mal in einem Vorort der Stadt auf. Sein Großvater war offenbar Hilfsschreiber. Was ist bitte ein Hilfsschreiber? Hilft er dem Schreiber beim Schreiben? Vielleicht darf der Hilfsschreiber die Bleistifte vom Chefschreiber spitzen oder die Enden von Gänsefedern schärfen? Farbbänder von Schreibmaschinen auswechseln? Im Adressbuch 1927 ändert sich die Berufsbezeichnung. Er ist jetzt Magaziner, nicht mehr Hilfsschreiber. Nach den sehr fragmentarischen Erzählungen seiner Mutter war er tatsächlich ein einfacher Magaziner in einem Familienunternehmen gewesen, das führend auf dem Gebiet Starkstrom war. Die Firma existiert übrigens heute noch, auch wenn sie wahrscheinlich kein Familienunternehmen mehr ist. Um diese Firma wird Tanner sich noch kümmern, denn dort begann die Geschichte der Krankheit seines Großvaters. Nach Aussage seiner Mutter ist dort etwas passiert, woran dieser schuld gewesen sein soll …

Wie auch immer, bis 1936 findet Tanner insgesamt drei Adressen. Dann verschwindet der Name seines Großvaters plötzlich. Stattdessen ist nur noch seine Frau, also Tanners Großmutter, aufgeführt. Zu diesem Zeitpunkt ist wohl klar geworden, dass der Mann krank ist und krank bleiben würde. Flüsternd wendet Tanner sich an den Beamten, der schon wieder, diesmal mit Augenrollen gegen einen unsichtbaren Beamtenhimmel, sein sicher wichtiges Privatgespräch unterbrechen muss. Wie es denn jetzt weitergehe mit seiner Suche, will Tanner bescheiden wissen. Es gehe gar nicht weiter, spricht der Vielbeschäftigte mit wichtiger Miene. Er, Tanner, müsse nun ein schriftliches Gesuch an das Staatsarchiv stellen, denn die weitere Suche würde ein angestellter Forscher übernehmen. Gegen Bezahlung, versteht sich. Und zwar für fünfundneunzig Franken pro Forscherstunde. Es könne ja nicht jeder selber in den Dokumenten wühlen, das sei doch klar, so weit käme man noch, Datenschutz und so.

Aha! Ja so!

Jetzt weiß Tanner endlich Bescheid und der Beamte kann seelenruhig sein Telefongespräch weiterführen. Tanner holt tief Luft und überlegt sich, ob er ausnahmsweise seinen abgelaufenen Dienstausweis zu Hilfe nehmen soll. Die im Lesesaal anwesenden Personen, die bis jetzt allesamt ruhig über ihre jeweiligen Bücher, Akten oder Notizen gebeugt waren, blicken ihn erwartungsvoll an, denn der Beamte hat, um seiner Auskunft Nachdruck zu verleihen, plötzlich die Flüsterebene verlassen und mit Stimme gesprochen. Tanner lächelt einer rothaarigen Frau zu, die ihn ebenso erwartungsvoll fixiert wie alle anderen. Während sie an ihrem Bleistift knabbert, vor sich das größte Buch, das Tanner je gesehen hat, zuckt sie mit den Schultern. Das soll wohl heißen, da kann man nichts machen. Wie gesagt, Tanner lächelt, dreht sich um und verlässt den Raum. Also wird er halt in Gottes Namen untertänigst ein Gesuch schreiben.

Draußen in der Enge der Gasse, die sich zurück zum Münster schlängelt, empfängt ihn wieder die lastende Hitze. Er glaubt zu ersticken. Um Atem ringend hält er sich an einer Mauer fest. Kein Wunder, dass weit und breit niemand zu sehen ist. Schließlich warnen die Behörden ja täglich vor dem viel zu hohen Ozongehalt in der Luft.

Also, Tanner, langsam Luft holen und nicht an der Mauer festwachsen.

Sein nächstes Ziel ist die Redaktion der Stadtzeitung. Eine alte Bekannte aus seiner Schulzeit war dort Redaktorin für Verbrechen, Vermischtes und Todesanzeigen. Wenn er Glück hat, ist sie es noch. Auf der Fahrt vom Geburtsort seines Großvaters in die Stadt hat sich Tanner überlegt, dass es vielleicht sinnvoll wäre, seine Bekannte, die ihn immerhin in der Schule einige Male in brenzligen Situationen hat abschreiben lassen, aufzusuchen. Um sie über den Toten aus dem Schlaraffenländli auszufragen.

Martha Vogel, das pausbäckige Landmädchen mit den knarzenden Schuhen aus einem abgelegenen Kaff im Umland der Stadt. Das Mädchen, das bei jeder Gelegenheit rot anlief wie ein reifer Apfel. Tanner mochte sie irgendwie gern. In der Klasse war sie nicht besonders beliebt. Sie war nicht der Mode entsprechend gekleidet, zudem verwendete sie kein Deo und sie war in allen Fächern schlicht und ergreifend die Beste. Sie hatte ihre Hausaufgaben ausnahmslos immer perfekt gemacht. Wahrscheinlich als Einzige. Die Kombination dieser Eigenschaften machte sie zur Außenseiterin. Vielleicht mochte Tanner sie deswegen. Wahrscheinlicher ist, dass er von der uneingeschränkten Bewunderung dieses Mädchens geschmeichelt war. Die zeigte sie natürlich nicht offen, dazu war sie viel zu schüchtern.

Nur einmal, auf einem Schulausflug in den Bergen, verriet sie sich quasi in aller Öffentlichkeit. Der Lehrer hatte von der einsamen Höhe seiner Weisheit herab angeordnet, dass bei der Überquerung einer steilen, abschüssigen Stelle jedes Mädchen die Hand eines Jungen nehmen sollte. Tanner wollte flugs seine Hand – ihren Rucksack trug er ja schon, zusätzlich zu seinem eigenen – seinem damaligen Schwarm reichen, einem der beiden tschechischen Fräuleinwunder, die nach der Flucht aus dem Ostblock wie exotische Schmetterlinge in ihrer Klasse gelandet waren. Exotisch, weil sie zwei Jahre älter waren als der Durchschnitt der Klasse, weil sie aus der gefährlichen Fremde kamen und – weil sie schon richtige Frauen waren. Tanners Schwarm hatte einen Busen, der das schweizerische Mittelmaß bei weitem überstieg. Und dann trug sie jeden Tag eine dieser blütenweißen Blusen, bei denen gut die Hälfte der Knöpfe nie in Kontakt mit den für sie vorgesehenen Knopflöchern kamen, ja nicht einmal etwas von deren Existenz ahnten, so weit offen trug das arme Flüchtlingskind aus dem bösen Ostblock seine Blusen. In dieser Zeit ging Tanner richtig gern zur Schule. Er organisierte freiwillig eine große Ausstellung über den Einmarsch der russischen Panzer bei den lieben Pragern, nur um seiner Exildame zu gefallen. So erlebte wenigstens Tanner seine Frühlingsgefühle, nachdem der große politische Frühling in Prag platt gewalzt worden war.

Zurück zur abschüssigen, steilen Wegstelle. Tanner wollte also gerade die männlich starke Hand seinem Schwarm reichen, da sprang Martha Vogel mit ihren klobigen Bergschuhen herbei und packte sich besitzergreifend seine Hand. Ihre Hand war klein, fest und – nass vor Schweiß. Ihre blauen Augen leuchteten ihn an und Tanner brachte es nicht übers Herz, die Hand, die ihn so stürmisch ergriff, abzuschütteln. Alles kicherte natürlich. Tanner nahm die Herausforderung an und geleitete die ihm Anvertraute über die gefährliche Stelle. Dafür wurde er dann mit leckeren Käsebroten aus Martha Vogels Rucksack verköstigt. Auch durfte er anschließend in der Schule jederzeit von ihrer fleißigen Arbeit profitieren.

Wenn sie also noch in der Redaktion arbeitet, wird sie ihm sicherlich mit Informationen aushelfen.

Kurze Zeit später steht er schweißüberströmt an der Rezeption des großen Zeitungshauses. Und er hat Glück. Ein dürrer Mensch an der Rezeption gibt ihm näselnd, aber freundlich, im breitesten Stadtidiom, Bescheid. Ja, die Frau Doktrrr Vooogl sei im Hause, er müsse aber noch etwas Geduuuld haben, sie sei gerade in einer Sitzung. Also nimmt Tanner Platz und durchforstet die heutige Zeitung, auf der Suche nach einer Notiz über den toten Mann aus dem Schlaraffenländli. Das müsste doch für die Zeitung ein gefundenes Fressen sein. Ein Toter im Puff. Dazu noch ein Ausländer. Was für ein Schlagzeilenglück im journalistischen Sommerloch.

Tanner findet nichts und beginnt sich gerade zu wundern, als der Dünne mit den Armen fuchtelt und ihm bedeutet, er könne jetzt mit dem Lift in den zweiten Stock fahren, drittes Büro rechts …

Bevor Tanner an die geschlossene Bürotür klopft, holt er tief Luft.

Da niemand antwortet, geht er hinein.

Hallo, Frau Doktor, darf ich eintreten?

Aus der Tiefe eines sich anschließenden Raumes ertönt eine energische Stimme. Er solle einfach hereinkommen, sie sei sofort da. Enttäuscht stellt er fest, dass ihm die Stimme gar nicht bekannt vorkommt. Viel zu energisch und zu bestimmt, als dass sie zu der erinnerten Gestalt passen würde.

Das Büro von Frau Doktor Vogel ist höchst spartanisch eingerichtet. Unschlüssig steht Tanner mitten im Raum. Soll er sich setzen? Die Entscheidung wird ihm durch das Eintreten einer äußerst attraktiven Frau mit kurz geschnittenen, schwarzen Haaren abgenommen. Elegante Hosen und ein dunkelgrüner Pullover aus Kaschmir betonen ihre schlanke Figur. Sie kommt rückwärts gehend in den Raum, stößt die Tür mit dem Schwung ihrer Schultern auf, denn sie trägt einen Stapel Manuskripte in beiden Händen. Jetzt sieht sie den Besucher mit ihren großen blauen Augen an und friert mitten in der Bewegung ein. Tanner hebt die Hand zu einem lässigen Gruß, aber auch seine Bewegung bleibt mitten in der Luft stehen. Kann diese Frau das Landei aus Tanners Erinnerung sein? Diese Augen?

Bevor Tanner seine Erkundung fortsetzen kann, wird die äußere Bürotür, durch die Tanner soeben eingetreten ist, mit lautem Knall aufgestoßen und eine forsche Männerstimme in Baritonlage überschwemmt die angehaltene Zeit und Stille im Raum. Ein mächtiger Körper folgt der raumfüllenden Stimme.

Marthalein, ich habe unter Einsatz meines Leben alle Unterlagen besorgt, die du so dringend … oh, pardon, ich sehe, du bist nicht allein. Guten Tag. Stettler, ich bin hier das Mädchen für alles. Martha, ich bin in meinem Büro, wenn du noch Fragen hast. Hiermit habe ich mir aber ein schönes Nachtessen mit anschließendem Dessert mehr als verdient, oder?

Ohne eine Antwort abzuwarten, schickt er einen ziemlich feuchten Schmatz durch das Zimmer, ungefähr in Richtung von Marthas leicht geöffneten Lippen. Jetzt hat Tanner die Gewissheit, dass es sich um niemand anders als um seine ehemals sehr unscheinbare und sehr schüchterne Schulkollegin Martha Vogel handelt. Denn das stürmische und laute Intermezzo hat ihre Wangen aufs Schönste entflammt. Sicher sehr zu ihrem Leidwesen. Aber sonst! Was für eine Veränderung! Wie weggezaubert sind die leicht gebückte Haltung und die meist schräge Kopfhaltung, an die sich Tanner erinnert. Aufrecht und schlank steht sie vor ihm mit klarem Blick. Ein äußerst erstaunter, kritischer Blick.

Die kurz geschnittenen Haare bringen ihre großen Augen und ihre glatte Stirne wunderbar zur Geltung. Das Alter kann dieser Frau offensichtlich nichts anhaben.

Hallo, Tanner. Du bist doch Tanner, oder? Hat dir der Auftritt von Stettler die Sprache verschlagen. Stettler ist mein Chef. Von wegen Mädchen für alles. Er untertreibt gerne … äh, er übertreibt gerne … also ich meine …

Martha Vogel! Du …! Nicht Stettler, du hast mir die Sprache verschlagen. Ich habe dich kaum wiedererkannt. Das ist ja unglaublich … also, ich meine … also, ich will sagen, du bist so …? Richtig schön bist du geworden.

Ach, jetzt hör doch auf. Fang du nicht auch noch an. Ich hasse es, wenn Männer übertreiben. Zudem werde ich immer noch rot, wie du siehst. Und das hasse ich ganz besonders. Willst du dich nicht setzen? Soll ich uns etwas bestellen? Tee? Wasser? Oder willst du ein Bier?

Sie redet ziemlich schnell, wahrscheinlich um von ihren geröteten Wangen abzulenken. Endlich legt sie den Stapel Manuskripte ab. Sie setzt sich auf ihren Tisch, verschränkt die Arme und lässt die Beine baumeln. Tanner betrachtet bewundernd ihre italienischen Schuhe mit den hohen Absätzen. Nichts mehr von knarzenden Bergschuhen.

Ja, Tanner, viel Zeit ist vergangen. Du bist ja zu keiner Klassenzusammenkunft gekommen. Der Herr Kommissar war ja immer viel zu beschäftigt. Jetzt müssen wir die geballte Ladung unserer Veränderungen auf einmal aushalten. Und dieses erschreckende Gefühl, dass die Zeit schneller vergeht, als wir uns das je vorgestellt haben.

Dann lacht sie unvermittelt ein erstaunlich helles Lachen. Und lässt den Oberkörper auf ihre Schenkel fallen, umfasst mit ihren kleinen, kräftigen Händen beide Fußgelenke. Eine ganze Weile verharrt sie so, auch als das Lachen längst verstummt ist. Tanner schweigt und wartet. Nach einer kleinen Ewigkeit bäumt sich ihr Körper auf, sie springt auf die Füße und geht schnell hinter ihren Schreibtisch. Mit dem Rücken zu Tanner, reibt sie sich die Augen. Als sie sich Tanner zuwendet, schimmern sie immer noch feucht.

Also, Tanner, was verschafft mir die Ehre deines plötzlichen Besuches?

Er seufzt und schaut interessiert an die Decke. Offensichtlich hat sich Martha nach einem Moment der Rührung entschlossen, zu einer Art Förmlichkeit zurückzufinden. Er begreift erst in diesem Moment, dass er den Fall des toten Japaners nicht ansprechen kann, ohne dass offensichtlich wird, dass er selber Besucher dieses Etablissements war. Warum ihn das plötzlich stört, obwohl er sich selber kaum als prüde bezeichnen würde, ist ihm im Augenblick auch klar. Es sind die Augen und das offene Gesicht von Martha.

Tanner, ich habe dich, glaube ich, etwas gefragt. Ich habe leider heute nicht so viel Zeit.

Martha, gestern ist in dieser schönen Stadt ein Mann japanischer Herkunft in einem dieser Etablissements, die offiziell nicht existieren, in den Armen einer sehr existierenden Liebesdienerin gestorben. Die Hitze kann es nicht gewesen sein, die Räumlichkeiten verfügen über Aircondition. Außer, die junge Dame wäre zu hitzig gewesen. Ich meine, für den Herrn. Er sei allerdings ein gut trainierter Mann im besten Alter gewesen. Man hat dann die Polizei gerufen. Was ja in so einem Fall auch vernünftig und normal ist. Was eher nicht so normal scheint, ist die Tatsache, dass in eurer Zeitung nicht die kleinste Information über diese traurige Begebenheit geschrieben steht. Ist das einer ungewöhnlichen journalistischen Diskretion zu verdanken oder wisst ihr nichts davon?

Martha schaut eine Weile schweigend zum Fenster hinaus. Tanner wird in dem Augenblick bewusst, dass er während der Schulzeit vier volle Jahre auf derselben Höhe mit Martha saß, getrennt nur durch einen schmalen Gang. Wie hatte er während dieser ganzen Zeit das Profil von Martha Vogel übersehen können?

Zu seinen Gunsten sagt sich Tanner allerdings, dass er damals, wenn er sie von der Seite ansah, meistens nur zerzauste Haare sah. Heute verstellt keine einzige Haarsträhne den Blick auf die ebenmäßige Linie, die Stirn und Nasenrücken bilden. Freie Sicht auf volle Lippen und auf den frech herausfordernden Schwung der Linie, die unterhalb der Nase die Verbindung zur Oberlippe bildet. Martha blickt ihn einen Moment zögernd an. Hat sie gespürt, wie genau Tanner sie beobachtet? Sie greift energisch zum Telefonhörer. Während sie auf die Verbindung wartet, reibt sie einen imaginären Fleck auf der Tischplatte weg.

Hör mal, wisst ihr was von einem toten Ausländer …? Gestern Abend! Ja, im Milieu …! Nein? Gar nichts? Ach, ich habe nur so ein Gerücht gehört … nein, nein. Danke. War nur aus alter Gewohnheit. Ja … entschuldige die Störung. Danke. Wie? Das mit Stettler …? Das ist auch nur ein Gerücht. Und dazu noch ein ganz blödes. Vergiss es, so weit kommt es noch! Also danke.

Martha legt betont sorgfältig den Hörer auf. Während des kurzen Gesprächs hat sie sich auf ihrem Drehstuhl von Tanner weggedreht. Bei der Erwähnung von Stettler fährt sie sich durch ihr Haar, zwirbelt eine Strähne um ihre Finger und verweilt schließlich bei einem kleinen Muttermal am Hals. Dann dreht sie sich entschlossen wieder zu Tanner.

Also, du hast es ja gehört. Die wissen nichts von deinem Toten.

Tanner gibt sich Mühe, sein unschuldigstes Gesicht zu machen. Denn schon bereut er, überhaupt gefragt zu haben. Es wird ja doch nichts bringen, außer einer Reihe hartnäckiger Nachfragen. Und die, die werden kommen, wie das Amen in der Kirche. Das wäre Tanner auch klar, wenn er nicht das schelmische Funkeln in den Augen von Frau Doktor Vogel bemerken würde. Also geht er zum Angriff über …

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