Kitabı oku: «Die Schneckeninsel»

Yazı tipi:

Innerhalb von neun Jahren haben sich drei Frauen im No­belinternat für Mädchen in den Bergen ­umgebracht, da ist etwas faul, so viel ist Serge Michel von der Berner Mordkommission, früher Abteilung Leib und Leben, klar. Da dort gerade eine Ferien­vertretung des Kochs gesucht wird, bittet er seinen Freund Simon Tanner, als solche anzuheu­ern und sich um­zusehen.

Es klappt. Als erstes putzt Tanner die Küche und krempelt den Speiseplan um, zur augenblicklichen Begeis­terung aller. Dann steht schon der nächste Tote ins Haus.


Foto Yvonne Boehler

Urs Schaub, geboren 1951, arbeitete lange als Schauspielregisseur und war Schauspieldirektor in Darmstadt und Bern. Als Dozent arbeitete er an Theaterhochschulen in Zürich, Berlin und Salzburg. 2003–2008 leitete er das Theater- und Musikhaus Kaserne in Basel, 2006–2010 war er Kritiker im «Literaturclub» des Schweizer Fernsehens. Urs Schaub lebt in Basel.

Urs Schaub

Die

Schneckeninsel

TatortSchweiz

Limmat Verlag

Zürich

Prolog

Er würde sich nur mit seinem Tod zufriedengeben.

Aber wo hatte er dieses Gesicht schon einmal gesehen? Ein breiter Schädel mit hohen Wangenknochen, niedriger Stirn und wild wuchernden Augenbrauen. Die Wangen blau schimmernd. Um die Augen und die Nase flechtenartig rote Äderchen. Seine Lippen wie Lefzen eines Bluthundes.

Er hatte bereits seit dem Betreten des Museums das Gefühl, beobachtet zu werden. Er tat es als Hirngespinst ab und konzentrierte sich auf die Sammlung, die er seit seiner Jugendzeit nicht mehr gesehen hatte. Unglaublich, diese Massen an Knochen von gigantischen Walfischen, von mächtigen Dinosauriern mit Wirbeln so dick wie Bäume bis zu den kleinsten Le­be­wesen mit winzigen zierlichen Skeletten.

Bei einem Schaukasten mit eingelegten Herzen und Hirnen starrten ihn unvermittelt die stechenden Augen aus einer verwüsteten Gesichtslandschaft an. Im ersten Augenblick dachte er, die Gestalt gehöre zur Ausstellung: ein Frühmensch, ein Neandertaler vielleicht. Aber sie zeigte plötzlich mit einem riesigen Buschmesser auf ihn und öffnete den Mund, als ob er einen Schrei ausstoßen wollte. Aber er blieb stumm. Er blickte sich um, ob jemand hinter ihm gemeint sein könnte, da war niemand. Im selben Moment stürmte der Mann los – und jetzt war es eindeutig: Der Mann meinte ihn. Er drehte sich auf dem Absatz und stürmte los, hoffte auf Personal zu stoßen, aber der riesige Saal leer. Er kurvte, so schnell es das rutschige Parkett zuließ, um einige Schaukästen voller Tierskelette, schlug einige Haken, sprang über die Absperrungen zwischen den Schaukästen und erreichte die geschwungene Treppe an der Längsseite des Saales. Er nahm zwei Tritte aufeinmal und gelangte schwer atmend zu einem Balkon, von dem man einen Überblick über die ganze Sammlung im Saal hatte. Er sah seinen Verfolger, wie er direkt unter ihm in dasselbe Treppenhaus einbog, durch das er eben hochgekommen war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er ein blaues Arbeitsgewand trug, genau wie sein Vater. Er raste weiter, nahm die Treppe ins erste Stockwerk. Auch dieser Saal war leer. Keine Besucher – und weit und breit keine Aufsicht.

Er schwitzte, und sein Herz schlug einen beängstigend rasenden Rhythmus. Waren hier nicht eben noch unzählige Besucher gewesen? Wohin waren die alle verschwunden?

Auf einer glitschigen Stelle des Parkettbodens rutschte er aus und fiel hin. Seine Hände waren voll zähen Schleims. Angewidert versuchte er sie an seinen Hosen abzuwischen und bemerkte, dass der ganze Boden mit diesem Schleim bedeckt war. Der Ekel packte ihn. Da kam der Mann mit einem gewaltigen Sprung um die Ecke, das Buschmesser hielt er hoch in die Luft. Er warf sich blitzschnell um die Ecke, das Messer kam mit einem üblen Zischen herangeflogen und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Es fraß sich mit einem knirschenden Geräusch tief ins Holz. Er griff nach dem Messer und zog mit aller Kraft, aber er rutschte auf dem glitschigen Boden aus. Er hörte, wie auch sein Verfolger ausrutschte und hart auf den Boden fiel. Das verschaffte ihm erneut einen kleinen Vorsprung. Er kroch durch die Halle, überquerte einige Absperrungen und befand sich kurz darauf im Haupttreppenhaus. Dort versteckte er sich schwer atmend hinter einem frei stehenden Korpus und lauschte nach seinem Angreifer. Der Schweiß lief ihm in Strömen übers Gesicht. Er zog sich die Jacke aus. Auf einen Schlag roch es so stark nach Lavendel, als hätte ihn jemand mit einer Sprühdose eingenebelt. Er griff in seine Hosentasche. Sie war voller Lavendelblüten. Auch die zweite Tasche war voll. Wie um alles in der Welt kamen die Lavendelblüten in seine Hosentaschen? Er leerte sie und suchte hektisch nach irgendeiner Waffe zu seiner Verteidigung. Er fand eine Schachtel und öffnete sie. Sie war voll mit wunderbar farbig verzierten Schneckenhäusern. Er nahm ein besonders schönes Exemplar in die Hand. Es war überraschend schwer. Plötzlich streckten sich Fühler aus dem Haus, dann erschien der ganze Schneckenkopf. Der Schneckenkopf besaß ein menschliches Antlitz. Vor Schreck ließ er sie in die Schachtel zurückfallen. Daraufhin fingen alle anderen Schneckenhäuser an, sich zu bewegen. Er schloss die Schachtel und warf sie mit aller Kraft in den Saal. Sie krachte irgendwo in einen Schaukasten, der mit ohrenbetäubendem Lärm zu Bruch ging. Oh Gott, was kostet wohl so ein Schaukasten? Und was passierte jetzt mit den Schnecken? Er schlich zum Treppenhaus, schwang sich aufs Holzgeländer und rutschte in einem halsbrecherischen Tempo herun­ter. Auch das Geländer war glitschig. Wo kam plötzlich dieser Schleim her?

Er erreichte mit wenigen Schritten die Eingangstür. Sie war verschlossen.

Wieso das denn?

Jetzt sah er, dass es draußen bereits Nacht war. Panik überfiel ihn. Vom oberen Stockwerk hörte er urtümliche Laute. Er schwang sich hinter den Informationskorpus. Er suchte erneut hektisch nach irgendeiner Art Waffe, fand aber nichts außer einem ziemlich langen Verlängerungskabel. Er lauschte nach oben. Noch war der Feind offenbar weiter weg. Er überquerte leise die Treppe, verknotete das Kabel an einem mächtigen gusseisernen Heizkörper und zog es zurück bis hinter die Säule auf der anderen Seite der Treppe. Er ließ das Kabel schlaff auf der Treppe liegen, kauerte sich hinter die Säule und wartete auf seinen Verfolger. Er wusste, dass er nur einen einzigen Versuch hatte.

Bald schon hörte er seine schweren Schritte auf der Treppe. Er drückte sich hinter die Säule und hoffte inständig, dass sie ihn ganz verbarg. Die Schritte kamen näher und näher. Und dann kam der Moment: Er schoss in die Höhe und zog wie verrückt am Kabel. Die schwere Gestalt ächzte auf und stürzte, drehte sich um ihre eigene Achse, fiel wie in Zeitlupe, aber unerbittlich – und schlug schwer mit dem Genick auf die unterste Treppenstufe. Es gab ein hässliches Geräusch, als ob trockenes Holz brechen würde. Das lange Messer schepperte über den Marmorboden. Die weit aufgerissenen Augen des Mannes waren gebrochen.

Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren, griff nach einem schweren Eisenständer, holte gewaltig aus und durchbrach die Scheibe der Eingangstür. Einen Augenblick später schrillte die Alarmglocke. Er rannte wie ein Verrückter – wie er nach Hause gekommen war, war ihm ein Rätsel. Aber er schaffte es, zog sich aus und legte sich sofort ins Bett. Er konnte nur noch eines denken: Jetzt bin ich ein Mörder. Jetzt bin ich ein Mörder. Ich habe einen Menschen umgebracht – auch wenn es Notwehr war. Ich bin ein Mörder – auch wenn es Notwehr war. Ich bin ein Mörder …

Als er aufwachte, schrillte die Alarmglocke immer noch. Schweißgebadet lag er in seinem Bett. Dann schreckte er plötzlich hoch und griff sich an seine Stirn.

Das ist die Hausglocke!

Er rannte ins Bad und holte seinen Morgenmantel.

Dann fiel ihm ein, dass er seine Jacke im Museum hatte liegen lassen.

Mein Gott! Das ist die Polizei. Die haben mich anhand der Jacke identifiziert. Ein Kinderspiel!

Er eilte zur Tür, dabei fiel sein Blick auf die Garderobe, und da – da hing seine Jacke.

Ein Traum! Es war ein Traum gewesen!

Die Hausglocke schwieg. Er ging die alte Steintreppe des Maison Blanche hinunter, drehte den mächtigen Schlüssel und riss die schwere Holztür auf.

Mist!

Er war zu spät. Er sah gerade noch den hinteren Teil eines schwarzen Autos verschwinden. Er rannte über den Kiesplatz, durch das Tor auf die Straße und winkte heftig mit den Armen. Zu spät. Das Auto brauste davon.

Das konnte nur Michel gewesen sein!

Er lehnte sich erschöpft an die Mauer und betrachtete schwer atmend die zarten Farben, die der Spätsommer im Park des Maison Blanche bereits erahnen ließ. Bald würde eine Vielzahl von Gelb-, Braun- und Rottönen bis Violett um die Wette leuchten. Kein noch so luxuriöser Farbkasten könnte dann noch mit der Vielfalt dieses leuchtenden Farbenreichtums wetteifern.

Er schlenderte zum Brunnen, zog kurz entschlossen seinen Bademantel aus und legte sich ohne Zögern der Länge nach ins kalte Wasser. Schlagartig war sein ganzer Körper hellwach, und die Spuren seines Albtraums waren wie weggefegt. Nach einer heißen Dusche und einem ausgiebigen Frühstück rief er Serge Michel, seinen besten Freund an, der Kommissar bei der Mordkommission war, wie die Abteilung seit einiger Zeit hieß. Er mochte die alte Bezeichnung Leib und Leben viel lieber, aber die neue Zeit verlangte neue Begriffe. Unkraut hatte man ja auch in Begleitpflanze umgetauft.

Michel nahm sofort ab.

Ach, Simon, du lebst noch? Ich dachte schon, du hättest Dich heute Nacht stillschweigend auf und davon gemacht. Seit wann öffnest Du einem alten Freund nicht mehr?

Seit wann nannte Michel ihn beim Vornamen? Hatte er sich vielleicht doch Sorgen um ihn gemacht?

Ich war gerade unter der Dusche. Stell dir vor, Dicker. Ich weiß, du hältst nicht viel von täglicher Körperpflege. Elefanten machens ja mit Sand.

Er wollte Michel nichts von seinem Albtraum erzählen. Er würde ihn sowieso nur auslachen.

Michel schnaufte ungehalten.

Nenn mich nicht Dicker! Wie oft soll ich dir das noch sagen. Außerdem baden Elefanten sehr gerne. Hast du das vergessen? Auch ihre Liebesspiele machen sie sehr gerne im Wasser. Aber davon hast du natürlich keine Ahnung.

Gut, gut, beruhige Dich. Was wolltest du so früh am Morgen von mir?

Michel grunzte.

Früh? Ach ja, ich vergesse immer, dass der Herr nicht ar­beiten muss und von seinem Privatvermögen lebt. Verzeihen Sie, dass ich eventuell Ihr königliches Levee gestört habe.

Tanner stöhnte.

Also: Was willst du?

Michel räusperte sich ausgiebig. Er tat das immer, wenn er nicht so richtig wusste, wie er mit der Sprache rausrücken sollte.

Sags doch einfach.

Es gibt da eine etwas knifflige Sache …, aber das können wir unmöglich am Telefon besprechen.

Gut. Wann und wo?

Ich hole dich ab. Wir machen einen kleinen Ausflug. In einer Stunde.

Tanner war einverstanden. Er hatte eh nichts Besseres vor. Den Rasen hatte er erst gestern gemäht und auch alle sonst anfallenden Arbeiten im Park des Maison Blanche erledigt. Demnächst, wenn alle Blätter fallen, würde es wieder sehr viel Arbeit geben.

Nach exakt einer Stunde stand er vor dem Eingangstor des Maison Blanche und wartete auf Michel. Für einen normalen Montagmorgen war erstaunlich wenig Verkehr. Normalerweise donnerte um diese Uhrzeit ein Lastwagen nach dem anderen durch die enge Dorfstraße. Nach zehn Minuten seufzte er und setzte sich auf die kleine Mauer gegenüber der Einfahrt.

Er betrachtete einmal mehr mit Freude die Fassade und das riesige Dach des Maison Blanche. Was für eine Persönlichkeit! Er konnte sich einfach nicht sattsehen an der Symmetrie und Ausgewogenheit der Fassade. Warum war das so schön? Es war doch bloß eine Wand mit unzähligen großen und kleineren Fenstern. Früher war die Straßen- und die Eingangs­seite über und über mit Glyzinien bewachsen und hatte dem Haus etwas verwunschen Märchenhaftes verliehen. Seit der Renovation durch den neuen Besitzer war das Verwunschene endgültig verschwunden, dafür kam die geniale Mischung von ländlicher Behäbigkeit und adliger Grazie zu strahlender Geltung. Er kniff die Augen zusammen und versuchte sich vor­zustellen, wie die Kutsche mit Napoleons Geliebter Josephine mit knirschenden Rädern auf den kiesbestreuten Vorplatz einbog, mit aufgeregt tänzelnden Pferden, die den Hafer im Stall rochen. Sie wird wohl sehr müde gewesen sein nach der anstrengenden Fahrt von Paris. Wahrscheinlich hatte sie sich sofort ins Bett begeben. Tanner betrachtete die spiegelnden Fenster des Zimmers, in dem die hochherrschaftliche Dame eine Nacht geschlafen hatte. Hundert oder mehr Jahre später war das Haus zu einem Mädchenpensionat umfunktioniert worden.

Er schmunzelte.

Das hätte er gerne erlebt: Dieses Haus voll vom Lachen junger Mädchen – aus besseren Familien selbstverständlich. Er begann sich gerade auszurechnen, wie viele Mädchen in dem Haus Platz gehabt hatten, als Michel mit seinem dunklen Dienstwagen vorfuhr.

Entschuldige die Verspätung, aber du weißt ja, wie das ist. Als ich gerade gehen wollte, hat die Chefetage gerufen …

Er lächelte ein grimmiges Lächeln.

Ich soll dich übrigens recht schön grüßen.

Tanner nickte und machte es sich bequem.

Und? Wohin geht die Reise?

Michel tat geheimnisvoll.

Warts ab. Auf jeden Fall in die Berge.

Er blickte zu Tanner.

Du liebst doch die Berge, oder?

Ja, ja. Ich liebe die Berge. – Aber die Schönste ist doch immer noch die da drüben.

Tanner zeigte auf die andere Seeseite. Michel runzelte die Stirn.

Die? Wie darf ich das verstehen?

Für mich ist der Hügel da drüben eine Sie. Meine Geliebte so­zusagen. Sie ist das Erste, was ich am Morgen sehe, und das Letzte, was ich in der Nacht vorm Einschlafen sehnsüchtig anschaue.

Michel betrachtete ihn mit einem schiefen Blick.

Tanner deutete auf die Straße.

Da ist die Straße, Michel.

Michel lachte.

Es war mir schon immer klar, dass du ein bisschen anders bist, aber jetzt mach ich mir echt Sorgen.

Er tippte sich gegen die Stirn.

Verliebt in einen Hügel!

Sie sprachen erst wieder, als sie sich den Bergen hinter der Hauptstadt näherten.

Wie wäre es, wenn du mich endlich über Sinn und Zweck unserer Reise informiertest?

Warte, Tanner. Ich habe mir nun mal in den Kopf gesetzt, erst an Ort und Stelle anzufangen. Wir sind ja bald dort.

Gut. Weck mich, wenn mein Stichwort kommt.

Michel guckte ihn verständnislos an.

Ist ein Zitat. Fahr nicht so schnell.

Tanner streckte sich, schloss die Augen, überließ sich dem sanften Schaukeln des Autos und dem leisen Summen des Motors.

Michel rüttelte ihn am Arm.

Aufwachen! Wir sind da – oder wenigstens beinahe.

Tanner gähnte ausgiebig.

Oh, das war jetzt ein schöner Schlaf. Könntest du mich nicht öfter ausfahren?

Tanner richtete sich auf und rieb sich die Augen.

Oh, ich dachte, wir fahren in die Berge?

Ja, mach doch mal die Augen auf. Ringsum sind doch gewaltige Berge.

Ja, aber du hast doch gesagt, wir fahren in die Berge. Offenbar sind wir aber zu diesem See mit dieser Wahnsinnsfarbe gefahren. So ein Türkis gibt es nur hier. Und? Was sollen wir hier? Gehen wir schwimmen?

Michel schüttelte den Kopf.

Nein. Wenn der Herr mal aussteigen würde, könnte ich ihm etwas zeigen.

Sie stiegen aus.

Siehst du das Dorf da unten? Früher war das ein Fischerdorf. Heute ist es natürlich touristisch aufgemotzt worden, aber es hat immer noch einen ungeheuren Charme, finde ich.

Und was hat das mit uns zu tun?

Michel zeigte hinunter.

Dieses wunderbare weiße Haus dort auf der Landzunge. Wie ein Schloss würde ich sagen. Würde dir das gefallen?

Tanner schaute zu Michel.

Äh … bist du jetzt unter die Immobilienmakler gegangen? Ja, das würde mir gefallen. Wenn es nicht zu teuer ist, kaufe ich es sofort. Ich hoffe, die kleine Insel dort ist im Preis inbe­griffen.

Michel schmunzelte.

Okay, du kannst für eine Weile dort wohnen. Du musst nicht mal was zahlen.

Wohnen? Spinnst du? Und was soll ich dort?

Steig ein. Ich erklär es dir beim Essen. Ich lade dich ein. Wir fahren zurück in den Hauptort. Ich möchte nicht, dass man uns da unten gemeinsam sieht. Verstehst du?

Tanner nickte übertrieben bedeutungsvoll.

Ja, ja, mach dich nur lustig.

Sie fuhren schweigend bis zu einem Hotel im Chaletstil.

Hier gehen wir essen. Der Koch ist aus Wien, es gibt ein echtes Wienerschnitzel.

Als sie im leeren Speisesaal saßen und bestellt hatten, begann Michel sich endlich zu erklären. Er fing allerdings mit einer Frage an.

Hattest du schon einmal mit Pensionaten zu tun?

Tanner hob überrascht den Blick.

Nein. Sollte ich? Also, das Maison Blanche war ja mal eins. Gerade heute, als ich auf dich warten musste, habe ich wieder einmal daran gedacht. Gibt es das heute noch? Das war doch zu Großmutters Zeiten.

Michel ließ sich nicht beirren.

Ja, stell dir vor. Die nennt man heute natürlich anders. Es gibt in unserem Land an die hundert solcher Institutionen. Meist gemischt, mit total internationaler Klientel und schweineteuer, sag ich dir. Es gibt in unserem Land einige der besten und teuersten Internate dieser Welt. Einige in dünner Bergluft, andere an den schönsten Seen, in Schlössern mit mehreren Hektaren an parkähnlichen Umschwüngen. Für die teuers­ten blätterst du 70 000 Franken pro Jahr hin, vielleicht noch einen Einzelzimmerzuschlag von 50 000 Franken und so wei­ter. Die Angebotskataloge sind uferlos. In dem teuersten wer­den inklusive aller Extras rund 140 000 Franken fällig. Pro Jahr.

Hier im Weißen Schloss, das du gesehen hast, ist ein Institut, ein Internat, nur für Mädchen. Das ist selten geworden, aber es gibt immer noch Eltern, die nicht wollen, dass ihr Töchterchen zusammen mit Jungs in die Schule geht. Schon gar nicht, wenn es eventuell Hunderte oder gar Tausende Ki­lometer weit weg von zu Hause ist. Gegründet wurde es von einer Dame, die nicht mehr lebt und selber auf einer der berühmtesten reinen Mädchenschulen erzogen wurde, in der Miss Porters School in Old England. Die Mädchen tragen hier dunkelblaue Röcke und weiße Blusen, am Sonntag karierte Röcke, schwarze Blusen, dunkle Strümpfe und Schuhe mit Absatz.

Ich bin beeindruckt. Und da soll ich wohnen! Ist das eine Art Prüfung? Willst du mich in Versuchung führen?

Michel schwieg, denn das Bier wurde serviert.

Du bist ja wohl alt genug und wirst dich zusammennehmen können.

Er räusperte sich vielsagend.

So. Ich komme jetzt zur Sache.

Tanner verdrehte die Augen zum Himmel.

In den letzten neun Jahren haben hier drei Frauen Selbstmord begangen. Die Erste war als Lehrerin tätig, die Zweite als Erzieherin und die Letzte, die Assistentin der Internatsleitung, eine Mathilde de Mol, hat sich vor etwa fünf Wochen umgebracht. Sie stammte aus Holland. Die anderen zwei waren aus Frankreich und Belgien. Alle drei sind ins Wasser gegangen, wie es so schön heißt.

Tanner verzog sein Gesicht.

Soll ich jetzt dort die neue Assistentin werden?

Michel wischte sich mit der Serviette den Schweiß von der Stirn.

Nein, die suchen für einen Monat einen Chefkoch. Und du kannst doch kochen. Der Chef geht in die Ferien und der, der ihn normalerweise vertritt, muss zum Militär. Da war noch ein anderer, der ab und zu aushalf, aber der ist vor zwei Wochen an Krebs gestorben.

Ich sehe, du bist also kein Immobilienmakler, sondern ein Personalvermittler.

Michel knallte seine Serviette auf den Tisch.

Jetzt hör schon auf. Es ist mir sehr ernst damit. In dem Haus ist etwas faul. Drei Selbstmorde in neun Jahren. Der zuständige Kommissar in dem Bezirk hat mich darauf angesprochen. Er ist ein alter Freund von mir. Die ganze Sache stinkt zum Himmel. Die Gerichtsmedizin hat alles genauestens un­tersucht. Alle drei Fälle wurden eindeutig als Selbstmord dekla­riert. Es gibt objektiv gesehen keinen Zweifel, aber –

Tanner beugte sich zu Michel.

Aber? Du glaubst es nicht. Du hast so ein Gefühl. Stimmts?

Michel brauste auf.

Ja, und? Ich kann auch mal ein Gefühl haben, oder? Oder hast du dieses Gebiet für dich gepachtet?

Tanner hob beschwichtigend die Hände.

Nein, natürlich nicht. Willkommen im Klub.

In diesem Moment wurde das Wienerschnitzel serviert. Sie pressten die Zitrone über die riesigen, aufgeklappten Fleischblätter und wünschten sich einen guten Appetit.

Und? Habe ich zu viel versprochen?

Tanner schüttelte den Kopf.

Nein. Es ist nahezu perfekt.

Michel runzelte die Stirn.

Nahezu? Was soll das jetzt wieder heißen?

Tanner hob beschwichtigend die Hand.

Das Tier, von dem das Fleisch stammt, ist nicht in einem österreichischen Stall aufgewachsen.

Michel lachte dröhnend und stopfte sich ein riesiges Stück Schnitzel in den Mund.

Nein, nein, es schmeckt sehr gut. – Ich soll also einen Monat in dem Haus kochen und herausfinden, was dort faul ist. Sehe ich das richtig?

Michel nickte eifrig kauend.

Ihr könnt keine weiteren Untersuchungen vor Ort machen, weil die Fälle offiziell als Selbstmord abgehakt sind?

Michel nickte und grunzte.

Für so eine Stelle braucht es gute Referenzen und Zeugnisse. Wenn es sich um so ein teures und vornehmes Institut handelt, werden die doch genau wissen wollen, woher ein Koch kommt, auch wenn er nur eine sogenannte Aushilfe ist.

Michel grinste verschmitzt und überreichte Tanner ein dickes Kuvert.

Es ist für alles gesorgt. Keine Sorge. Wir sind schließlich keine Anfänger.

Tanner wog das Kuvert in der Hand und legte es beiseite.

Oh la la, da bin ich aber gespannt. Aber erst esse ich, wenn du einverstanden bist.

Michel nickte.

Wer leitet denn das Institut?

Ein gewisser de Klerk. Dr. Willem de Klerk. Stammt aus Holland.

Hieß nicht auch der Präsident von Südafrika so?

Ach so? Lenk jetzt nicht ab.

Wie alt?

Michel zeigte mit der Gabel auf Tanner.

Müsste etwa in deinem Alter sein. Nur etwas sportlicher.

Ha, ha! Hat er Familie?

Also, verheiratet ist er nicht. Aber seine Mutter ist im Hause. Er hat selber keine Familie.

Weiß dein Chef davon?

Es war sogar seine Idee. Aber offiziell weiß er natürlich von nichts.

Tanner nickte.

Gut. Ich verstehe. Werde ich bezahlt?

Ja, sicher. Wenn Du die Stelle bekommst, kriegst du natürlich einen Lohn. Du musst halt gut verhandeln.

Michel grinste und wischte sich den Mund mit der Serviette sauber.

Ist das alles?

Bei Erfolg liegt sicher eine Prämie drin. Wusste gar nicht, dass du so geldgierig bist. Du hast doch schon einen ganzen Haufen.

Ich möchte noch ein Bier.

Michel streckte in Richtung Buffet zwei Finger auf und deutete auf das Bierglas.

Du nicht! Du musst fahren!

Spielverderber!

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