Kitabı oku: «Die Schneckeninsel», sayfa 3
Sind Sie Mathematikerin?
Sie lachte.
Ich war Mathematiklehrerin, lange ist es her. Und heute beschäftige ich mich in den Morgenstunden mit Börsengeschäften, so ab vier Uhr, verstehen Sie. Wenn alle anderen noch schlafen, außer der weltweiten Börse – die ist quasi rund um die Uhr wach.
Und? Gewinnen Sie?
Sie drehte sich zu ihm.
Ja. Stellen Sie sich vor. Ich gewinne – und wie. Wahrscheinlich, weil ich nichts mehr zu verlieren habe. Wovor sollte ich Angst haben?
Sie lachte ihr raues Lachen.
Und wenn ich gewonnen habe, schlafe ich selig wieder ein.
Und am Nachmittag? Was machen Sie da? Spielen Sie weiter?
Nein.
Sie stand mit einem Ruck auf.
Geben Sie mir ihre Hand.
Tanner stand auf und reichte ihr die Hand.
Sie sollen mir nicht Auf Wiedersehen sagen, sie sollen mich stützen, ich will ins Bett.
Tanner stützte sie. Sie hatte angenehme Hände. Zart geradezu, wenn man an ihre raue Stimme dachte.
Sie ging sehr bestimmt und fast leichtfüßig. Tanner fragte sich, warum sie seine Stütze brauchte.
Ich kriege manchmal Schwindelanfälle, die kommen leider ohne Ankündigung.
Konnte sie Gedanken lesen?
Sie waren jetzt bei ihrem großen Himmelbett angekommen.
Nehmen Sie meinen Morgenmantel.
Das war keine Bitte, das war ein Befehl. Er trat hinter sie und griff nach dem schweren Mantel an seinem umgelegten, weichen Kragen. Sie schlüpfte aus den Ärmeln. Sie stand wortlos da, als lauschte sie auf etwas. Dann streckte sie ihre schlanken Arme nach ihren Haaren aus.
Da Sie mich heute schon mal ohne meine Haare gesehen haben, spielt es jetzt auch keine Rolle mehr. Ich gebe Ihnen die Nadeln in die Hand.
Sie zupfte einige Nadeln aus dem Haar und nahm ihre voluminöse Haarpracht ab. Ihre blonden Haare waren also tatsächlich eine Perücke. Sie legte sie behutsam auf den Stuhl neben ihrem Bett. Sie hatte ein sehr zartes Nachtgewand an. Der Mond schien jetzt in das Zimmer, und so schimmerte sehr zart die Silhouette ihres Körpers durch den leichten Stoff. Der Stoff war kunstvoll und fein mit zarten Rosen bestickt. Es sah fast hochzeitlich aus. Ihr Körper wirkte wie Elfenbein. Er konnte nicht umhin, sie, die sich dem Fremden, so selbstverständlich präsentierte, anzustarren. Oder war ihr vielleicht die Wirkung des Mondlichts nicht klar?
Sie lachte ein raues Lachen.
Sie müssen sich nicht abwenden. Was gibt es für eine Frau Schöneres, Aufregenderes als der Blick eines Fremden? Dieser Blick wird durch kein Wissen, keine irgendwie gelagerte Vorgeschichte getrübt. Es gibt keine emotionale Verwicklung. Keine Belastung. Es gibt nur das Staunen über die Schönheit ihres Körpers. Es ist quasi ein unschuldiger Blick, der sich einfach am Sehen erfreut. Und dann zum Begehren wird.
Sie gab ihm wieder ihre Hand.
Helfen Sie mir jetzt ins Bett.
Er legte sie ins Bett.
Meine schönsten sexuellen Erlebnisse waren die flüchtigen, mit Unbekannten. Im Zug, auf einem Schiff, im Gang eines Hotels. Sie verstehen. Kaum hat man eine sogenannte Beziehung, fängt das Gemurkse an. Und am Schluss bringt man sich gegenseitig um.
Sie lachte ausgiebig und streckte und dehnte sich.
Kennen Sie Pasolini? Den italienischen Filmer?
Tanner nickte.
Ich war immer begeistert von seinen Filmen. Von seinem Plädoyer für eine Art der kindlichen, unschuldigen Sexualität, die natürlich eine Illusion ist.
Sie lachte ihr raues Lachen und richtete sich auf.
Zünden Sie mir eine Zigarette an!
Da war er wieder, der Befehlston.
Und Ihr Husten?
Kaum hatte er das gesagt, bereute er es auch schon.
Sie winkte ab. Sie zeigte in Richtung Tisch.
Die Zigaretten liegen dort drüben.
Er ging zum Tisch, fand Zigaretten und Feuerzeug. Es war die stärkste Marke, die man rauchen konnte. Er steckte sich eine zwischen die Lippen und zündete sie an. Er gab sie ihr in den Mund. Sie nahm einen tiefen Zug, legte ihren Kopf wieder zurück aufs Kopfkissen. Sie blies den Rauch gekonnt in Ringen gegen die Decke.
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen … ha, ha …
Rilke.
Sie schaute ihn überrascht an.
Ein Koch, der Rilke kennt.
Sie richtete sich auf und zeigte mit der Zigarette auf ihn.
Sie sind nicht das, was Sie vorgeben zu sein. Ich habe Sie durchschaut.
Wer ist schon das, was er vorgibt zu sein.
Ja, ja, bla, bla, bla …
Sie schloss für einen Moment ihre Augen. Draußen hörte man ein Käuzchen rufen. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. Ihre Brust hob und senkte sich.
Ich habe mein Leben lang geraucht. Die Leute – nicht nur die Jungen – denken immer, die Sexualität hört im Alter auf zu existieren. Sie denken, die schläft einfach ein oder nimmt ab wie das Gehör oder das Sehvermögen.
Sie gähnte.
Machen Sie die Zigarette für mich aus. Die hat mir jetzt geschmeckt wie lange keine mehr. Und daran sind Sie schuld. Mich zum Rauchen zu verleiten.
Er nahm die Zigarette und ging zum Aschenbecher.
Dort auf dem Tisch liegt ein längliches, ein weißes Lederetui. Sehen Sie es?
Er nickte.
Bringen Sie es mir bitte.
Er brachte es ihr. Sie öffnete den seitlichen Reißverschluss. Dann hielt sie inne und schaute ihn an.
Sie wissen, was das ist.
Ich ahne es.
Gut. Sie können jetzt gehen. Gute Nacht.
Das Letzte, woran Tanner dachte, bevor ihn der Schlaf übermannte, war eine Sequenz aus einer chinesischen Legende.
Ich zeige dir eine Falle, und du wirst hineinspringen.
2. Tag — Montagmorgen
Bereits um sechs Uhr stand Tanner wieder in der Küche. Nicht wegen der Vorbereitung des Frühstücks, das zwischen sieben und Viertel vor acht stattfinden musste, denn der Unterricht beginnt für die Mädchen pünktlich um acht Uhr. Fürs Frühstück waren Lydia und Annerös zuständig, unterstützt von zwei anderen Frauen aus dem Dorf, die im Speisesaal wirkten.
Er hatte sich diverse Ordner mit Lieferantenrechnungen angeschaut und sich zum Teil über die Höhe der Rechnungen gewundert. Auch staunte er über die Mengen von Salaten und verschiedenen Sorten Gemüse, die da zeitweise bestellt worden waren. Aber das hatte noch Zeit. Das würde er sich später mal gründlich anschauen.
Heute stand für den Mittagstisch Gemüsekuchen, also eine Quiche, mit Salat auf dem Programm. Zum Dessert ein gekaufter Vanillepudding, den sie nur aus der Verpackung zu stürzen hatten. Für den Abend Maispoularde und Reis. Für die Vegetarier Reis mit einer Gemüsesauce. Er hängte den Menüplan für heute auf.
Tanner stöhnte.
Oh je, ist das alles langweilig.
Er fand jede Menge Vanillestängel. Eier waren auch genug da. Ebenso Milch und Zucker.
Als Annerös und Lydia gegen sieben Uhr mit den Vorbereitungen zum Frühstück fertig waren, rief er sie zur Lagebesprechung zusammen. Anandan kam auch dazu.
Ihr habt gesehen, was Herr Keller für heute geplant hatte, oder?
Alle nickten.
Also, da wir noch jede Menge tiefgefrorenen Lachs haben, mischen wir den ins Gemüse, sonst ist eine Quiche, wenn wir nicht Topgemüse haben, einfach zu langweilig. Seid ihr einverstanden?
Alle nickten.
Lydia räusperte sich.
Apropos Gemüse. Wir hätten genug Produzenten im Dorf und in der Umgebung. Wir müssten das Gemüse nicht vom Großverteiler bestellen, wo wir nicht wissen, woher es kommt.
Lydia, du sprichst mir aus dem Herzen. Du bist ab jetzt zuständig für Gemüsebeschaffung. Das gleiche gilt für die Kräuter.
Lydia hob die Hand.
Aber die haben wir ja im Garten.
Tanner runzelte die Stirn.
Warum bestellt denn der Keller auch die Kräuter beim Großverteiler?
Er, äh … er geht nicht so gerne in den Garten, es war ihm zu mühsam, sich die Kräuter zusammenzusuchen. Hier regnet es sehr oft.
Gut. Lydia, das übernimmst auch du.
Sie nickte.
Mich interessieren vor allem auch alte Sorten und so weiter, übrigens auch essbare Blumen. Mach bitte eine Liste mit möglichen Produzenten. Nimm Kontakt auf. Ich bespreche das mit Teresa Wunder. Ich bereite den Teig für die Quiche vor. Dann rüsten wir die Gemüse. Heute halt die, die wir hier haben. Anandan holt den Lachs aus dem Kühlraum.
An Lydia gewandt.
Du besorgst uns frische Kräuter aus dem Garten. So viele du kannst.
Tanner guckte auf seinen Zettel.
Dann – oh je, diese Vanille-Puddings!
Jetzt meldet sich Lydia aufgeregt zu Wort.
Annerös macht die beste Vanillecrème der ganzen Gegend.
Stimmt das?
Ja, das stimmt. Ich mache das gerne.
Ob gerne oder nicht, hjedenfalls die absolut beste!
Gut. Du fängst sofort an. Falls es noch was fürs Frühstück zu tun gibt, mache ich das. Ihr beginnt sofort mit euren Arbeiten. Wann muss das Essen fertig sein?
Um halb eins.
Gut. Die Quiches müssen spätestens um Viertel vor zwölf in den Ofen.
Ich suche jetzt das Wunder, äh … Frau Wunder.
Alle kicherten.
Tanner ging die Treppe hoch in die Speisesäle auf der Suche nach Teresa Wunder. Die Mädchen trudelten langsam ein und setzten sich an ihre Tische. Teresa saß ganz allein im hinteren Teil des Speisesaals.
Entschuldigung, Teresa, ich hätte was zu besprechen. Kann ich nach dem Frühstück zu Ihnen ins Büro kommen?
Sie blickte ihn erschrocken an.
Ja, sicher können Sie gerne vorbeikommen. Gibt es, äh … ein Problem?
Offensichtlich wollte sie zuerst sagen, ob es schon ein Problem gäbe, unterdrückte aber das schon im allerletzten Moment.
Tanner winkte ab.
Nein, nein. Es gibt kein Problem. Ich möchte nur etwas Strategisches mit Ihnen besprechen. Also, ich meine etwas Kochstrategisches.
Sie war erleichtert.
Ja, ja, kommen Sie in einer halben Stunde.
Tanner nickte.
Sagen Sie, war es schlimm gestern mit Madame?
Tanner blickte verdutzt.
Nein, überhaupt nicht. Es gab überhaupt kein Problem. Sie wollte sich bei mir nur für meine Hilfe gestern bedanken.
Jetzt war sie an der Reihe, verdutzt zu gucken.
Sagten Sie bedanken?!
Tanner ging zum Lift und fuhr in den dritten Stock. Er hatte sein Telefon im Zimmer vergessen. Im dritten Stock lauschte er kurz auf eventuelle Geräusche aus Madames Zimmer. Er hörte nichts, wahrscheinlich hatte sie gewonnen und schlief jetzt ihren seligen Schlaf, wie sie es nannte.
Pst. Pst. Herr Tanner.
Er wandte sich um. In der halb geöffneten Tür stand L. Dürr mit den Stirnfransen und winkte ihm.
Was ist denn? Und warum gehen Sie nicht frühstücken?
Weil es mir nicht gut geht. Ich habe es schon gemeldet. Ich habe leichtes Fieber und Kopfschmerzen.
Also dann. Marsch ins Bett.
Er wandte sich zum Gehen. Sie flüsterte.
Wissen Sie, warum Madame so schön ist, obwohl sie wahrscheinlich schon sehr alt ist? Sie schmiert sich mit so einem Schleim ein.
Tanner musste unwillkürlich lächeln und schüttelte den Kopf.
So ein Unsinn. Gehen Sie jetzt ins Bett. Und gute Besserung.
Er stieg die Treppe zu seinem Zimmer hoch.
Auf seinem Telefon war eine Nachricht von Michel.
Bitte um Rückruf.
Ja, ja, lieber Michel, da musst du dich noch etwas gedulden, schließlich arbeite ich.
Später waren alle in der Küche eifrig am Arbeiten. Anandan hatte bereits genügend eingeschweißte Lachsfilets ins kalte Wasser gelegt. Annerös schlitzte geschickt Vanilleschoten der Länge nach auf. Er nickte ihr zu.
Nimm genug Eier.
Keine Sorge. Lydia ist übrigens draußen unterwegs.
Gut. Gibt es im Moment etwas fürs Frühstück zu erledigen?
Nein, nein. Es ist alles in Ordnung.
Er nahm sämtliche großen Kuchenformen für die Quiche aus dem Schrank, bebutterte und bemehlte sie tüchtig. Anandan hatte schon die Teige aus dem Kühlraum geholt. Das nächste Mal würde er den Teig selber machen, aber eins nach dem anderen.
Er begann die fertigen Teige auf der Maschine auszurollen und auf die Kuchenformen zuzuschneiden.
Die zwölf großen Formen reichen für die Quiche, oder?
Annerös bestätigte es ihm. Als er fertig war, wusch er sich die Hände.
Ich geh jetzt schnell ins Büro zu Frau Wunder. Bin sofort wieder da. Anandan, du kannst anfangen, die Gemüse klein zu schneiden. Ich habe bereits alles sortiert. Zuerst die Zwiebeln.
In der Eingangshalle begegnete er Ljuli.
Hallo. Du bist in Fahrt.
Sie lachte verschmitzt.
Sagt man so?
Tanner nickte lachend.
Ich hatte frei gestern Abend. War mit Freundin in Stadt.
Ach ja, Ljuli, das mit dem Putzen verschiebt sich auf heute Nachmittag. Wir haben heute Morgen leider zu viel zu tun.
Noch besser wäre morgen, weil kein Mittagessen, denn Mädchen haben keinen Unterricht, sondern Ausflug. Erst zum Abendessen wieder hier.
Ah, gut. Das hatte mir bisher niemand gesagt. Dann machen wir das so. Wir putzen morgen ab neun Uhr.
Er klopfte an die Tür, wo er das Büro Teresas vermutete.
Sie rief ihn sofort hinein.
Es ist alles klar, Tanner. Ich hatte Lydia schon im Garten angetroffen. Machen Sie, was Sie für richtig halten. Es darf einfach nicht teurer werden, sonst kriegen wir Stress mit der Obrigkeit. Ich gebe unseren Gemüselieferanten dann Bescheid. Mir wird schon eine Ausrede einfallen.
Liebe Teresa, Sie brauchen gar keine Ausreden. Wenn die Ihnen blöd kommen, so sagen Sie ihnen ganz ruhig, wir würden demnächst mit Prüfern vom Verband ihre Rechnungen kontrollieren.
Teresa stutzte.
Was wollen Sie damit sagen?
Tanner setzte sich und schlug die Beine übereinander.
Die Rechnungen von einigen Lieferanten sind eindeutig übersetzt. Mehr will ich nicht behaupten, dazu müsste man das alles genauer analysieren. Aber zu teuer ist es auf jeden Fall. Die Ordner stehen unten in der Küche. Sie können Sie jederzeit einsehen. Ich denke, dass wir mit einem Strategiewechsel entweder billiger werden, oder wir können uns bei anderen Sachen mehr leisten. Ich bin natürlich eher für die zweite Variante.
Teresa lachte.
Von Ihnen kann man eine Menge lernen, sehe ich. Gut. Machen Sie. Ich unterstütze das. Noch etwas?
Ich höre von Ljuli, dass die Mädchen morgen nicht zum Mittagessen da sind?
Oh, ja, das habe ich Ihnen heute Morgen schon sagen wollen. Sie müssen also nur für uns kochen.
Gut. Dann gehe ich wieder in die Küche. Ich habe heute leider keine Zeit für den Überblick, den Sie mir geben wollten. Vielleicht in den nächsten Tagen?
Sie nickte.
Einverstanden.
Noch etwas.
Ja. Bitte.
Haben Sie etwas dagegen, wenn mir Ljuli morgen hilft, die Küche gründlich zu putzen?
Ist es denn nötig?
Tanner seufzte.
Ja. Sehr.
Also, wieso sollte ich dagegen sein?
Danke.
Tanner ging ohne Umwege sofort zurück in die Küche. Er fühlte sich in seinem Element. Auf der Treppe zur Küche kam ihm noch einmal kurz der Satz von heute Nacht in den Sinn. Er verscheuchte ihn wie eine lästige Fliege.
2. Tag — Montagnachmittag
Nach dem Mittagessen, das ein voller Erfolg wurde – Annerös’ Crème wurde von den Mädchen mit Applaus bedacht –, fand Tanner endlich Zeit, Michel anzurufen. Ach, welche Ehre, der neue Sternekoch aus dem Weißen Schlösserl am Wolfgangsee … Sehr lustig, du bist wirklich ein Komiker. Tanner gab ihm einen kurzen Überblick über die Lage im Internat, soweit er dazu bereits in der Lage war. Madame erwähnte er nur am Rande. Und der Herr Direktor kommt also erst am Freitag oder am Samstag? Er interessiert mich natürlich am meisten. Wie stabil schätzt du denn die neue Assistentin ein? Als ziemlich stabil. Es ist schwer vorstellbar, dass die auch eine Selbstmordkandidatin ist. Sobald ich Zeit habe, studiere ich noch einmal die Unterlagen über die drei Frauen. Es ist sicher was anderes, wenn man vor Ort ist. Ach ja, schaust du mal, was für Kongresse in Schweden gerade stattfinden? Es müsste ja irgendwas mit Internaten, modernem Schulwesen oder so was Ähnliches zu tun haben, nehme ich an.
Michel stöhnte.
Mensch, hast du noch mehr solche Aufträge? Du weißt, wir sind unterbesetzt.
Tanner lachte.
Überglücklich wäre der Polizist, würde er die Vorzüge des Polizeilebens kennen.
Michel grunzte.
Was soll denn das sein?
Das ist ein Zitat. Ein leicht angepasstes Zitat von Vergil.
Und wer ist das jetzt wieder? Ist das auch ein Sternekoch?
Nein, du Dödel. Das war ein berühmter römischer …
Michel lachte.
Aber das weiß doch jeder. Reingefallen.
Während seiner Zimmerstunde widmete er sich noch einmal ausgiebig dem Studium der Unterlagen über die drei Selbstmörderinnen. Die erste, eine Belgierin, hielt es am längsten im Weißen Schloss aus. Sie arbeitete fünf Jahre bis zu ihrem Selbstmord. Bei der zweiten aus Frankreich waren es noch gute zweieinhalb Jahre und bei der dritten – sie war aus Holland – dauerte es noch knapp anderthalb Jahre. Wäre das Ganze ein mathematisches Modell, könnte ihm Madame als Mathematikerin sicher exakt vorausberechnen, wann die nächste Selbstmordkandidatin fällig wäre. Er grinste und schimpfte sich einen Zyniker. Er suchte nach Gemeinsamkeiten, fand aber in den Angaben, die ihm zur Verfügung standen nichts, was aufschlussreich gewesen wäre. Sie waren zwar während ihrer Tätigkeit hier alle etwa gleich alt gewesen. Die Erste war auf dem beigelegten Foto rothaarig, schlank zwar, aber mit weichen Formen. Die Zweite eine sehr schlanke Brünette mit wachen Augen. Die Dritte schließlich war ebenso blond gewesen wie Teresa, aber trotzdem eine ganz andere Persönlichkeit, soweit man das aus einem einzigen Foto herauslesen konnte. Er konnte die Unterlagen durchgehen und wiederlesen, es fiel ihm einfach nichts auf, was ein Hinweis zur Klärung der mysteriösen Selbstmorde hätte geben können. Außer dass sie alle drei ins Wasser gegangen waren, gab es schlicht und ergreifend keine Gemeinsamkeiten.
Was für ein grauenhafter Tod!
Tanner konnte und konnte sich einfach nicht vorstellen, wie man freiwillig im Wasser sterben konnte. Nahm man ein Medikament, das zum Tode führte, war einem nach der Entscheidung, es zu schlucken, alles aus der Hand genommen. Aber im Wasser! Die Panik, wenn man merkte, dass man keine Luft mehr bekam. Wie konnte man den Überlebenswillen ausschalten? Wie konnte man sich verbieten, nach oben zu schwimmen?
Schwimmen?
Tanner stutzte.
Wusste man denn, ob die Frauen überhaupt alle schwimmen konnten? In unseren Breitengraden war es zwar heutzutage fast selbstverständlich, dass alle schwimmen lernten, aber was hieß das schon.
Waren die Frauen in Kleidern ins Wasser gegangen? Zu welchen Tageszeiten? Wo hatte man sie gefunden? Hatte man errechnen können, wo sie ins Wasser gegangen waren?
Das waren eine Menge Fragen.
Tanner kratzte sich an der Stirn und griff nochmals zum Telefon.
Ja, ich bin es schon wieder. Ich habe da noch ein paar Fragen.
Michel stöhnte.
Beklage dich nicht. Du hattest doch ein komisches Gefühl bei den Selbstmorden, sonst wäre ich ja nicht hier.
Gut, leg los, in Gottes Namen.
Am Ende bemerkte Tanner noch, dass die Unterlagen total unvollständig seien. Es stünde zum Beispiel nichts über die Schul- und Ausbildungswege der Frauen. Hatten sie Sport gemacht? Konnten sie schwimmen? Hatten sie Beziehungen? Wenn ja, welche? Warum war keine der drei verheiratet? Waren sie lesbisch? Hatten sie unglückliche Beziehungen zu einem der Mädchen geknüpft? Hatte man die Schülerinnen befragt?
Michel stöhnte wieder.
Ja, ja, du hast ja recht. Die Schulleitung war übrigens aus Diskretionsgründen dagegen, die Mädchen zu interviewen. Und da der Befund der Gerichtsmedizin eindeutig auf Selbstmord lautete, gab es kein juristisches Mittel, die Befragungen durchzubringen. Das Ganze musste sowieso unter dem Deckel gehalten werden. Stell dir vor, wie schnell der gute Ruf eines Internats dahin ist. Und der gute Ruf ist alles, was ein Internat hat.
Gut. Klärt bitte ab, was noch möglich ist. Und ich mache vor Ort, was ich kann.
Um vier Uhr war die Mannschaft wieder vollzählig in der Küche versammelt. Lydia hatte bereits einige Kisten mit knackigen Salaten und verschiedene Gemüse besorgt. Sie zeigte Tanner stolz ihre Beute.
Ich bin begeistert. Danke, Lydia.
Er wandte sich an den Stummen.
Anandan, den Reis machst du ganz traditionell. Dann: Wir machen eine Bratensauce, eine Currysauce und eine Cocossauce. So haben die Gäste eine Auswahl. Sowohl die Vegetarier wie auch die, die Fleisch essen. Die Pouletbrüste machen wir auf meine Art. Annerös und Lydia, ich zeig euch gleich, wie es gemacht wird. Das Gemüse für die Vegetarier machen wir nicht in einer Sauce, das wird eh nur ein Einheitsbrei, sondern wir braten es. Diesen schönen weißen Chicorée schneiden wir längs und braten ihn mit Olivenöl, Salz und Pfeffer scharf an. Desgleichen die Peperoni, Zucchini und Brokkoli. Wir machen heute keinen Salat, den sparen wir uns für morgen Abend. Lydia, der hält doch gut bis morgen Abend, oder?
Kein Problem, Chef.
Ihre Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Alle lachten.
Prima. Ach, ja. Jetzt zu den Pouletbrüstchen. Wir machen kleine Zöpfchen aus ihnen. Habt ihr das schon einmal gesehen?
Alle schüttelten den Kopf.
Anandan, gib mir mal eine Pouletbrust und du, Lydia, du hast doch wilden Majoran.
Tanner ging ans Schneidebrett.
Wir schneiden die Pouletbrüste in zwei Hälften oder eventuell in drei Teile, wenn das Stück besonders groß ist. Jedes Teil schneiden wir in drei Streifen, aber nicht ganz durch. Die Streifen müssen an der dicksten Stelle zusammenbleiben. Seht ihr, so. Wie ein Kopf mit drei Beinen. Dann nehmen wir einen oder zwei Majoranzweige und machen mit den drei längs geschnittenen Streifen einen kleinen Zopf. Die Zweige werden eingebunden. Man kann gleichzeitig auch Speckstreifen einbinden, aber die haben wir, glaube ich, heute nicht. Das machen wir das nächste Mal. Man muss die fertigen Teile nicht mal binden, man muss sie nur vorsichtig behandeln bis zum Anbraten, damit sie in der Form bleiben. Nach dem Anbraten ist es kein Problem mehr.
Er wandte sich zu Lydia und Annerös.
Das Zöpfeln könnt ihr sicher noch besser als ich. Ich werde unterdessen das Gemüse schneiden und dann die Saucen machen. Alles klar?
Alle nickten.
Auf los gehts los.
Pünktlich waren sie fertig. Als oben in den Speisesälen serviert war, aß auch die Küchenmannschaft in der Küche mit großem Appetit.
Annerös meinte, dass durch die Verwandlung der Pouletbrust in einen Zopf sich auch die Qualität des Fleisches wunderbarerweise verwandelt habe.
Tanner lächelte.
Es hat damit zu tun, dass wir durch das Zöpfeln die Oberfläche des Fleisches fast verdreifacht haben. Das macht ganz viel aus. Und dann natürlich die Liebe, mit der ihr beiden das Fleisch behandelt habt.
Sie lachten.
Wie lange arbeitet ihr eigentlich schon hier?
Die beiden Frauen sahen sich an.
Seit das Weiße Schloss umgebaut wurde. Das sind jetzt, äh …
Lydia sprang ein.
Es sind ziemlich exakt neun Jahre. Anandan kam erst vor drei Jahren zu uns.
Und Max Keller?
Wie wir. Er hat auch gleichzeitig mit uns angefangen. Nur das Servicepersonal wechselt von Saison zu Saison. Das ist ja auch klar. Es sind ja meist junge Leute, die sich so ihr Studium verdienen.
Geht der Max Keller hier eigentlich auch fischen? Im See oder in den Bächen?
Annerös und Lydia sahen sich fragend an.
Nein, nicht dass wir wüssten.
Was macht er denn so in seiner Freizeit?
Das wissen wir auch nicht. Er fährt immer mit seinem großen Motorrad weg. Wir denken, dass er eine Geliebte im Hauptort hat. Aber erzählt hat er nie davon.
Annerös kicherte. Lydia wechselte das Thema.
Ljuli ist auch erst vor drei Jahren zu uns gekommen.
Und die Erzieherinnen?
Die eine von Anfang, die andere seit knapp drei Jahren oder so. Da gab es mal einen Wechsel, aber da erinnere ich mich nicht mehr so recht.
Lydia war offensichtlich verlegen. Sie stand auf, um etwas zu holen.
Tanner konnte es sich nicht verkneifen.
Und Frau Wunder?
Annerös und Lydia wechselten einen schnellen Blick, und Annerös forderte Lydia, die sich wieder setzte, zum Antworten auf.
Ja, sie hat erst vor fünf Wochen angefangen. Ihre Vorgängerin ist auf tragische Weise ums Leben gekommen.
Tanner spürte, wie Annerös Lydia unter dem Tisch mit ihrem Fuß anstieß.
Lydia schwieg und schaute auf ihren Teller. Tanner aß weiter und fragte so beiläufig wie möglich.
Was heißt tragisch?
Sie ist im See ertrunken.
Er blickte hoch.
Ertrunken? Konnte sie nicht schwimmen?
Ich weiß nicht, ob sie schwimmen konnte. Weißt du das, Annerös? Ich habe sie nie baden sehen. Du, Annerös?
Die Angesprochene schüttelte den Kopf und senkte ihre Stimme.
Ich weiß es nicht, aber es spielt auch keine Rolle. Sie ist ja freiwillig ins Wasser gegangen.
Lydia nickte.
Es war Selbstmord.
Und weiß man, wieso sie das gemacht hat?
Beide hoben ihre Schultern und ließen sie wie einstudiert synchron wieder fallen.
Nein. Niemand hat das verstanden. Es war sehr tragisch. Sie war eine Nette. Aber wir hatten ja nicht so Kontakt zu ihr, also persönlich, meine ich.
Tanner hütete sich, weiter zu fragen. Er hatte das Gefühl, als ob Anandan etwas dazu sagen wollte, aber er konnte ja nicht reden. Er würde ihn in den nächsten Tagen mal darauf ansprechen. Schreiben konnte er ja.
Sie aßen schweigend weiter.
Zehn Minuten später meldete Teresa, dass alle vom Essen begeistert gewesen seien. Das löste die Stimmung wieder.
Tanner hätte gerne gefragt, ob Madame auch zum Essen erschienen war, aber er hütete seine Zunge.
Kurz vor zehn war die Küche fertig, und Tanner verabschiedete sich von seiner Mannschaft.
Morgen Abend würde er eine arabische Vorspeisentafel, Falafel und verschiedene Salate mit einheimischen Produkten machen, so wie er es damals von seiner Köchin in Marokko gelernt hatte. Lydia hatte ihm noch eine Ladung Kichererbsen besorgt, die musste er jetzt über Nacht noch in kaltes Wasser einlegen. Immerhin gab es unter den Schülerinnen einige aus muslimischen Ländern. Er hatte keine Lust auf Nudeln mit Rahmsauce und solche Sachen, wie sie Max Keller vorgesehen hatte.