Kitabı oku: «Die Wohlanständigen», sayfa 4

Yazı tipi:

sieben

Als Michel am anderen Morgen ins Büro kam, saß Lena bereits an ihrem kleinen Arbeitstisch und arbeitete an einem Laptop. In der Hand hielt sie ein kleines Gerät mit Antenne.

Was machen Sie da, wenn ich fragen darf?

Sie legte ihren Finger auf den Mund. Michel zuckte mit den Schultern und setzte sich an seinen Platz. Vor ihm lag der Untersuchungsbericht des Gerichtsmedizinischen Instituts. Er war be­reits geöffnet.

Verdammt! Das gibt’s doch nicht.

Lena drehte sich zu ihm und bedeutete ihm noch einmal, stumm zu sein. Nach einer Weile verstaute sie das Gerät in ihrer Handtasche, klappte ihren Laptop zu, stand auf, ging zum Fenster, öffnete es und winkte Michel zu sich. Sie beugte sich über den Fenstersims und sah raus auf die Straße. Michel fragte, was das solle, und sie bedeutete ihm, es ihr gleichzutun.

Ich mache das, damit niemand hört, was wir reden.

Michel verstand nicht.

Wie meinen Sie das?

Wir werden abgehört.

Michel richtete sich auf.

Was? Das gibt’s doch nicht.

Pst. Lassen Sie uns in das Café da unten um die Ecke gehen. Ich gehe vor. Und vergessen Sie den Bericht nicht.

Sie richtete sich auf, packte auch noch ihren Laptop in die Tasche und ging raus.

Michel blickte sich verstohlen in seinem Büro um, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Dann verließ auch er das Büro.

Als Michel in das Café kam, hatte Lena bereits zwei Kaffee be­stellt.

Woher wussten Sie, dass ich ihn schwarz trinke?

Sie lächelte verschmitzt.

Ich habe Kriminologie studiert, erinnern Sie sich?

Gut. Gut. Aber was soll das Ganze? Wir werden abgehört, sagten Sie! Das kann ja nicht sein.

Doch, es ist leider so. Ich habe das mit meinem kleinen Gerät festgestellt, dass ich während meines Studiums zusammengebastelt habe. Das Mikrofon habe ich noch nicht gefunden, aber das werde ich auch noch finden.

Und wer sollte so etwas tun?

Sie zuckte mit den Achseln.

Auch das werden wir noch herausfinden. Vielleicht sogar der neue Chef, er ist ja ein totaler Kontrollfreak, glaube ich. Bis wir es wissen, ist also totale Vorsicht geboten, oder was meinen Sie?

Ja, Sie haben recht.

Er wog den gerichtsmedizinischen Bericht.

Den hat sicher der Chef geöffnet.

Lena wurde rot.

Nein, das war ich. Ich konnte einfach meine Neugierde nicht bezähmen. Tut mir leid.

Michel holte tief Luft.

Na gut. Erzählen Sie mir, was Sie gelesen haben.

Sie richtete sich auf.

Gut. Er ist erstochen worden und gleichzeitig ertrunken. Direkt nach dem Stich hat man ihn ins Wasser gestoßen oder geworfen.

Ist das alles?

Nein, Herr Beckmann hatte Krebs. Er wäre in wenigen Monaten an Krebs gestorben. Darmkrebs.

Aha. Gibt es eine zeitliche Angabe?

Er hat wohl zwischen vierundzwanzig bis vierzig Stunden im Wasser gelegen.

Michel nickte.

Das habe ich mir gedacht.

Es gibt keinerlei Kampfspuren. Er muss von hinten erstochen worden sein, quasi ohne Vorwarnung.

Michel sah sie an.

Was für Menschen erstechen Ihrer Meinung nach einen ahnungslosen Mann von hinten?

Lena lehnte sich zurück.

Das weiß ich nicht. Aber zuerst einmal zum Messer: Es handelt sich um ein sehr teures Sammlermesser von einem russischen Produzenten. Es nennt sich Sekatsch. Der Griff ist aus Ebenholz, die Klinge aus Damaszenerstahl, in 572 Lagen geschmiedet. Sehr kunstvoll. Die Klinge ist 125 mm lang. Das Messer wird noch auf DNA-Spuren untersucht.

Ist das alles?

Ja, das ist alles, Chef, äh … Michel.

Michel hob warnend seinen Finger.

Ich sage nur Achtung. Ach ja, wieso sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, dass es ein Mikrofon geben könnte?

Es war eine sehr hämische Bemerkung von ihm, also Von der Werdt.

Aha. Und wie lautete die?

Als ich mich weigerte, Auskunft über unsere Ermittlungen zu geben, meinte er: Macht nichts, ich erfahre es ja sowieso. Dieser Satz könnte auch heißen, dass er ja die Ergebnisse von Ihnen erfahren würde, früher oder später, aber mich hat sein hämisches Grinsen misstrauisch gemacht.

Und was machen wir jetzt?

Ich werde heute Abend Überstunden machen, die Sie anordnen und dann werde ich das Mikrofon schon finden.

Michel runzelte seine Stirn.

Und dann?

Werden Sie entscheiden, was wir damit machen, das ist doch klar.

Sie verschränkte die Arme.

Sie sind der Chef. Ich bin nur Ihre Assistentin.

Er verschränkte auch die Arme.

Gut. Ich hätte eine Idee, was Sie in den Überstunden machen könnten. Schauen Sie mal, was Sie so über Krättli und Co. herausfinden können.

Lena strahlte.

Sehen Sie, deswegen benutze ich meinen eigenen Laptop, da­mit ich unabhängig vom offiziellen Netzwerk des Büros arbeiten kann.

Michel erhob sich.

Kluges Mädchen. Kommen Sie, wir suchen den Sohn auf. Un­terwegs erzähle ich Ihnen, was ich gestern Abend von der Tochter erfahren habe.

Diesen Weg konnten sie zu Fuß machen, denn der Sohn wohnte mitten in der Altstadt.

Das Haus war eines der schmalen, aber ziemlich tiefen Häuser, von denen es in dieser Altstadtgasse viele gab. Im Parterre hatte fast jedes dieser Häuser ein kleines Antiquitäten-, Trödel-, Bücher- oder Kleidergeschäft, das oft von den Hausbesitzern selbst betrieben wurde.

Michel zückte sein Telefon und streckte es Lena hin.

Rufen Sie ihn mal an und sagen Sie ihm, dass wir vor seiner Tür stehen. Wir hätten ein paar Fragen zu seinem Vater.

Er diktierte ihr die Nummer.

Nach einer Weile gab sie ihm das Telefon zurück.

Er nimmt nicht ab.

Gut. Zur Sicherheit klingeln wir mal.

Nichts rührte sich.

Dann warten wir halt ein bisschen. Da vorne ist eine Bank.

Sie setzten sich.

Es ist vielleicht noch etwas zu früh, ich glaube, hier wohnen lauter Langschläfer.

Er lachte.

Spüren Sie nicht auch, wie die hier alle schlafen? Ich glaube, ich höre sogar ihr Schnarchen. Die Geschäfte sind auch noch nicht geöffnet. Dabei ist es schon nach neun vorbei.

Lena betrachtete ihn von der Seite.

Sie sind ja richtig gut gelaunt. Gibt es einen bestimmten Grund?

Na ja, keine Ahnung. Ich liebe meinen Beruf.

Er blickte zum Himmel.

Das Wetter hält sich auch ziemlich gut. Was wollen Sie mehr?

Was er ihr verheimlichte, war sein Rendezvous mit Mali heute Abend. Diese Aussicht hob seine Laune beträchtlich, denn Von der Werdt hatte ihm gestern die Freude am neuen Fall schon ziemlich verdorben. Andererseits war die Arbeit mit Lena recht gut an­gelaufen. Aber vielleicht sollte er sich besser wieder ein bisschen grantiger geben.

Dass Michel dazu sehr schnell einen handfesten Grund haben würde, konnte er nicht ahnen.

Er lehnte sich zurück, schloss die Augen und stellte sich vor, wie der Abend mit Mali verlaufen würde. Ob sie verheiratet war? Sein Gefühl sagte ihm Nein, aber man konnte ja nie wissen …

In diesem Augenblick klingelte sein Telefon. Michel nahm ab. Es war Von der Werdt, der ihn sofort in sein Büro beorderte.

Kann das nicht ein wenig warten, wir sind gerade vor der Wohnung von Beckmanns Sohn, um mit ihm zu sprechen.

Offenbar widersprach der Chef vehement, Michel sagte kein Wort mehr und stand auf.

Er kochte.

Wir müssen sofort zurück ins Büro. Anordnung von oberster Stelle. Es sei ganz wichtig. Mein Gott, der macht mich wahnsinnig.

Lena seufzte, verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.

Marmarameer.

Sie sagen es!

Von der Werdt kam sofort zur Sache.

Dr. Gschwend vom Gerichtsmedizinischen Institut hat angerufen. Die haben DNA-Spuren auf dem Messergriff gefunden. Wir haben einen Abgleich mit unserer Datei gemacht und –

Er strahlte wie ein Junge, der seine Eisenbahn unter dem Weihnachtsbaum auspackt.

Et voilà: Hier haben Sie den Täter. Sie müssen ihn nur noch verhaften.

Er übergab Michel eine äußerst dünne Akte und setzte sich – ein Ausbund an Zufriedenheit – auf die Ecke seines ausladenden Schreibtischs und wartete auf den verdienten Applaus.

Michel blätterte in der Akte. Von der Werdt wandte sich an Lena.

Bekim Berisha, so heißt er. Ein mehrfach vorbestrafter Täter: Drogen, Einbrüche, Diebstähle, tätliche Angriffe. Das übliche Programm. Er ist neunundzwanzig Jahre alt. Kam mit seinen Eltern in die Schweiz, als er fünfzehn Jahre alt war, und mit siebzehn Jahren das erste Mal mit dem Gesetz in Berührung. Schon zweimal im Knast.

Michel knurrte.

Und der hat ihn wie üblich zu einem besseren Menschen ge­macht.

Von der Werdt feixte.

Sie haben recht, wir hätten ihn gleich abschieben müssen.

Jetzt regte sich Lena auf.

Und das hätte aus ihm dann einen noch besseren Menschen gemacht, meinen Sie. Er hat hier sein ganzes Leben verbracht und die ganze Schulzeit.

Von der Werdt beachtete sie gar nicht. Michel blickte jetzt von der Akte auf.

Haben Sie die Akte zu Ende gelesen? Seit drei Jahren hat er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen und jetzt macht er eine Lehre als Automechaniker, kurz vor dem Abschluss. Er hat einen Beistand, der ihm ein sehr gutes Zeugnis ausstellt.

Von der Werdt zuckte mit den Schultern.

Na ja, das wird sich alles herausstellen. Sie holen ihn, und wir verhören ihn.

Er grinste übers ganze Gesicht.

Sehen Sie, wie schnell das gehen kann?

Michel ignorierte das.

Wann wird die Leiche freigegeben?

Morgen früh.

Michel nickte.

Können wir dann gehen?

Von der Werdt sprang auf und klatschte in die Hände.

Ja, auf was wartet ihr noch? Los, los, an die Arbeit.

Bis sie im Auto saßen, sprach Michel kein Wort. Mit grimmigem Gesicht ließ er den Motor an.

Zuerst holen wir aus dem Labor das Messer.

Er schüttelte den Kopf.

Woher soll so ein Junge denn so ein teures Messer haben, frage ich mich. Was meinen Sie?

Keine Ahnung. Wer hat überhaupt so ein Luxusmesser? Und warum?

Na ja, es gibt Liebhaber, die Waffen aller Art sammeln, auch Messer. Meistens werden diese im Alltag gar nicht verwendet.

Verstehe.

Lena putzte ihre Brille.

Aber wie kommt denn die DNA auf den Griff? Ich nehme an, so etwas ist hieb- und stichfest, oder?

Michel seufzte.

Im Allgemeinen schon. Es wurden zwar auch schon irgendwelche Fläschchen verwechselt, aber das ist hier nicht anzunehmen. Wir holen das Messer und zeigen es ihm, dann schauen wir, wie er reagiert.

Lena nickte.

Michel fuhr in den Innenhof des Labors.

Sie warten hier. Ich hole das Messer. Ah ja, Sie könnten Frau Beckmann anrufen und sagen, dass ihr Mann morgen freigegeben wird, also der Leichnam ihres Mannes, wollte ich sagen.

Mach ich.

Als Michel mit dem Messer zurückkam, verabschiedete sich Lena gerade von Frau Beckmann.

Und? Machen Sie Fortschritte?

Wie meinen Sie das?

Michel steckte den Schlüssel in das Zündschloss.

Entwickelt sich eine Beziehung zwischen Ihnen und der alten Beckmann?

Na ja, es ist schwer zu sagen, immerhin ist sie nicht mehr ganz so abweisend. Am Anfang hat sie mich ja sozusagen ignoriert. Aber eine Beziehung wird das nie, das glaube ich nicht.

Michel wiegte den Kopf.

Das kann man vorher nie wissen.

Er lächelte, denn er dachte dabei an Mali.

Gleich sind wir bei der Garage, wo er arbeitet.

Lena legte ihre Hand auf Michels Arm.

Ist für ihn natürlich eine Katastrophe, wenn die Polizei an seinem Arbeitsplatz auftaucht, oder? Vielleicht sollte ich mal hingehen und fragen, ob er überhaupt da ist. Was meinen Sie?

Michel fuhr an der Garage vorbei und parkte direkt um die Ecke.

Sie schauen nur nach, ob er da ist. Verstanden? Hier gucken Sie sich nochmals das Bild an.

Sie studierten noch einmal das Foto. Michel grinste.

Auf einem Polizeifoto würden wir alle wie Verbrecher aussehen. Vielleicht hat er jetzt ja lange Haare.

Lena nickte und stieg aus dem Auto. Er blickte ihr im Rückspiegel nach. Bei ihr würde sicher niemand auf die Idee kommen, dass sie von der Polizei ist, dachte Michel.

Er schloss die Augen und dachte an seine ehemalige Mitschüle­rin und an ihr wildes rotes Haar. Falls sie nicht verheiratet ist, ob sie dann vielleicht … immerhin hat sie ja sofort von einem Treffen gesprochen. Doch sicher nicht nur, um Erinnerungen über die Meyerhofer auszutauschen. Es ging leider alles so schnell, dieser blöde Schneider! Er konnte sich gar nicht an ihren Körper erinnern. Doch, sie war schlank und hat sich sehr geschmeidig bewegt …

Michel erschrak. Die Autotür wurde aufgerissen. Lena setzte sich laut atmend auf den Sitz.

Er ist im Spital. Er hat sich das Bein gebrochen. Im Stadtspital. Chirurgie.

Michel startete sofort den Motor.

Erzählen Sie. Wie haben Sie das herausgefunden?

Ich konnte ihn nirgends sehen, da habe ich einfach gefragt. Die wollten gar nicht wissen, warum ich ihn suche, so musste ich nichts erfinden.

Was hätten Sie denn erfunden?

Sie ignorierte seine Frage.

Jetzt bin ich gespannt, wann er sein Bein gebrochen hat.

Michel nickte.

Oh ja.

Bis zum Spital hing jeder seinen eigenen Gedanken nach.

An der Pforte erhielten sie Auskunft über Stockwerk und Zimmernummer. Der Stationspflegeleiterin zeigten sie ihre Marken und erfuhren, dass Bekim Berisha vor drei Tagen eingeliefert wur­de. Gestern sei er operiert worden. Er sei gerade allein in seinem Zimmer, da der andere Patient in der Röntgenabteilung war.

Hat er was verbrochen?

Wir brauchen nur ein paar Auskünfte. Mehr können wir Ihnen nicht sagen.

Michel klopfte an die Zimmertür und trat ein.

Berisha lag im Bett am Fenster, hatte lange schwarze Haare und war unrasiert. Seine dunklen Augen schauten die Hereinkommen­den erschrocken an. Sein Bein war dick eingepackt und an mehre­ren Stellen an einer Schiene aufgehängt, die überm Bett hing.

Guten Morgen, Herr Berisha.

Michel stellte Lena und sich selber vor und dass sie beide von der Polizei seien. Die Mordkommission erwähnte er noch nicht.

Der junge Mann kam Michel auf den ersten Blick wie traumatisiert vor. Oder waren es vielleicht die Nachwehen der Operation? Dem Mann war etwas Fürchterliches zugestoßen. Aber was?

Sie nahmen sich zwei Stühle.

Und? Ist die Operation gut verlaufen?

Er antwortete unwillig.

Ja, die Ärzte haben es gesagt. Aber Sie kommen sicher nicht, um mich nach meinem Zustand zu befragen.

Er versuchte angriffig zu wirken, was ihm aber nicht so richtig gelang. Michel blieb die Ruhe selbst.

Beantworten Sie einfach unsere Fragen. Wie und wann ist das passiert?

Er deutete auf das Bein.

Freitagnacht, also gegen Morgen. Ich war mit Kollegen aus und ziemlich betrunken. Die Jungs brachten mich nach Hause. Ich ging allein die Treppe hoch und bin dann rückwärts runtergefallen. Ich habe um Hilfe geschrien, und Nachbarn haben den Krankenwagen bestellt. Hier am Kopf habe ich auch noch einen Bluterguss.

Da haben Sie aber Glück gehabt. Sie hätten sich auch das Genick brechen können.

Das erste Mal antwortete er relativ freundlich.

Ja, das stimmt. An den Fall selbst habe ich keine Erinnerung, wie ein Filmriss. Ich kann mich erst wieder an die Fahrt im Krankenwagen erinnern.

Vorhin haben Sie gesagt, dass Sie um Hilfe geschrien haben.

Das nehme ich an, erinnern kann ich mich nicht.

Michel zückte sein Notizbuch und einen Stift und gab beides Lena.

Wo waren Sie denn an diesem besagten Freitagabend? Und wer waren ihre Kollegen, die mit Ihnen zusammen waren?

Berisha versuchte, sich hochzustemmen, schaffte es aber nicht.

Verdammt, warum wollen Sie das alles wissen? Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen. Ich werde Ihnen gar nichts sagen.

Michel griff in seine Manteltasche und holte das Messer hervor, das in einem schmalen Plastiketui lag. Er nahm es aus dem Etui und hielt es gegen das Licht.

Kennen Sie dieses Messer?

Berishas Augen weiteten sich.

Was wollen Sie mir unterstellen? Ich habe nichts getan, und dieses Messer sehe ich zum ersten Mal, glauben Sie mir.

Michel blieb auch jetzt ruhig.

Wir wollen Ihnen gar nichts unterstellen. Wir wollen Sie nur befragen. Auf diesem Griff hat man Spuren ihrer DNA gefunden. Bleiben Sie dabei, dass Sie das Messer noch nie gesehen haben?

Michel drehte das Messer. Das Licht aus dem Fenster ließ die Klinge aufblitzen.

Berisha schaute Michel gequält an.

Glauben Sie mir, ich sehe dieses Messer das erste Mal.

Kennen Sie diese Art Messer?

Nein, aber es sieht sehr teuer aus.

An was erkennen Sie das so schnell?

Es ist Damaszenerstahl, das sieht ja ein Blinder, und der ist nun mal teuer. Sie müssen gar nicht so schauen. Ich mache eine technische Lehre und da hat man auch Stahlkunde. Ich habe sogar schon mal selbst geschmiedet.

Michel nickte.

Sie wissen auch, was DNA bedeutet?

Er nickte verzweifelt.

Das muss sich um einen Irrtum handeln. Ich kenne das Messer nicht, und ich hatte es nie in der Hand.

Michel schwieg.

Warum fragen Sie nicht, was es mit dem Messer auf sich hat?

Weil ich nichts damit zu tun habe. Deswegen frage ich nicht.

Michel stand auf.

Ich sage es Ihnen trotzdem, damit Sie den Ernst der Situation erkennen. Es ist jemand damit erstochen worden. Sie sind also in einer prekären Situation, denn wie gesagt: Ihre DNA wurde zweifelsfrei auf diesem Griff gefunden.

Nun passierte eine erstaunliche Wandlung mit Berisha. Bis jetzt hatte er versucht, cool oder angriffig zu wirken, was ihm aber nicht ganz gelungen war. Jetzt schlug er mit beiden Armen immer wieder und wieder aufs Bett und begann zu weinen.

Was geht denn hier vor?

Unbemerkt von allen war ein Mann ins Zimmer gekommen. Er trug einen hellbeigen Regenmantel und hielt eine abgeschabte Ledermappe in der Hand.

Michel wandte sich an ihn, stellte sich und Lena vor und hielt seine Marke in der Hand.

Und wer sind Sie?

Moser. Ich bin der gesetzliche Beistand von Herrn Berisha. Was geht hier vor?

Herr Moser, ich bitte Sie, draußen zu warten. Es handelt sich um eine Vernehmung. Ich werde Sie nachher informieren, soweit ich das darf.

Widerwillig verließ Moser den Raum.

Währenddessen hatte sich Berisha etwas beruhigt.

Michel setzte sich ans Bett.

Herr Berisha, normalerweise müsste ich Sie bei so einem schwe­ren Tatverdacht in Untersuchungshaft nehmen. Da sie jetzt aber in diesem Zustand sind, lassen wir Sie hier. Wir werden aber jemanden vor die Tür stellen. Sie werden jetzt meiner Assistentin sämtliche Angaben diktieren, die sie von Ihnen verlangen wird. Wir überprüfen alles und dann sehen wir weiter.

Zu Lena gewandt.

Ich spreche währenddessen mit Moser draußen. Einverstanden?

Lena nickte und Michel ging aus dem Zimmer.

Draußen im Gang ging Moser mit großen Schritten auf und ab. Als er Michel sah, kam er gleich auf ihn zu. Michel hob beschwichtigend die Hand.

Moser, Sie müssen sich nicht aufregen, Sie können eh nichts ändern. Ihr Schützling steht unter einem schweren Tatverdacht. Es gibt wie immer zwei Möglichkeiten: Entweder ist es ein vertrackter Irrtum oder er ist schuldig. Ich werde das klären, und Sie müssen das aushalten.

Moser nickte.

Um was geht es denn?

Das darf ich Ihnen nicht sagen.

Auch mir, seinem gesetzlichen Beistand nicht?

Nein, aber Sie könnten mir ja etwas über ihn erzählen.

Ja, da gäbe es einiges zu sagen. Ich fang mal mit dem Wichtigsten an. Wie Sie sicher wissen, hatte er eine schwierige Jugend und ist schon früh mit dem Gesetz in Berührung gekommen. Er hat sich dann gefangen und ist nun auf einem wirklich guten Weg. Und wissen Sie warum? Er hat ein sehr nettes Mädchen gefunden. Und sie stützt ihn und hilft ihm, wo sie nur kann. Bald macht er seinen Lehrabschluss. Eine erstaunliche Karriere, wenn man be­denkt, wie er angefangen hat.

Das klingt doch gut, Moser, aber nach Ihrem Gesicht zu schließen, gibt es da einen Haken.

Moser grinste mürrisch.

Haken? Das ist mehr als ein Haken. Das Mädchen ist Schweize­rin!

Michel guckte verblüfft.

Ja, und?

Gut. Ich sehe, Sie haben keinen blassen Dunst von konservativen kosovo-albanischen Verhältnissen.

Nein, das habe ich tatsächlich nicht.

Das Mädchen wird von Bekims Eltern total abgelehnt, das heißt im Klartext: Sie wird von der ganzen Sippe abgelehnt. Das sind, über den Daumen geschätzt, zwischen hundertfünfzig bis dreihundert Personen. Es können auch mehr sein. Wenn sie die im Kosovo dazunehmen, sind es noch mehr. Die alle sind gegen diese Verbindung. Heirat ausgeschlossen. Bekim muss sich von dem Mädchen trennen, sonst wird er ausgestoßen – oder Schlimmeres.

Michel regte sich jetzt wirklich auf.

Warum lehnen die eine Schweizerin ab? Sie leben doch alle in der Schweiz.

Mosers Lachen war bitter.

Ja, aber sie wollen unter sich bleiben. Sie wollen sich nicht mit uns vermischen. Sie haben Angst, dadurch ihre Identität zu verlieren. Muslimin könnte sie ja noch werden, aber auch das wäre nicht gerne gesehen.

Gut. Jetzt habe ich es verstanden. Aber das hat nun mit unserem Fall nichts zu tun. Entweder ist er in die Sache verwickelt oder nicht. Das kann ich jetzt auf die Schnelle auch nicht ändern.

Er nahm ihn am Arm und führte ihn zurück zu der Zimmertür.

Wir überprüfen all seine Angaben und dann sehen wir weiter.

Die Tür öffnete sich und Lena kam heraus. Sie reichte Michel das Buch und den Stift.

Wir haben alles.

Gut. Schreib bitte noch die Nummer von Herrn Moser auf. Ich gebe Ihnen meine Karte.

Moser nestelte in seiner Mappe.

Ich habe auch eine Karte.

Sie verabschiedeten sich und gingen zurück zum Auto.

Auf das Gesicht vom Chef bin ich gespannt.

Michel kicherte.

Können Sie eigentlich Auto fahren?

Lena nickte.

Dann fahren Sie jetzt.

Er gab ihr den Schlüssel, setzte sich ins Auto und öffnete das Notizbuch.

Wir fahren erst zu Berishas Wohnung. Das Gesicht vom Chef kann warten.

Er nannte ihr die Adresse.

Drei Familiennamen seiner sogenannten Kollegen sind ja gleich. Die anderen zwei haben auch den gleichen Namen. Die waren bestimmt alle aus dem Familienclan.

Lena nickte.

Ist mir auch aufgefallen.

Sie mussten in einen dieser trostlosen Vororte fahren, wovon die Hauptstadt trotz ihrer prächtigen Altstadt einige zu bieten hat. Vor einem ziemlich heruntergekommenen Plattenbau parkten sie. Michel beugte sich über die Namensschilder.

Kein einziger Schweizer Name. Also, Berisha wohnt im dritten Stock.

Er richtete sich stöhnend auf.

Wir haben vergessen zu fragen, wo er gestürzt ist. Wir fangen mal unten an. Vielleicht ist auch niemand zu Hause.

Er klingelte bei den beiden untersten Wohnungen. Keine Reaktion. Dann drückte er die beiden nächsten. Die Tür öffnete sich mit einem lauten Surren.

Sie gingen ins zweite Stockwerk, da war eine Tür nur angelehnt. Michel klopfte. Es erschien eine ältere Frau mit Kopftuch.

Guten Tag. Das ist Frau Steiner, ich bin Serge Michel. Wir sind von der Polizei und haben nur ein paar Fragen.

Sie nickte, sagte aber kein Wort zu ihnen. Sie drehte sich und rief irgendetwas auf Türkisch in die Wohnung. Es kam ein etwa sechsjähriges Mädchen, das sie mit neugierigen und aufgeweckten Augen anschaute.

Guten Tag. Meine Großmutter kann kein Deutsch. Ich übersetze. Was wollen Sie?

Wir sind von der Polizei und möchten einige Fragen zur Nacht vom Samstag auf Sonntag stellen.

Das Mädchen übersetzte. Die Großmutter nickte und brummelte was.

Was wollen Sie wissen?

Kennen Sie Bekim Berisha? Er wohnt über Ihnen im dritten Stock.

Das Mädchen nickte eifrig.

Ja, ja, wir kennen ihn. Er ist sehr nett. Er hat mir schon Süßigkeiten gegeben. Das dürfen Sie aber Großmutter nicht sagen.

Nein, nein, das sagen wir nicht. Frag bitte deine Großmutter, ob sie weiß, dass Herr Berisha hier die Treppe hinuntergestürzt ist und sich das Bein gebrochen hat.

Das Mädchen übersetzte. Zeigte mit ihren Händen auf das Bein. Großmutter antwortete. Das Mädchen wendete sich wieder zu Michel.

Sie hat ihn schreien hören. Sie hat aber nicht verstanden, was er geschrien hat.

In diesem Moment hörte man die Haustür. Das Mädchen strahlte.

Das ist meine Mama. Sie kommt vom Putzen.

Sie guckte über das Geländer.

Hallo Mama.

Eine junge Frau mit einem sehr hübschen Gesicht, auch mit Kopftuch, kam die Treppe hoch. Sie schien müde und abgekämpft. Sie blieb erschrocken stehen, als sie Michel und Lena sah.

Hören Sie, Alisa wird sofort in den Kindergarten gehen.

Sie sprach türkisch und das Kind verschwand in der Wohnung.

Ich bin heute etwas später dran. Aber ich kann meine Mutter nicht allein lassen.

Michel hob beschwichtigend die Hände.

Wir sind nicht deswegen hier. Beruhigen Sie sich.

Er blickte vielsagend zu Lena.

Wir sind von der Polizei und möchten etwas über Herrn Beri­shas Treppensturz in der Nacht vom Samstag auf Sonntag erfahren. Was wissen Sie davon? Haben Sie seine Schreie auch gehört?

Ja, sicher. Ich bin raus zu ihm und habe dann den Krankenwagen gerufen. Das war so gegen vier Uhr. Habe ich einen Fehler gemacht? Hätte ich das nicht tun sollen?

Doch, doch. Das war wunderbar von Ihnen. Haben Sie denn auch seinen Sturz gehört?

Sie überlegte kurz.

Nein, ich habe ja geschlafen. Vielleicht hat mich der Lärm des Sturzes geweckt, aber bewusst wahrgenommen habe ich erst seine Hilfeschreie.

Wo lag er denn, als Sie zu ihm kamen?

Da unten. Ich zeige es Ihnen.

Sie ging eine ganze Treppe runter und zeigte auf den Zwischenabsatz im ersten Stock.

Hier lag er. Er muss dieses Stück Treppe vom zweiten zum ersten Stock heruntergefallen sein.

In welchem Zustand war er denn?

Er hat geheult und geschrien, es muss furchtbar wehgetan ha­ben. Aus dem Bein hat es auch geblutet.

Geblutet? Sind Sie sicher?

Ja, ja, ich habe nachher den Boden saubergemacht. Am Kopf hatte er auch eine Wunde. Ich habe sofort den Krankenwagen an­gerufen. Die waren auch wirklich schnell da und haben Herrn Berisha eine Beruhigungsspritze gegeben. Dann haben Sie ihn auf einer Bahre weggetragen.

Sie zögerte.

Und dann?

Am nächsten Tag ist seine Freundin vorbeigekommen und hat sich in seinem Namen bedankt. Ein sehr nettes Mädchen. Sie war oft hier bei ihm. Die Arme, sie hatte ganz verweinte Augen. Sie hat gesagt, dass er am nächsten Tag operiert würde.

In dem Moment kam das Mädchen aus der Wohnung. Sie hatte eine kleine Tasche umgehängt und verabschiedete sich fröhlich von ihrer Mutter. Sie huschte an Michel und Lena vorbei und rannte die Treppe hinunter.

Das ist alles, Frau Akyüz, danke für die Auskünfte.

Sie verabschiedeten sich und verließen das Haus. Michel blickte zurück.

Ich würde gerne seine Wohnung sehen, aber dazu müssten wir einen Durchsuchungsbefehl haben. Na ja, das können wir noch nachholen. Ich werde jetzt doch mal den Chef anrufen, sonst dreht er noch durch. Ich weiß übrigens, warum das Mädchen verweinte Augen hatte. Es war nicht wegen des gebrochenen Beins oder nicht nur.

Lena schaute ihn überrascht an. Michel erzählte ihr in groben Zügen, was Moser ihm mitgeteilt hatte.

Lena war entsetzt und fluchte darauflos, wie er es ihr nie zugetraut hätte.

Entschuldigung, aber so etwas macht mich sauer. Das gibt’s doch gar nicht! In welchem Jahrhundert leben wir denn?

Sie haben recht, mir geht es genauso. Ich rufe jetzt unseren hochwohlgeborenen Chef an.

Von der Werdt nahm sofort ab. Michel erklärte ihm die Sachlage und beantragte eine Wache fürs Spital.

Der Chef ist natürlich enttäuscht, aber mit unserem Vorschlag einverstanden. So. Und Sie fahren mich jetzt ins Spital, danach besuchen Sie noch einmal die sehr nette Frau Akyüz, denn wir haben vergessen, was zu fragen.

Was denn?

Ob Bekim Berisha ihrer Meinung nach wirklich betrunken war. Und ich will mit dem Arzt über den Beinbruch reden. Irgendwas stört mich. Dann bestelle ich jetzt die Spurensuche, die soll das Treppenhaus untersuchen. Sie bleiben im Haus, bis die eintreffen. Später nehme ich ein Taxi und komme auch dorthin.

Lena startete den Motor und Michel rief Sommer an.

Nach einer halben Stunde Wartezeit in der Kantine kam der Chirurg, der Berisha operiert hatte, auf Michel zu.

Er stellte sich als Dr. Bless vor. Er hatte nur kurz zwischen zwei Operationen Zeit.

Michel erklärte ihm in knappen Zügen die Situation.

Was ich gerne wissen will, kann man sich so einen komplizierten Beinbruch bei einem Treppensturz zuziehen?

Der grauhaarige Arzt zog die Augenbrauen hoch.

Na ja, das ist so eine Sache. An sich zeigt uns die Wirklichkeit im­mer wieder Dinge, die in der Theorie nicht zu erwarten sind.

Er lachte.

Wie klärt schon Mephisto den Schüler bei Faust auf: Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum. In diesem Sinne würde ich ihre Frage mit Nein beantworten, aber der Patient hat erklärt, dass sich sein Bein eben im Treppengeländer verheddert hat und damit den offenen Bruch erklärt. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Wenn jemand mit Schuss- oder Messer­verletzungen kommt, dann sind wir natürlich verpflichtet, das zu melden, aber ein Beinbruch …

Michel nickte.

Verstehen Sie, wir konzentrieren uns halt vor allem auf das Flicken und nicht auf die Ursache des Unfalls. Ich bin kein Ge­richtsmediziner.

Gut. Ich will Sie nicht länger aufhalten, Dr. Bless. Können wir denn Berishas Kleider zur Untersuchung haben?

Ich werde das in die Wege leiten. Ein Assistent von mir wird sich bei Ihnen melden.

Michel überreichte ihm seine Karte.

Wir schicken ab sofort einen Beamten vor Berishas Tür.

Der Arzt runzelte die Stirn.

Warum denn das?

Einfach zur Sicherheit. Auf Wiedersehen.

Sie schüttelten sich die Hand.

Aha. Und zu wessen Sicherheit?

Aber diese Frage hörte Michel schon nicht mehr.

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