Kitabı oku: «Die Wohlanständigen», sayfa 6

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zehn

Am anderen Morgen kam Michel fast nicht aus dem Bett hoch. Er hatte solche Kopfschmerzen, dass er das Gefühl hatte, sein Schädel würde platzen.

Dieser verdammte Rotwein!

Seine Vermieterin machte ihm einen Eisbeutel, den er sich auf den Kopf hielt. Das war natürlich sehr nett, dennoch ließ ihn das Gefühl nicht los, als ob sie sich freuen würde. Hatte sie gestern Abend erraten, dass er zu einer Frau ging? Hatte er vielleicht zu laut in der Dusche gesungen? Wahrscheinlich.

Als das Dröhnen in seinem Kopf etwas nachließ, ging er unter die Dusche und ließ abwechslungsweise kaltes und heißes Wasser über sich laufen. Das half. Er zog sich an und machte sich grimmig auf den Weg in sein Büro. Die ganze Zeit dachte er an Mali. Er hörte immer noch ihr Flüstern an seinem Ohr. Er wusste nicht, ob er Mali hassen sollte oder ob er sich auf das nächste Mal freuen sollte. Im Büro ärgerte er sich über Lena, die gestern und heute freigenommen hatte, was sie natürlich mehr als verdient hatte. Tanner war auch nicht da. Michel fühlte sich elend und von der ganzen Welt verlassen.

Dann ging es mit den Verhören von Bekims Cousins endlos weiter. Von der Werdt bestand darauf, sie persönlich zu befragen. Beantwortet wurden allerdings nur die harmlosesten Fragen. Ansonsten schwiegen sie hartnäckig. Von der Werdt tobte, schrie, dann war er plötzlich wieder ganz freundschaftlich, sogar väterlich. Gegen Mittag gab er es auf. Am Nachmittag holte man die ganze greifbare Verwandtschaft. Alle schwiegen verstockt und antworteten nur das Nötigste. Alles Drohen und Schimpfen nützte nichts. Gegen fünf Uhr wurde die Befragung abgebrochen. Bis es dunkel wurde, hockte Michel über den Akten, dann ließ er den Kopf sinken und schlief über einem Berg Akten ein.

Er schreckte hoch, als sein Mobiltelefon schrillte. Es war Mali. Mali die Erlöserin. Mali mit dem erlösenden Wort: Komm!

Eine Stunde später stand er frisch geduscht und frisch rasiert vor Malis Haustür und klingelte. Sie riss die Tür auf. Ihre Haare waren nass.

Haben wir wieder gleichzeitig geduscht?

Du bei dir. Ich bei mir.

Sie lachten.

Das waren dann für viele Stunden seine letzten Worte.

Sie gingen die Treppe hoch. Sie war barfuß und trug einen schwarzen Kimono mit rosaroten Distelblüten. Im Schlafzimmer brannten Kerzen. Mali schlüpfte aus ihrem Kimono. Ihre Haut schimmerte im Kerzenlicht. Sie drehte sich zu ihm. Die Spitzen ihrer Brüste waren hart und leuchteten golden.

Sie blickte ihm in die Augen. Dann berührte sie ihn zwischen den Beinen.

Michel schluckte und nickte.

Am anderen Morgen um sieben Uhr rief Michel Sommer an und meldete sich krank. Er habe hohes Fieber. Mali hatte glücklicherweise ihren freien Tag.

Das mit dem Fieber war nicht einmal gelogen, denn er fühlte sich tatsächlich fiebrig und wie in Trance. Zwischendurch hatten sie gemeinsam geduscht, in der Küche eng umschlungen eine Kleinigkeit gegessen und getrunken und waren wieder zurück ins Bett gegangen. Erst gegen Mittag waren sie eingeschlafen.

Als sie wieder erwachten, war der Nachmittag fast schon vorbei. Draußen regnete es in Strömen. Michel war allein im Bett.

Sein Telefon klingelte. Widerwillig nahm Michel ab. Es war Lena, die sich erkundigen wollte, wie es ihrem Chef ging. Er antwortete krächzend und mit heiserer Stimme.

Ich habe immer noch Fieber. Ich hoffe, dass ich morgen kommen kann. Gibt’s was Neues?

Nichts, was ich Ihnen am Telefon sagen könnte.

In diesem Moment rief Mali irgendwas Fröhliches von unten.

Zu spät hielt er den Hörer mit der Hand zu.

Sie sind nicht allein, Chef?

Michel schnaubte.

Erstens habe ich Ihnen verboten, Chef zu sagen, und zweitens ist es meine Nachbarin, die fragt, ob ich etwas brauche.

Lena kicherte.

Oh, wie nett!

Ja, es gibt sie eben noch, die hilfsbereiten Nachbarn.

Interessant ist allerdings, Michel (sie betonte Michel mit übertriebenem Nachdruck), dass ich Sie über Ihr Festnetz nicht erreichen konnte.

Sie kicherte wieder.

Ich wünsche Ihnen gute Besserung und hoffentlich bis morgen. Ich bin ab sieben im Büro.

Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie schon wieder aufgelegt.

Teufelsbraten!

Michel drehte sich um. Er sah Mali nackt im Türrahmen stehen.

Teufelsbraten? Meinst du etwa mich?

In diesem Augenblick klingelte sein Telefon wieder. Unwillig nahm er ab.

Verdammt. Kann man denn nicht einmal in Ruhe krank sein!

Ach du Armer! Krank? Und wieso bist du dann nicht zu Hause? Du liegst sicher in den Armen einer Frau, ich kenn dich doch!

Es war Tanner.

Michel bekam vor Aufregung einen Hustenanfall.

Bist du zurück?

Ja, alter Schwede. Bist du erkältet? Können wir uns morgen sehen? Also natürlich nur, wenn du wieder auf den Beinen bist. Kommst du zu mir zum Essen? Es gibt marokkanischen Kamelbraten. Gegen acht! Aber bitte pünktlich.

Ja, ja, sicher. Ich rufe dich morgen früh an.

Mali kuschelte sich an ihn.

Wer war denn das?

Das war Simon Tanner, zurückgekehrt aus Marokko.

Ist er dein Freund?

Michel nickte.

Ja, das kann man so sagen.

Und was hat er in Marokko gemacht? Ferien?

Michel schmunzelte.

Nein, nein, er war auf Einladung von Mohammed dem VI., König von Marokko, dort. Vielmehr dessen Gattin, der ehemaligen Prinzessin Lalla Salma, jetzige Gemahlin des amtierenden Königs.

Sie boxte ihn in die Seite.

Du nimmst mich auf den Arm, oder?

Sie wälzten sich lachend im Bett. Dann küssten sie sich lange und innig. Sie spreizte ihre Beine, zog die Knie hoch und sein Mund verschwand in ihrem Schoß.

elf

Kurz nach acht klingelte Michel an der schweren Eichentür des herrschaftlichen Maison Blanche, in dem Tanner seit Jahren wohnte. Da es eine gefühlte Ewigkeit dauern würde, bis sich die Tür öffnete – es gab keinen elektrischen Öffner – hatte Michel Zeit, sich die Beine im Park des Hauses zu vertreten. Er ging zwischen Wohnhaus und Gärtnerhaus bis an die steinerne Balustrade, die den Abschluss des Gartens gegen den See bildete. Michel fühlte sich immer noch etwas benommen von den stürmischen Erlebnissen der letzten zwei Tage und stützte sich auf den kühlen Stein.

Der See leuchtete in einem düsteren Türkisblau, stark kontrastiert von der sanften Hügelkette am anderen Seeufer. Die Hügel waren bereits dunkel, bar jeder erkennbaren Farbe. Ihre scharf vom Himmelslicht sich abzeichnenden Rücken erinnerten an eine schlafende Herde einer längst ausgestorbenen Spezies. Durch ein merkwürdiges Flimmern des Lichts hatte Michel tatsächlich den Eindruck, als ob die Hügel atmeten. Er rieb sich die Augen, aber der Eindruck blieb.

Er hörte knirschende Schritte im Kies hinter sich und drehte sich um.

Salam alaikum.

Michel verbeugte sich theatralisch.

Tanner lachte.

Versuch’s lieber nicht mit Arabisch. Bewunderst du meinen See?

Deinen See! He, he, he.

Michel grunzte.

Hat dich der marokkanische König adoptiert oder zum Ritter geschlagen?

Ne, das nicht, aber ich bin jetzt wieder ein wohlgelittener Gast in seinem Königreich.

Tja, was für ein Glück. Ist der Kamelbraten fertig? Ich habe nämlich einen saumäßigen Hunger.

Klar. Komm, wir gehen in die Küche.

Tanner nahm das Lammgigot aus dem Ofen, tranchierte es, schöpfte Michel einen Teller voll Braten, Gemüse und Kartoffelstock.

Da, lieber Michel, ist noch ganz viel in den Töpfen. Du wirst nicht verhungern. Ich hatte nach zwei Wochen marokkanischer Küche Lust auf was Ländliches von hier.

Michel prostete Tanner zu.

Gott sei Dank, ich hatte schon etwas Exotisches befürchtet.

Sinnend hob er das Glas gegen das Licht.

Danke, lieber Gott, dass du Bier und Braten erschaffen hast.

Tanner lachte.

Amen.

Dann aßen sie eine Weile schweigend. Tanner füllte Michel bald darauf einen zweiten Teller.

Und? Bist du an einem neuen Fall?

Michel wischte sich die Lippen und gab Tanner einen kompletten Überblick über die momentane Lage. Er schimpfte kurz über den neuen Chef und schwärmte ein bisschen von seiner neuen Assistentin.

Ah, dann hast du dich gestern wegen ihr krankgemeldet?

Michel gab sich entrüstet.

Mensch, sie ist ja noch ein Kind, spinnst du? Warst du zu lange in der Wüste? Ich hatte hohes Fieber, basta, und war krank.

Tanner lächelte und füllte die Gläser nach.

Ist ja gut. Ich glaube dir ja. Dann bin ich froh, dass sich das Fie­ber so schnell verflüchtigt hat.

Michel ächzte.

Ja, es kam aus dem Nichts – wie angeworfen – und verschwand, wie es gekommen war. Erzähl mir lieber mal von Marokko.

Tanner lehnte sich zurück.

Na ja, ich hatte zwei schöne Wochen in Marokko, alles bezahlt vom Königshaus. Ich war zu einem offiziellen Essen im Palast ein­geladen, wurde auch offiziell wie ein Staatsgast vorgestellt und war in einem märchenhaften Hotel in der Nähe des Palastbezirks einquartiert. Den Rest der Zeit bin ich herumgereist und habe alte Bekannte getroffen. Meine ehemalige Haushälterin ist leider ge­storben, aber ihre Tochter habe ich gesehen. Sie wird im Sommer mit ihrer Familie mein Gast sein. Ich habe sie eingeladen.

Gut. Wie schön für dich. Du hattest es sicher verdient.

Michel zeigte nicht besonders viel Interesse an Tanners Bericht.

Sag mal, Tanner. Diese DNA am Messer macht mir ein bisschen Sorge. Hast du da eine Idee? Sein Alibi ist ja ziemlich stichhaltig.

Wenn der Zeitablauf so stimmt, wie du erzählst, dann kann die­ser Bekim tatsächlich nicht der Täter sein, da können noch so viele DNA-Spuren von ihm am Messer sein. Entweder ist es eine Verwechslung im Labor oder jemand hat die Spur bewusst oder unbewusst ans Messer appliziert. Oder …, auch Wissenschaftler können sich irren.

Michel verdrehte die Augen.

Du sagst es.

Tanner erhob sich, um kaltes Bier aus dem Kühlschrank zu ho­len.

Du musst halt fleißig das Beckmann’sche Umfeld weiterbearbeiten. Das bleibt dir nicht erspart. Gute alte kriminologische Arbeit.

Ja, ja. Jetzt noch was anderes. Meine Assistentin hat herausgefunden, dass mein Büro verwanzt ist. Sie hat in meiner Abwesenheit ein klitzekleines Mikrofon gefunden, dass drahtlos funktioniert. Wir vermuten, dass Von der Werdt die Büros verwanzt hat. Er will offenbar die totale Kontrolle über alles haben. Er hat auch entschieden, dass unsere Bürocomputer über einen externen Server laufen, das heißt, auch dort hat er wahrscheinlich jederzeit Einblick.

Tanner runzelte die Stirn.

Das ist ja ein ganz übler Bursche. Mein herzliches Beileid. Wo hat er das denn gelernt?

Michel senkte die Stimme, als ob er befürchten würde, dass er auch hier im Maison Blanche abgehört werden könnte.

Ich habe Lena den Auftrag gegeben, sich darum zu kümmern. Es heißt, er kommt aus der Verwaltung. War auch lange in England. Na ja, Lena wird es schon herausfinden. Ich glaube, sie kommt ohne Weiteres in andere Computersysteme und so. Sie ist wirklich ein aufgewecktes Kind.

Schon wieder Kind. Wie alt ist sie denn?

Michel reagierte etwas verlegen.

Ja, gut. Sie ist 27 Jahre alt, aber sie sieht eben noch aus wie ein halbes Kind.

Ist das denn legal, was sie macht?

Michel zuckte mit den Schultern.

Sind versteckte Mikrofone im Büro eines verdienten Kommissars legal?

Nein, natürlich nicht. Was ist? Willst du noch eine Nachspeise?

Michel hob abwehrend die Hände und stand auf.

Nein, nein, hm …, das Kamel war schon fast zu viel. Du entschul­digst mich. Es war ganz ausgezeichnet, wie immer. Aber: Ich fühle mich immer noch etwas angeschlagen. Ich muss ins Bett, denn morgen ist Großkampftag, da muss ich fit sein. Das wirst du doch verstehen.

Ja, ich versteh doch, dass du so schnell wie möglich wieder ins Bett willst. In deinem Zustand.

Tanner lächelte.

Ich glaube sogar, du hast immer noch Fieber. Deine Augen glänzen so verdächtig.

Michel feixte.

Ja, ja, mach dich nur lustig über mich. Ich weiß jetzt, was mir die ganze Zeit gefehlt hat: Ein Freund, der mich versteht.

Aber das bin ich doch. Und Michel, falls du morgen Hilfe brauchst: Ich bin da.

Michel nickte und beeilte sich die Treppe hinunter. Tanner folgte ihm.

Fall nicht runter! In deinem Zustand!

zwölf

Am nächsten Morgen rief Michel Tanner an, ob er Lust hätte, ihn zu begleiten.

Wohin?

Wie nanntest du es: Gute alte kriminologische Arbeit.

Tanner war einverstanden.

Eine Stunde später fuhr Michels Dienstwagen auf den Kiesvorplatz. Tanner wartete bereits. Am Steuer saß Lena. Sie winkte ihm lächelnd zu. Er winkte zurück und nahm im Fond Platz.

Aha. Sie müssen Lena sein.

Und Sie Tanner.

Beide sprachen jetzt gleichzeitig.

Michel hat von Ihnen erzählt.

Sie lächelte. Michel brummte irgendwas.

So. Wohin geht’s? Wieder in die Berge?

Lass dich überraschen.

Michel gab Lena Anweisung, nicht auf die Autobahn zu fahren, sondern über die Landstraßen.

Die Gegend ist einfach zu schön.

Er blickte Beifall heischend zu Tanner.

Der nickte.

Lena fuhr mit dem schweren Wagen zügig Richtung Norden und bog dann – nach dem Städtchen, das sie umfuhren – Richtung Westen, in Richtung flaches Land. Die Felder flogen links und rechts an ihnen vorbei.

Hier möchte man doch wieder ein Junge sein, mit einer anständigen Steinschleuder und ein paar schönen runden Kieselsteinen. Oh, wie würde das krachen und klirren …

Lena lachte. Und warf einen schnellen Blick in den Rückspiegel.

Tanner genoss die Fahrt durch diese einsame, fast verwunschene Gegend, an kleinen Dörfern vorbei, die so unernste, so spielerische Namen hatten, die der Rest des Landes wahrscheinlich noch nie gehört hatte. Obwohl, wie er stirnrunzelnd feststellte, auch hier die Verbauung mit Garagen, hässlichen Hallen für Gewerbe und kleine Fabriken stellenweise stark zugenommen hatte.

Kurz darauf bog Lena wieder nach Norden und steuerte dem dritten See des flachen Landes zu. Tanner schloss die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie im Schritttempo durch das Städtchen fuhren, von dem aus die kleine Halbinsel erreichbar war. Sie fuhren aber nicht auf die Halbinsel, sondern weiter um den See herum.

Michel drehte seinen massigen Körper so, dass er Tanner sehen konnte.

Der Beckmann hat irgendwann, nachdem er aus der Sozietät geflogen war, ein Büro dort in der Stadt am Ende des Sees aufge­macht. Seine Tochter hatte erzählt, dass er seit jeher ein Flair fürs Welsche, insbesondere für diese zweisprachige Stadt hatte. Seiner Familie hatte er suggeriert, dass er für die Sozietät ein Büro fürs Welschland aufmacht. Später hat er wohl – laut seiner Tochter – eine Frau kennengelernt, bei der er zeitweise auch gewohnt hat. Vielleicht hat er auch zuerst die Frau kennengelernt und dann das Büro eröffnet. Wir werden es erfahren, denke ich.

Weiß sie, dass er tot ist?

Ja. Die Tochter hat es ihr mitgeteilt. Sie heißt übrigens Marthe Jacobs. Sie war schon einmal verheiratet. Ihr Mann ist beim Bergsteigen tödlich verunglückt. Kinder hatten sie keine. Sie arbeitet als Dolmetscherin.

Habt ihr auch schon mit dem Sohn gesprochen?

Tanner wandte sich mit dieser Frage an Lena.

Nein, er kommt erst heute Nachmittag zurück. Wir haben ihn immerhin endlich erreicht. Wir werden ihn heute noch sprechen.

Kurz vor dem eigentlichen Stadtzentrum, in einem ruhigen Außenbezirk zwischen See und Fluss, wohnte Marthe Jacobs in einem dreistöckigen alten Haus, das in einem Garten stand und dessen Fassade über und über mit Weinlaub bedeckt war. Die Fassade endete oben in einem überhöhten kühnen Schwung und hatte dadurch etwas Holländisches.

Michel drückte die Klingel.

Wir sind angemeldet.

Zu Tanner gewandt.

Ich zeige meine Dienstmarke und stelle dich als Kollegen vor. Wie immer.

Tanner nickte.

Wie immer.

Die Tür öffnete sich, und sie stiegen die knarrenden Treppenstufen hoch. Marthe Jacobs wohnte im zweiten Stock.

Die Frau, die sie begrüßte, war zwischen 45 bis 50 Jahre alt, hatte blonde Haare, die sie lose hochgesteckt hatte, trug Jeans und einen alten grauen Pullover, der ihr zwei Nummern zu groß war. Ihre nackten Füsse waren braungebrannt, ihr Händedruck überraschend kräftig. Ihre Augen waren leicht gerötet, man sah ihr an, dass sie geweint hatte.

Ist es Ihnen recht, wenn wir in die Küche gehen? Das ist mein größter Raum und da gibt’s einen großen Tisch …

Michel nickte.

Das ist uns sehr recht, Frau Jacobs.

Möchten Sie Tee?

Michel zögerte. Tanner kam ihm zuvor.

Ja, wir nehmen gerne Tee.

Sie setzten sich an den großen Tisch. Die Küche war so richtig nach Tanners Geschmack. Es gab viel Platz, um alles Mögliche vor­zubereiten. Einen großen Kühlschrank. Zwei Backöfen. Und ein Glanzstück von einem Gaskochherd.

Mit Kennerblick sah er all die kleineren und größeren Uten­silien, die man braucht, wenn jemand leidenschaftlich gerne kocht. Er entdeckte auch ein Sous-Vide-Gerät.

Sie stellte einen großen Wasserkocher auf den Herd und entzündete das Gas.

Tanner sah, dass sie sehr geschickt hantierte.

Zwei Backöfen, das sieht man selten.

Sie lachte.

Ja, das ist meine Leidenschaft. Ich mache viel im Backofen. Manchmal braucht man zwei.

Sie stellte mit Schwung einen großen Gugelhopf auf den Tisch.

Den habe ich ganz frisch heute Morgen gemacht.

Sie blickte zu Tanner.

Schneiden Sie bitte ein paar Stücke.

Sie tat Teekräuter in einen großen blauweißen Krug. Dann setzte sie sich an den Tisch.

Sie wollen sicher über meine Beziehung zu Karl, also, ich meine, zu Herrn Beckmann sprechen.

Wo haben Sie ihn denn kennengelernt?

Michel gab Lena ein Zeichen, die sofort ihr Notizbuch zückte.

Bevor sie antwortete, straffte sie ihre Haare und rückte sich den Pullover zurecht.

Ich habe ein Segelboot im Hafen. Ich bin Seglerin. Herr Beckmann saß vor ungefähr fünf Jahren plötzlich jeden Tag auf einer Bank am Hafen, ganz in der Nähe von meinem Liegeplatz. Es gab irgendeinen Tag X, ab dann saß er praktisch jeden Tag auf dieser Bank. Außer natürlich, wenn es regnete. Er hatte seine große Aktentasche dabei. Er saß einfach da – und tat nichts. Außer, dass er ab und zu aus seiner altmodischen Thermosflasche trank und ein Brot aß. Sonst tat er nichts. Er las nicht, guckte auch in kein Handy. Für einen Landstreicher sah er viel zu gepflegt aus, seine Kleidung war stets tadellos. Irgendwie fiel er mir dadurch auf. Und weil so eine Traurigkeit um ihn herum war.

Sie blickte zu Tanner.

Ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Er sah nicht nur traurig aus, alles um ihn herum war traurig. Auf jeden Fall passte er nicht auf diese Bank. Ab und zu fütterte er eine Möwe. Das war dann auch unser erstes Gesprächsthema.

Sie stand auf, denn das Wasser kochte. Stockend erzählte sie weiter.

Wir Segler haben die Möwen nicht besonders gern, obwohl sie natürlich tolle Tiere sind, aber sie scheißen halt unsere Schiffe voll. Entschuldigen Sie die Ausdrucksweise, aber es ist halt so.

Sie lächelte etwas verkrampft.

Dann habe ich ihm eines Tages gesagt, er soll die Möwen doch nicht füttern.

Sie hielt inne. Ihr Gesicht verdunkelte sich für einen Moment.

Ja, so haben wir uns kennengelernt.

Sie machte eine Pause, als ob sie den Faden verloren hätte.

Wann hat Ihnen Beckmann von seiner Situation erzählt? Äh, und … darf man denn zugreifen? Der Kuchen sieht zu verführerisch aus.

Ja, klar. Greifen Sie bitte zu. Der Tee ist auch bald soweit.

Ich glaube, ich habe ihn bei unserem dritten Gespräch gefragt, was er denn so mache und warum er jeden Tag hier rumsitze.

Sie schenkte den Tee in die Tassen.

Er hat mir gleich ziemlich offen gesagt, dass er arbeitslos geworden sei, dass seine Familie das aber nicht wüsste und er so täte, als würde er den ganzen Tag weiterarbeiten.

Er hat also auch gesagt, dass er verheiratet ist und erwachsene Kinder hat?

Ja, ja, er hat gleich alles auf den Tisch gelegt. Ich fand das merkwürdig und ich habe ihn gefragt, warum er das denn seiner Frau nicht sagen würde. Er meinte, das wäre ihr großer Triumph und den würde er ihr nicht gönnen. Ihm würde schon etwas einfallen. Mehr hat er dazu nicht gesagt.

Michel grunzte behaglich.

Also, dieser Kuchen ist umwerfend, muss ich Ihnen sagen. Und ist ihm denn etwas eingefallen?

Ja, er hat dann hier im Hinterhaus einen Raum gemietet und ein Büro eröffnet. Er hat immer gesagt, dass er noch alte Kunden habe, die ihm treu geblieben sind. Und dann und wann hat er hier übernachtet.

Tanner schenkte sich noch einen Tee ein.

Gehört das Haus Ihnen?

Ja. Das hat mein Urgroßvater gebaut, deswegen heißt es auch das Holländerhaus. Er ist hierher aus Rotterdam gezogen …

Sie seufzte.

… der Liebe wegen und hat dann einen Import-Exporthandel aufgezogen. Mein Großvater war nicht so erfolgreich und das Geschäft ging bankrott. Aber das Haus blieb immer in unserem Besitz. Nach dem Tod meines Mannes habe ich wieder meinen Mädchennamen angenommen.

Michel räusperte sich.

Sind Sie seit dem Tod von Beckmann, also von Herrn Beckmann in sein Büro gegangen?

Sie hob abwehrend die Hände.

Nein, nein, da hätte ich nicht hineingehen mögen. Außer natürlich, als ich ihm damals den Raum gezeigt habe. Nachher bin ich nie mehr nach hinten gegangen.

Können wir einmal reinschauen?

Ja, sicher.

Sie ging schnell in den Korridor und kam gleich zurück.

Hier sind die Schlüssel. Sie gehen einfach im Parterre durch die Gartentür. Es ist nur ein kleines Hinterhaus mit einem einzigen großen Raum und einer Toilette mit Dusche.

Michel erhob sich und bedeutete Lena mitzukommen.

Tanner blieb auf ein Zeichen von Michel zurück.

Er zuckte mit den Achseln und trank Tee.

Frau Jacobs, dies ist eine schwere Zeit für Sie. Darf ich Ihnen trotzdem noch einige Fragen stellen?

Sie nickte und setzte sich wieder an den Tisch.

Hat Beckmann auf der Bank im Hafen nie jemanden getroffen oder mit jemandem gesprochen?

Sie stützte ihr Kinn in ihr Handgelenk. Sie sprach zögernd.

Nein, das heißt, nie solange ich im Hafen war. Er wollte ja nie mit mir auf mein Segelboot. Ich glaube, er hatte Angst, seekrank zu werden. Einige Male, wenn ich nach einem Ausflug zurückkam in den Hafen, habe ich dann und wann einen anderen Mann gesehen. Einmal saß er sogar neben Karl, war dann aber schon weg, als ich anlegte.

Haben Sie ihn nach dem Mann gefragt?

Ja, natürlich, aber er meinte, dass es nur ein Passant gewesen wä­re, mit dem er kurz geplaudert hätte.

War es immer derselbe Mann?

Ich glaube schon.

Sie ordnete nervös ihre Haare.

Haben Sie seine Tochter kennengelernt?

Sie hob überrascht den Kopf.

Kennen Sie sie?

Nein, ich nicht. Mein Kollege Michel hat sie besucht und gesagt, dass sie sehr nett wäre und auch immer zu ihrem Vater gehalten hätte.

Ja, das stimmt, sie ist sehr nett. Sie hat ab und zu ihren Vater hier besucht. Wir saßen dann auch zusammen an diesem Tisch. Dann und wann ist er auch mit ihr spazieren gegangen. Wir sind fast Freundinnen geworden, kann ich sagen.

Fast?

Ja, für mehr war sie dann doch zu selten da.

Hat Karl Beckmann über seine Frau gesprochen?

Nein, nie. Er wollte auch gar nicht, dass ich danach frage.

Eine letzte Frage. Vielleicht die schwerste.

Sie saß jetzt ganz aufrecht.

Wussten Sie, dass Karl Beckmann Krebs hatte und nicht mehr lange zu leben hatte?

Sie ließ ihren Kopf auf ihre Arme fallen, die sie auf den Tisch gestützt hatte und wischte eine Träne weg.

Ja, ich wusste es. Es war furchtbar. Vor allem, er wollte sich nicht mehr behandeln lassen. Er war der Meinung, dass das eh vergebens sein würde. Nur die Qual verlängern würde. Er hatte wahrscheinlich recht, aber es war schrecklich. Diese Gewissheit …

Draußen hörten sie Schritte. Michel und Lena kamen zurück. Marthe erhob sich schnell und ging an den Kochherd. Dort schnäuzte sie sich kräftig und zog ihren Pullover straff.

Tanner legte seine Karte neben ihre Teetasse.

Wenn Ihnen noch etwas in den Sinn kommt oder wenn Sie Hilfe brauchen, rufen Sie mich bitte an.

Sie lächelte ihm dankbar zu.

Michel kam mit ernster Miene in die Küche.

Tanner, komm mal raus. Ich muss dich sprechen.

Draußen schloss Michel die Wohnungstür und flüsterte.

Lena ist hinten geblieben und ruft den Gerichtsarzt und die Spurensicherung.

Wieso das denn?

Wir haben noch einen Toten.

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