Kitabı oku: «Tanner», sayfa 5
Müde bin ich, geh zur Ruh. Danke, lieber Gott! Und mach die Türe zu …!
Fünf
Tanner trommelt ungeduldig auf das Steuerrad des weißen Opel Kombi, dem Auto von Karl und Ruth. Er steht seit einer Viertelstunde im Stau vor dem Tunnel, kurz vor der großen Stadt. Wahrscheinlich ein Unfall.
Mein Gott, ich komme zu spät! Wie ich das hasse! Sie hat nur eine Stunde Aufenthalt, Leute!
Keine Reaktion. Es ist bereits halb zehn.
Er lehnt sich zurück, schließt seine Augen und denkt an das zerwühlte Bett, in dem er heute früh um sieben von seinem Telefon geweckt worden ist. Er hat sich geduscht und frische Kleider angezogen. Auch die Krawatte. Schließlich hat seine Tänzerin sie ihm geschenkt.
Die Küche war leer. Weit und breit keine Ruth. Und das war gut so.
Tanner hat Karl in der Scheune bei der Arbeit gefunden und hat ihm erklärt, dass er überraschenderweise in die Weltstadt am See muss. Er hat ihm sofort den Schlüssel ausgehändigt, ohne weitere Fragen zu stellen. Sie haben auch sonst nichts gesprochen. Er hat ihm nur noch hinterhergerufen, er solle sich als Pate des frisch geborenen Kuhmädchens einen Namen mit L überlegen.
Wieso nicht Lilly?
Angesichts dieser Nacht wäre vielleicht Lilith angemessener, aber man sollte die beruflichen Zukunftsaussichten des kleinen Kalbes damit nicht belasten.
Wieso hat sich Lilly, die Frau von Raoul, wohl umgebracht? Vielleicht wird er mit Rosalind darüber reden können. Heute Abend um fünf Uhr. Was sie wohl von ihm will?
Plötzlich hupt es laut. Tanner öffnet die Augen. Die Autokolonne vor ihm ist bereits weitergefahren. Im Auto hinter ihm sitzt ein vor Zorn rot angelaufener Spießer, Marke Handelsvertreter. Tanner winkt fröhlich mit der Hand, dann legt er gemütlich den ersten Gang ein, streicht sich mit der rechten Hand durch seine strähnigen Haare und fährt betont langsam an.
Sei nicht kindisch, Tanner.
Er findet zum Glück auf Anhieb den Flughafenzubringer, stellt das Auto in eines der riesigen Parkhäuser und rennt durch die langen Gänge zur Ankunft Ausland. Auf den großen Schrifttafeln ist zu sehen, dass die Maschine zehn Minuten Verspätung hat.
Tanner erkundigt sich am Auskunftsschalter bei einer auf Hollywood geschminkten Blondine, wo er seine Transitpassagierin finden könnte.
Wo fliegt er denn anschließend hin, ihr Träääänsit, gurrt sie ihn an, als ob sie Kim Basinger in L.A. Confidential wäre.
Gute Frage! Weiß ich leider nicht, mimt er zerknirscht, ich weiß nur, dass mein Träääänsit aus Stuttgart kommt.
Okay, dann gehen Sie halt zum miiiiiting point in der Halle A, schmollt sie, weil er sie nachgeäfft hat und weil er offenbar immun ist gegen ihren implantierten Sexäppiiiiil in ihrer prallen Bluse.
Also trabt Tanner wieder durch lange Gänge und sucht den miiiiting point. An dem besagten Punkt stehen dicht gedrängt einige amerikanische Rucksäcke auf staksigen Beinen herum, die sich gerade fragen, warum sie ihr so schönes Amerika verlassen haben. Aber keine schlanke Tänzerin, weit und breit.
Gerade als er sich überlegt, ob er nicht doch Zigaretten kaufen soll, um für die Begegnung innerbetrieblich besser gerüstet zu sein, ruft's in seinem Rücken glockenhelle.
Hallo, Tannerli! Wer bin ich?
Zwei kühle, schmale Hände legen sich von hinten über seine Augen.
In dieser Stellung könnte er gut und gerne einige Jahre verbringen. Nichts mehr sehen müssen! Diesen schlanken Körper an seinem Rücken spüren und den schnellen Wortkaskaden ihres Mundes lauschen. Aber da nur wenig Zeit bleibt, dreht er sich um.
Na, wer wohl? Der Teufel in Engelsgestalt!
Ha, ha, sagt sie grantig.
Diese schnellen Brüche, die beherrscht sie.
Wollen wir einen Kaffee trinken, fragt er, ohne auf den Wechsel ihrer Laune einzugehen.
Hättest du das früher gekonnt, Tanner …
Wir könnten auch einfach hier auf einer Bank sitzen. Der Kaffee ist doch so schweineteuer in der Schweiz.
Für alle Spezialisten, sie ist Sternzeichen Jungfrau!
Nein, ich habe nur einen Witz gemacht. Komm, Simon, wir gehen an die Bar!
Und ohne seine Antwort abzuwarten, schleppt sie ihn lachend zur Bar.
Sie hat ihre neuen Stiefel an, von denen sie ihm letzthin am Telefon erzählt hat. Tagelange, qualvolle Entscheidungsnöte, dann endlich der erlösende Kauf. Dazu die schwarzen Hosen, die er so gerne an ihr mag, und ihre Wildlederjacke.
Sie setzen sich an die Bar. Sie bestellt eine heiße Schokolade, nicht ohne sich erst mit wissenschaftlicher Akribie zu vergewissern, dass die Schokolade ganz sicher mit Milch angerührt ist und nicht mit Wasser.
Wohin fliegt ihr eigentlich und warum so überraschend?
Wir springen für eine andere Compagnie an einem Festival in Sydney ein. Ich freue mich wahnsinnig darauf. Wir haben drei Aufführungen, bleiben aber ganze sieben Tage! Stell dir vor! Da kann ich auch meinen Onkel und meine Tante besuchen und da ist es sicher viel wärmer als hier. Ich wollte doch schon lange mal nach Australien. Und du? In der neuen Produktion tanze ich die Hauptrolle. Auf den Moment, da sie doch auch einmal Luft holen muss, wie alle Säugetiere an Land und im Wasser, lauert er.
Nach Australien! Das ist ja wunderschön, äh … ich freue mich für dich.
Das meint er auch wirklich.
Tanner weiß, wie gerne sie reist und wie mühevoll der Theateralltag in der schwäbischen Metropole für sie ist. Aber gleichzeitig kommt ihm, aus einem unbestimmten Gefühl heraus, eine Idee. Vielleicht, weil er das traurige Gesicht von Karl nicht vergessen kann, als der gestern vom Verschwinden seines Freundes Raoul erzählt hat.
Vielleicht, weil Tanner ein schlechtes Gewissen hat. Immerhin haben seine Frau und er gevögelt, während Karl im Stall Geburtshelfer spielte.
Hör mal, ich habe eine ganz wichtige Aufgabe für dich in Australien. Du musst dort drüben für mich etwas recherchieren.
Das Wort recherchieren wirft er als Köder aus, denn er weiß, wie gerne und wie begabt sie sich kniffligen Problemen widmet.
Aha, das klingt ja spannend, antwortet sie prompt und nimmt ihre heiße Schokolade in Angriff.
Dann erzähl doch mal, um was es geht, Simon.
Tanner erzählt ihr natürlich nur die für seine Absicht wichtigen Fakten aus der Geschichte von Karls Freund und dessen Verschwinden.
Er greift in seine Jacke und zeigt ihr die Briefmarke. Das Medaillon selbst behält er in seiner Hand.
Sie setzt diese ernste Miene auf und betrachtet eine Weile schweigend die Briefmarke.
Palace! Das Wort muss Palace heißen!.. .ace ist ein Teil des Wortes Palace. Das ist wahrscheinlich ein Hotel, das selber einen Hotel-stempel hat, eigens für die Post der Touristen, und es liegt sicher am Meer, wegen den stilisierten Wellen. Habe ich die Prüfung bestanden, Kommissar Tanner?
Er küsst sie auf beide Wangen. Wie ein Papa.
Was heißt bestanden! Du hast mir sehr geholfen.
Sie lacht.
Was? Darauf bist du selber gar nicht gekommen. Das war doch ganz einfach. Du lässt nach, Tannerli! Wie gut, dass du mich hast. Gib mir mal das Medaillon, bitte!
Sie nimmt es sich, bevor die Bitte ausgesprochen ist. Gottergeben wartet er auf die Frage, die da kommen wird wie das Amen in der Kirche.
Ist sie schön, diese Tochter von Raoul, diese Rosalind?
Volltreffer!
Und dann die kostbar einfühlsame Formulierung: Diese Rosalind!
Eifersüchtig?
Tanner fragt, weil ihm halt nichts Besseres in den Sinn kommt.
Aber ja. Und wie! Siehst du nicht, wie ich leide?
Sie kontert gewohnt cool und da ist es wieder, dieses glockenhelle Lachen …
Du änderst dich nie, Tanner. Und am Schluss bist du wieder der Dumme. Lass dir das gesagt sein. Von einer durch übermäßigen Schmerz vorzeitig weise gewordenen Jungfrau!
Meinen mylady jetzt das Tierzeichen Oder …?
Hör auf, Simon, du bist fad! Sag mir lieber, was ich tun soll, oder, wie du es etwas pompös nanntest: Was soll ich für dich recherchieren?
Da hast du deine psychologische Raffinesse, Tanner!
Sie leert ihre Tasse und holt sich den Rest der Schokolade mit dem Finger heraus.
Hat's dir die Sprache verschlagen? Oder was?
Nein, ich möchte nur untertänigst auch Schokolade von deinem Finger schlecken, flennt er in sich hinein.
Er reißt sich zusammen.
Also, wenn du eine Möglichkeit findest herauszukriegen, in welchem Hotel Raoul abgestiegen ist und … Moment mal! Hast du nicht mal erzählt, dass deine Tante irgendwie in einer Verwaltungsbehörde arbeitet. Vielleicht könnte sie herausfinden, wo Raoul Finidori jetzt lebt. Ob er überhaupt noch in Australien lebt und so. Natürlich war das Ganze ja vor etwa sieben Jahren, aber mit deiner Intelligenz, deinem Charme, deinem Aussehen …
Stop! Simon! Ich sage nur: Vorsicht! Verdirb nicht wieder ganz am Schluss unser Treffen!
Sie sagt das nicht unfreundlich. Ihm gefällt vor allem die Formulierung: Verdirb nicht wieder!
Jetzt schau nicht so traurig, Simon. Ach, was fang ich bloß mit dir an?
Sie guckt sich fragend in der Halle um, aber jeder der vorbeihastenden, Koffer schleppenden Zweibeiner ist genauso ratlos.
Hör mal!
Sie rückt näher und nimmt seine Hand. Er riecht ihr Parfum. Contradiction! Nomen est omen. Er muss es ja wissen, denn schließlich hat er es ihr geschenkt.
Ich muss jetzt zu meinem Flugzeug. Ich werde in Australien für dich tanzen und für dich recherchieren. Ist das ein Angebot? Ich danke dir, dass du den weiten Weg gemacht hast, um mich zu sehen. Und ich melde telefonisch, falls ich etwas rausfinde über deinen Raoul Finidori. Und pass auf dich auf.
Kuss links. Kuss rechts.
Er gibt ihr noch einen dritten Kuss, denn schließlich muss man immer schön die Landessitten achten.
Sie lässt sich vom Barhocker gleiten, dann dreht sie sich noch einmal zu ihm um.
Bist du verliebt?
Er schüttelt den Kopf.
Also, Ciao … duuu …!
Als sie schon einige Schritte gegangen ist, möchte er ihr am liebsten noch ein zärtliches quak hinterherschicken, wie sie es früher oft gemacht haben. Aber irgendwie hat es sich ausgequakt.
Und zu der Krawatte hat sie auch nichts gesagt, philosophiert er tiefsinnig vor sich hin.
Was wollen Sie noch? Ich habe Sie eben nicht richtig verstanden, bellt ihn der Kellner an.
Die Rechnung, faucht Tanner zurück.
Regel Nummer eins: Immer schön höflich bleiben!
Vor allem, wenn man seine Brieftasche zu Hause vergessen hat, wie Tanner just in diesem Moment bemerkt.
Nach einer Stunde zähen Verhandelns mit dem Kellner, mit dem Chef de Service und mit einer sauertöpfischen Geschäftsleiterin, unter Einmischung einer adretten Belgierin, die ihre Enkelkinder in der Weltstadt besucht hat, und eines besoffenen Primarlehrers aus der Hauptstadt, der auf dem Weg zu den kleinen Jungs in Nordafrika ist, wird er dann doch nicht standesrechtlich erschossen, wird auch nicht mit sofortiger Wirkung des Landes verwiesen, sondern man einigt sich auf eine Rechnung, zahlbar in zehn Tagen, zusätzlich einer Bearbeitungsgebühr.
Das macht dann zusammen zwanzig Fränkchli!
Die Schokolade und sein Bier kosten neun Franken!
Erschöpft sucht Tanner den Weg zurück zum Auto und macht sich auf eine zweite Verhandlungsrunde am Schalter des Parkhauses gefasst. Zum Letzten bereit, stürmt er grimmig zum Schalter, wo ihn ein junger, unrasierter Mann im Trainingsanzug lächelnd erwartet.
Ich habe mit voller Absicht meine Brieftasche zu Hause vergessen, damit ich mein Auto auf gar keinen Fall aus diesem Parkhaus herausbekomme, es gehört sowieso einem Freund und der möchte längst ein neues Auto. Hier ist mein Parkticket und jetzt verhaften Sie mich endlich.
Der Mann lächelt immer noch, greift unter seinen Tisch.
Jetzt holt er die Handschellen.
Er streckt ihm ein Formular unter die Nase und lacht.
Keinä Problema, gar keinä Problema. Du hier schraibe daine Namä und Strassä und du holän deinä coche.
Tanner unterschreibt verdattert den Wisch.
Es irrt der Mensch, solang er strebt! Tanner murmelt es vor sich hin, während er schreibt. Der junge Mann nimmt das Papier und lächelt verschmitzt.
Goethä? Odär?
Ja. Goethe. Und muchas gracias.
De nada. Choder …
Im Auto von Ruth und Karl riecht es nach Land und Stall. Tanner fühlt sich darin irgendwie zu Hause. Er fährt trotzdem nicht direkt auf die Autobahn, sondern gondelt unschlüssig Richtung Stadt. Er lässt sich, ohne ein Ziel zu haben, durch den Verkehr treiben. So im Sinne von: Ist die Spur nach links frei, fährt man nach links. Mit dieser Methode des geringsten Widerstandes landet er schließlich an einem Park am See und stellt das Auto auf einen Parkplatz.
Dem Parkautomaten beichtet er demütig seine missliche Lage und er bildet sich ein, dass der graue Automat leise keinä Problema flüstert. Wenn du wüsstest!
Tanner schlendert zum Ufer.
Kein Mensch ist zu sehen. Alle sind auf dem Weg nach Australien. Er versteht das sehr gut. Er möchte ja auch dorthin.
Das ist das nämliche Gefühl, das Tanner als Junge hatte: Die gesamte Menschheit aalt sich ausnahmslos im städtischen Gartenbad. Er alleine muss den mächtigen Haufen Abbruchholz, den sein Vater mittels seines Motorrads plus Anhänger, emsig wie eine motorisierte Ameise, in den Hinterhof ihres Hauses herankarrte, von Nägeln und anderen Eisenteilen befreien, zur Schonung der Säge, anschließend zersägen, von Hand, dann zerspalten und, sozusagen als Dessert, fein säuberlich im Keller nach genauen ästhetischen Vorschriften aufschichten.
Sein Vorgänger im Altertum hieß übrigens Herr Sisyphos.
Tanners Arbeit war tatsächlich keinen Deut sinnvoller. Als nämlich das Haus kurz darauf verkauft wurde, bauten die neuen Besitzer als Erstes sofort eine Zentralheizung ein und die ganze von ihm im Schweiße seines Angesichts und mit heißen Tränen der Ohnmacht aufgerichtete hölzerne Zikkurat wurde, ohne je seiner Bestimmung übergeben worden zu sein – er als Opfer und Priester in Personalunion – und ohne je in die Liste der Weltwunder aufgenommen zu werden, in der städtischen Kehrrichtverbrennung verbrannt.
Mein Gott, Tanner, anstatt knietief und voller Selbstmitleid in deiner Vergangenheit herumzuwaten, solltest du dir lieber mal überlegen, was du als Nächstes vorhast!
Er macht diese kleine, selbstkritische Anmerkung zu einer Möwe, die auf einem in den Seeboden gerammten Pfahl steht und ihm ängstlich zuhört. Erschreckt fliegt sie von dannen.
Apropos Möwe!
Tanner nestelt sein Telefon aus der Jacke und wählt die Nummer der Auskunft.
Während er auf die Verbindung wartet, setzt er sich auf eine Bank, gestiftet von der Ornithologischen Gesellschaft. Ein Penner hat seine halb volle Weinflasche unter der Bank vergessen. Vielleicht hat er gerade entdeckt, dass er im Lotto gewonnen hat. Warum sollte er sonst die Weinflasche stehen lassen?
Swisscom! Sie wünschen? Eine Frauenstimme plärrt in sein Ohr. Ich möchte bitte die Telefonnummer von einer Emma Goldfarb.
Mehr weiß ich leider nicht! Es knistert und rauscht im Hörer.
Tanner macht ein ebenso gespanntes Gesicht wie weiland Jodie Foster im Film Contact, wo sie vor den mächtigen Radioteleskopen auf irgendeinem südamerikanischen Hochland sitzt und sehnsüchtig auf eine Botschaft aus dem All wartet, denn gerade haben die Bösen ihre Forschungsgelder gestrichen …
Es gibt zwei Emma Goldfarb! Die eine ist Zahnärztin und bei der anderen steht gar nichts. Welche Nummer wollen Sie?
Er sollte zwar dringend wieder einmal zum Zahnarzt, aber nicht jetzt. Zudem ist heute Sonntag.
Können Sie mich gleich mit der verbinden, wo nichts steht?
Wieder Knistern und Rauschen.
Er sagt ein artiges Danke ins weite All und wartet.
Da ist Anna, wer bist du, meldet sich eine Mädchenstimme an seinem Ohr. Damals war Anna ja noch ganz klein.
Ich bin der Tanner. Bist du alleine zu Hause?
Das darf ich nie sagen am Telefon, wenn ich alleine zu Hause bin! Hat mir meine Mami gesagt!
Da hat deine Mami ganz Recht. Gehst du schon zur Schule, Anna? Was Intelligenteres fällt ihm auf Grund seines leeren Magens nicht ein.
Ja, ich gehe in die zweite Klasse. Wir sind die Bienen und die anderen sind die Mäuse. Ich fahre auch allein mit dem Tram in die Schule und zurück. Einmal war ein ganz lieber Tramchauffeur. Ich hatte nämlich kein Geld mehr. Und Mama hat vergessen, das neue Monatsabi zu kaufen. Ich hatte mir am Morgen ein Glassee gekauft.
Er wechselt das Ohr.
Also bin ich vorne zum Mann gegangen und habe ihm gesagt, ich hätte am Morgen aus Versehen ein Glassee gekauft anstatt ein Billiee. Und weißt du, was der Mann gesagt hat?
Ne, Anna! Keine Ahnung!
Wetten, sie durfte auch nicht auf den Schulausflug nach Australien …
Er hat gesagt … und alle haben gelacht in der Tram … wart mal … jetzt ist mir das Brot auf den Boden gefallen … raschel, raschel … Bist du noch da?
Er ist sicher, sie isst ein Nutella-Brot!
Der Mann hat gesagt: Kauf dir das nächste Mal aus Versehen ein Billiee und jetzt setz dich, ich muss losfahren.
Sie prustet lachend ins Telefon und Tanner wechselt erneut das Ohr.
Das ist aber ein ganz lieber Mann!
Und für einen Moment glauben beide an das Gute im Menschen. Anna, hat dir deine Mama eine Telefonnummer aufgeschrieben, wo man sie anrufen kann?
Und bitte, gib mir was von deinem Brot ab.
Ja, das hat sie.
Wieder beißt sie in ihr Brot.
Würdest du mir bitte die Nummer sagen?
Genüsslich kauend sagt sie die Nummer und zur Sicherheit bittet er sie, die Nummer zu wiederholen.
Vielen Dank, Anna, das war ein sehr schönes Gespräch. Vielleicht sehen wir uns mal. Aus Versehen! Ciao!
Sie prustet wieder los und bevor sie ihn bittet, ihr per Telefon die Hausaufgaben fürs Rechnen zu lösen, unterbricht er die Verbindung.
Staatsanwaltschaft Zürich. Goldfarb am Apparat!
Aha … Frau Staatsanwältin macht am Sonntag Überstunden! Das ist die fröhliche Stimme von Emma, die er nun seit mindestens vier Jahren nicht mehr gehört hat.
Sie ist eine dieser nicht ganz schlanken Frauen, in deren Armen man sofort vergisst, dass man unbedingt, immer schon, eine ganz schlanke Freundin wollte. Gleich wird ihre gute Laune ein jähes Ende finden …
Emma, du wirst es nicht glauben, hier ist der Tanner. Ich bin zurück aus Marokko und ich weiß, gleich wirst du sehr wütend sein. Und du wirst mit allem, was du mir sagen wirst, auf der ganzen Linie Recht haben, mehr als Recht, und ich bitte dich demütig um Vergebung, aber ich brauche dringend deine Hilfe!
Jetzt muss er Atem holen.
Das kann nicht sein! Bist du es wirklich, Simon?
Ein klitzekleines bisschen Freude glaubt er in ihrer Stimme zu hören, und schon packt ihn der Übermut.
Ne, ich bin bloß ein Namensvetter. Ich sitze auf einer Bank am See, die von der Ornithologischen Gesellschaft spendiert wurde. Ich bin hicks … ein Penner, hicks … meine Weinflasche ist nur noch halb voll und ups … ich bitte rülps … Entschuldigung! … um eine milde Gabe.
Jetzt ist erst mal Stille im Äther und Tanner befürchtet schon, sie habe aufgelegt.
Du bist ein Arschloch! Lass mich in Frieden! Ich möchte nichts mehr mit dir zu tun haben! Ist das klar?
Jetzt ist die Reihe an ihm zu schweigen.
Hast du etwa mit Anna telefoniert? Ja, natürlich! Woher hast du sonst die Nummer bekommen. Sie schnaubt wütend ins Telefon. Deine Anna fand mich, glaube ich, sehr nett. Wir hatten ein sehr schönes Telefongespräch. Auch hat sie mir ein kleines Geheimnis anvertraut.
Der Köder ist ausgeworfen.
So, so! Ein Geheimnis hat sie dir erzählt. Das war ja schon immer deine Stärke, den Frauen Geheimnisse aus der Nase zu ziehen.
Warum nennst du nicht auch noch andere Körperöffnungen, Emmalein? Gerade noch rechtzeitig kann er diese Bemerkung runterschlucken.
In Marokko hat's wohl nicht so funktioniert, gell, Tanner. Da hast du ja ein schönes Debakel veranstaltet, wie man hört.
Im Flug abgeschossen! Das konnte sie schon immer gut, deswegen ist sie ja Staatsanwältin geworden.
Okay, Emma, du hast gewonnen. Ich liege am Boden. Die Möwen hier am See zählen mich schon aus.
Wieder Schweigen.
Was hat dir Anna erzählt?
Also doch angebissen …
Das erzähle ich dir auf meiner ornithologischen Couch, wenn du dich aufs Pferd schwingst und hierher galoppierst. Bitte! Ich brauche dringend deine Hilfe. Und um was es geht, das kann ich dir nicht am Telefon sagen. Bitte! Heute ist ja Sonntag!
Schweigen.
Ich weiß wirklich nicht, warum ich das tue. Wo genau bist du denn?
Tanner gibt ihr die Koordinaten seiner Parkbank durch, legt sich der Länge nach hin und lässt sein Gesicht von der Frühlingssonne bescheinen.
Über sich sieht er am blauen Himmel die Kondensstreifen zweier hoch fliegender Flugzeuge. Die Flugzeuge selber sind kaum zu erkennen. Zwei Stecknadelköpfe, die aufeinander zurasen.
Ob die Piloten einander sehen? Ob die Prima Ballerina schon in der Luft ist? Zwei äußerlich verschiedenere Frauen, abgesehen vom Altersunterschied, als sie und Emma kann man sich kaum denken. Die Tänzerin mit ihrer durchtrainierten Schlankheit und die Rubensfrau, mit ihrer temperamentvollen Weichheit. Einen scharfen Verstand haben sie beide. Und überhaupt, so im Direktvergleich, haben beide viel Gemeinsames. Beide haben klare Prinzipien … ganz im Gegenteil zu dir, Tanner … und können diese, wenn es sein muss, vehement und lustvoll verteidigen. Beide stehen mit ihren Beinen auf dem Boden der Realität, die eine halt mit etwas schlankeren Beinen.
Debakel hat sie meine Arbeit in Marokko genannt! Die Wahrheit ist es ja, aber muss man das so direkt aussprechen, sagt er zum Himmel über sich.
Den Himmel von Marokko, den vermisst er. Die unglaubliche Weite. Die Farben. Die Gerüche im Basar. Die kühlen, farbigen Bodenfliesen in seinem Haus in Rabat.
Die Einladung der marokkanischen Regierung, beim Aufbau eines Büros für internationale polizeiliche Zusammenarbeit mitzuwirken, war damals zu verlockend für ihn gewesen. Er hatte von seiner Arbeit in der Abteilung für internationale Zusammenarbeit gegen Geldwäsche und Drogen die Nase voll.
Er war es leid, gegen die Übermacht der Großbanken, mit all ihren Verflechtungen des Großkapitals und der Politik, ständig den Kürzeren zu ziehen, zumal er sich mit seiner Sturheit in vielen Kreisen unbeliebt gemacht hatte. Deswegen hat er, ohne lange zu überlegen, die Chance ergriffen, um dem ganzen Mief zu entfliehen. Viele haben ihm sicher nicht nachgeweint.
Ob Emma geweint hat?
Entschuldigung! Die Bank ist nicht zum Liegen. Die Bank ist zum Sitzen und ich sitze jeden Nachmittag auf dieser Bank!
Eine kleine Mager süchtige mit rotem Kopftuch und in jeder Hand zwei prall gefüllte Einkaufstaschen steht vor ihm. Er erhebt sich und bietet ihr großzügig den Ostteil seiner Behausung an.
Danke, junger Mann, sagt sie streng und stellt seufzend ihre Taschen ab.
Aus der einen holt sie einen Lappen und wischt die Bank sauber. Und zwar da, wo Tanners Kopf lag, nicht die Füße. Dann entnimmt sie einer anderen Papiertasche ein geblümtes Kissen und legt es auf die Bank. Sie setzt sich ächzend auf das Kissen, streicht auf ihren Knien die nun leere Tragtasche glatt und faltet sie minutiös auf Briefumschlaggröße. Zwei der Taschen bleiben zu ihren Füßen und die dritte stellt sie, wahrscheinlich als Wiederaufbau der Mauer, exakt in die Mitte zwischen sich und Tanner.
Er kann es sich nicht verkneifen.
Man kann auch darauf liegen. Mit ihrem Kissen unter dem Kopf wäre es natürlich viel bequemer, Madame!
Als hätte er sie aufgefordert, sie solle doch einen Striptease auf der Bank machen, keift sie ihn an.
Wegen so Menschen wie Ihnen muss die Stadt für teures Steuergeld an den Bänken Spezialeinrichtungen machen, damit man nicht mehr liegen kann. Und die Flasche da unter der Bank, die lassen sie dann bitte schön nicht hier stehen, wenn Sie sie leer getrunken haben. Vorne am Parkplatz gibt es eine Tonne für Glasabfall.
Mit den Spezialeinrichtungen meint sie wohl die senkrecht angebrachten Bretterlehnen, mit denen die Bänke am Bahnhof der Weltstadt nachträglich ausgerüstet worden sind. Damit Penner wie Tanner, müde von der Qual ihres Lebens, sich nicht mehr hinlegen können. Eine, soweit er weiß, weltweit einzigartige Rettungsmaßnahme für die vom Aussterben bedrohte Sitzkultur. Um die Spießigkeit dieser Maßnahme zu kaschieren – die Wirkung ist natürlich das Gegenteil –, sind die extra angebrachten Zwischenlehnen aus hochpoliertem Mahagoni oder Teakholz.
Gnädige Frau, Sie wissen doch gewiss, dass Jesus, unser Heiland, gesagt hat: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir … oder so ähnlich!
Tanner sagt das mit der leidvollsten Miene, die er auf die Schnelle produzieren kann. Für einen Oscar hätte es sicher nicht gereicht, aber bei seiner Banknachbarin ist die Wirkung erstaunlich.
Junger Mann, Sie sollten nicht schon am Mittag von dem Teufelszeug da trinken. Hier! Nehmen Sie und gehen Sie was Anständiges essen.
Sie durchforstet eine ihrer Taschen, findet ein überdimensionales Portmonee, klaubt eine Zehnernote heraus und drückt sie ihm in die Hand.
Verlegen wehrt er ab und stammelt irgendwas, dass er ja nur Spaß gemacht habe.
Junger Mann, aber ich mache keinen Spaß. Sie nehmen jetzt das Geld und die Weinflasche, gießen den Wein in den See, bringen die Flasche in die Glastonne und gehen was Anständiges essen. Aber das Wegschütten des Weines will ich sehen!
Da er einsieht, dass jeder Widerstand zwecklos ist, tut er, wie ihm befohlen. Nicht ohne sich artig von der alten Frau zu verabschieden. Er hat allerdings vergessen zu fragen, wo man denn in dieser Stadt für zehn Franken etwas Anständiges zu essen kriegt!
Die jungen Leute von heute, hört man sie noch in seinem Rücken schimpfen. Von wegen jung …
Tanner schüttet den Wein in den See und schmeißt die Flasche in die Tonne beim Parkplatz.
In diesem Moment braust ein Austin Mini in die Einfahrt und er erkennt Emma sofort an ihrem exzellenten Rennfahrerstil. Er flitzt zu einem leeren Parkfeld, markiert den Parkplatzwächter und öffnet galant die Autotür.
Macht fünf Fränkchli die Stunde. Soll ihr fahrbarer Untersatz gewaschen werden, während sie ihr romantisches Stelldichein am See haben, Frau Oberstaatsanwältin?
Idiot! Und außerdem nur Staatsanwältin, schließlich bin ich ja nur eine Frau! Und wir sind immer noch in der Schweiz.
Tanner möchte sie zur Begrüßung umarmen, aber sie weicht geschickt aus.
Komm, wir gehen einen Kaffee trinken im Kasino.
Sie geht sofort los, ohne seine Antwort abzuwarten.
Ich lade dich ein, ruft er ihr hinterher und wedelt mit dem Zehner von der alten Frau in der Luft.
Als sie an einem Tisch am Fenster sitzen und ihren Kaffee vor sich stehen hat, beginnt Emma unangenehm genau zu formulieren.
Also, erstens habe sie ganz wenig Zeit. Zweitens habe sie keine Lust, gar keine, in alten Erinnerungen zu wühlen. Drittens solle er ihr einfach in knappen Worten sagen, bei was er ihre Hilfe braucht, und wenn sie ihm helfen könne, so helfe sie ihm. Und viertens: In dem Moment, wo er dieses Treffen zu irgendwas anderem missbrauche, würde sie sofort aufstehen und gehen. Ob er sie verstanden habe?
Jawohl, Euer Ehren, ich habe verstanden. Ich soll unter gar keinen Umständen sagen, dass ich mich freue, dich zu sehen, dass du unglaublich gut ausschaust, dass du abgenommen hast, außer da, wo es dir bei Höchststrafe verboten ist abzunehmen, und dass dir das ganz ausgezeichnet steht.
Bevor Emma protestieren kann, nimmt er ihre Hand und sagt nur einen Namen.
Finidori. Auguste Finidori.
Was soll mit ihm sein?
Sie sagt es mit hochgezogenen Augenbrauen. Dann antwortet sie aber.
Er war bis vor kurzem Nationalrat. Gehört dieser kuscheligen, rechten Familienpartei an und führt dort den Ganz-Rechts-Außen-Flügel an. Ich kenne ihn Gott sei Dank nicht persönlich und wüsste auch nicht, ob er schon irgendwann mit dem Gesetz in Berührung gekommen ist. Warum fragst du mich? Und was genau interessiert dich an ihm? Und wehe, du machst mir noch einmal ein Kompliment …!
Ich habe nichts Faktisches, ich habe nur so ein Gefühl …, versucht er auszuholen, aber sie unterbricht ihn sofort.
Ach, Tanner, du mit deinen Gefühlen! Wir wissen doch, wo dich das hinführt.
Gut! Du hast sicher Recht. Aber hör dir doch erst mal die Geschichte an! Bitte.
Er erzählt ihr in kurzen Zügen seine bisherigen Erlebnisse und Kenntnisse über den Finidori-Clan, über das Verschwinden von Raoul und jetzt formuliert er auch genau.
Ich möchte wissen, wo Auguste Finidori in Afrika war. Was er da getrieben hat und, das ist das Wichtigste: warum er zurückgekehrt ist. Falls es dafür einen bestimmten Anlass gab, möchte ich ihn gerne kennen. Und ein Blick in seine Finanzen könnte auch nicht schaden, verstehst du, Emmalein?
Also das volle Waschprogramm! Inklusive Vorwaschen und Schleudern! Weißt du, was du da von mir verlangst? Und was, wenn jemand dahinter kommt? Dass ich ohne offiziellen Auftrag recherchiere. Was sage ich dann? Der Tanner, wissen Sie, der in Marokko versagt hat, der wollte ein paar Sachen wissen! Über ein rechtes Politiker-Arschloch, das aber offiziell eine weiße Weste hat! Werd erwachsen, Tanner!
Emma hat sich regelrecht in Rage geredet. Ob sie sich wirklich so sehr nur über dieses Thema aufregt, bezweifelt er, denn er hat ihr früher auch mit der einen oder anderen delikaten Information ausgeholfen.
Du könntest sagen, der Tanner, den ich mal geliebt habe, braucht Hilfe. Derselbe Tanner, der mir geholfen hat, als mein Mann mich bedroht und verprügelt hat, der nächtelang Händchen gehalten hat in meiner Not! Das könntest du zum Beispiel sagen.
Bevor er die Sätze zu Ende ausgesprochen hat, weiß er, dass er zu weit gegangen ist.
Ich Idiot, ich Dreifachidiot!
Du Arschloch! Mein Gott! Ich bin hergekommen, fest entschlossen dir zu helfen, obwohl du es nicht verdient hast. Aber nicht auf diese Weise, Tanner, nicht auf diese Weise!